Man lügt sich so voran
Würden Sie mir glauben, wenn ich sagte, bei den folgenden Zeilen handle es sich um die Wahrheit? Sehn Sie! Wir brauchen nur das Wort «Wahrheit» zu hören und zucken schon innerlich zusammen. Es gab einmal eine Zeit, da die Menschen nicht nur an die Wahrheit glaubten, sondern sogar in ihr lebten.
Lügen haben... was? Kurze Nasen oder lange Beine? Foto: Unsplash
Lügen haben... was? Kurze Nasen oder lange Beine? Foto: Unsplash
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Aber wie lebt sich’s so: ohne Wahrheit? Ist unsere veritabel mentale Obdachlosigkeit der Grund dafür, weshalb wir uns so ans Faktische klammern? Immerhin: Ein Stuhl ist ein Stuhl. Oder etwa nicht? Andererseits: Ist Friedrich Merz Friedrich Merz? Sind Sie sich sicher? Ach, diese Verunsicherung. Am Ende handelt es sich bei ihm um ein Hologramm. Ein Deep Fake, zumindest manchmal?

Aber zurück zum Titel: «Man lügt sich so voran.» Hier gilt es, drei Begriffe miteinander zu verknüpfen: Lüge, «man» und «voran». Interessant ist der Begriff Lüge vor allem deswegen, weil ihm die Wahrheit gegenübersteht wie der Osten dem Westen. Wer also von Lüge spricht, unterstellt so etwas wie Wahrheit, die sich selbstverständlich auf der Seite dessen befindet, der von Lüge spricht. Nun gibt es zweifellos, um nicht allzu heftig ins Philosophische abzurutschen, Wahrheiten. Beispielsweise dass Friedrich Merz bereits Bundeskanzler ist, ohne es schon zu sein. Wenn das mal nicht spannend ist und direkt zu der krassen Frage führt: Was ist der Unterschied zwischen einem Meme und einer Wahrheit? Umgekehrt: Wer von Wahrheit spricht, hält die Lüge geradezu für eine Selbstverständlichkeit. Es ist einfach verflixt. Und dabei haben wir das «man» und das «voran» noch nicht einmal in den narrativen Mund genommen.

Würden Sie mir glauben, wenn ich sagte, bei den folgenden Zeilen handle es sich um die Wahrheit? Sehn Sie! Wir brauchen nur das Wort «Wahrheit» zu hören und zucken schon innerlich zusammen. Es gab einmal eine Zeit, da die Menschen nicht nur an die Wahrheit glaubten, sondern sogar in ihr lebten. 

In dem «man» bin nicht nur ich enthalten, sondern entgegen aller Genderkorrektheit auch «frau». Bitte echauffieren Sie sich also nicht, wenn Sie eine Frau sind. «Man» bedeutete nämlich ursprünglich «Mensch», also durchaus auch Ihre Gattung. (Aber Vorsicht, hier wie auch überall sonst gilt die Warnung vor der Wahrheit!) Auch gestandene Mannsbilder sollten sich nicht darüber aufregen, dass sie in diesem Wort den Frauen gleichgestellt sind, so überlegen sie sich fühlen mögen.

«Man lügt sich so voran» ist zweifellos eine Provokation bzw. klingt wie eine, da das «man» ja eine behauptete Allgemeinheit enthält. In der Tat bezweifle ich sehr häufig, dass öffentliches Reden ohne Lüge auskommt und auskommen kann. Die vollmundig vorgebrachte Behauptung eines Wirtschaftsführers oder Politikers oder Theologen gibt ja vor, ein Sachverhalt müsse sich genau so und nicht anders verhalten. Da diese Leute nur selten Dummköpfe sind – töricht sein können sie dennoch –, wissen sie um die Verfehltheit ihres Wahrheitsanspruchs. Wären sie nicht töricht, würden sie folglich andauernd lügen. Sie sind der Inbegriff des menschgewordenen, irrigen, vielleicht sogar irren «man».

Ganz anders der kleine Mann auf der Strasse (die kleine Frau inbegriffen). Werden sie bei Meinungsumfragen um ihre Ansicht gebeten, dann folgt in aller Regel – nach einer kleinen Verblüffungspause, in der die Person ein wenig in ihrem Meinungsrepertoire herumkramt – eine eher zögernd vorgebrachte Antwort, wohlwissend, dass diese möglicherweise weit von der Wahrheit entfernt ist (die auch der Interviewer nicht kennt). Eben deshalb ist man bei solchen Umfragen, die wegen ihres illustrativen Charakters in aller Regel leider als belanglos eingestuft werden, der Wahrheit viel eher auf der Spur als bei Interviews irgendwelcher VIPs.

Wie Sie bereits gemerkt haben, bringe ich hier allerlei Hypothesen vor, die ein bisschen so klingen, als wären sie richtig, eventuell sogar wahr. Dabei bin ich mir der Gratwanderung meines Tuns durchaus bewusst. Aber was kann man schon äussern (ausser: «Das ist ein Stuhl»), das sich nicht bald als zweifelhaft herausstellt. Nicht nur ist die Wahrheit eine schillernde Seifenblase, sie ist auch fluide.

Und manchmal zerplatzt sie und ist als solche durchaus als Kinderbelustigung zu gebrauchen. Vielleicht sollte man Meinungen in der Vergangenheitsform äussern, womit sie eher als Erzählungen erkennbar wären. Erzählt mir nämlich jemand eine Geschichte, dann weiss ich aus eigener Erfahrung, dass man dazu tendiert, Erinnerungs- und Sinnlücken je nach Gusto aufzufüllen. Wenn Sie mir bis an diesen Punkt dieses kleinen Essays gefolgt sind, dann haben Sie quasi live mitverfolgen können, wie ich mich «so vorangelogen habe». Aber bitte, halten Sie diese Behauptung jetzt nicht für eine Wahrheit!

Bobby Langer

Bobby Langer

*1953, gehört seit 1976 zur Umweltbewegung und versteht sich selbst als «trans» im Sinn von transnational, transreligiös, transpolitisch, transemotional und transrational. Den Begriff «Umwelt» hält er für ein Relikt des mentalen Mittelalters und hofft auf eine kopernikanische Wende des westlichen Geistes: die Erkenntnis nämlich, dass sich die Welt nicht um den Menschen dreht, sondern der Mensch in ihr und mit ihr ist wie alle anderen Tiere. Er bevorzugt deshalb den Begriff «Mitwelt».

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