Masseneinwanderung: Weshalb diese Diskussion die falsche ist

Seit zwei Wochen nun überschlagen sich die Schlagzeilen zum Ja der Masseneinwanderungs-Initiative. Die Linken werfen der Rechten vor, dass sie die Abstimmung gewonnen haben, weil sie Ängste schüren konnten, mit der Initiative aber keine Probleme lösen sondern Neue schaffen. Die Rechten wiederum halten der Linken vor, dass sie undemokratisch ist, weil sie am Ergebnis der Abstimmung rumnörgelt und das Volk erneut befragen will. Ich halte diese Diskussion und all ihre ins Detail führenden Nebenäste zwar für spannend. Auch die vielen Prophezeiungen wie sich die EU nun verhalten wird, und die Auswirkungen auf die Schweiz bei einer Kündigung der Bilateralen halte ich für interessant. Wirklich konstruktiv wäre allerdings – neben einem „Lernen und das Beste daraus machen“ – eine genauere Betrachtung der Ängste, die dazu geführt haben, dass immerhin 1'463'954 SchweizerInnen ein Ja in die Urne eingelegt haben.

Ängste sind berechtigt
Ich behaupte, die drei Hauptängste, die zu einem Ja geführt haben, waren: 1. Ausländer schnappen unsere Jobs weg, 2. Unsere Sozialwerke werden durch sie unnötig belastet, 3. Unsere Schweiz hat zu wenig Platz. Es sind Ängste, die meiner Meinung nach berechtigt sind. Aber diese Ängste haben nichts mit Ausländern zu tun. Ich wage hier eine unvollständige Analyse der tiefer steckenden Gründe.

Panik vor Jobverlust
Es ist logisch, dass wir Panik davor haben, unseren Job zu verlieren; wir sind von ihm abhängig. Diese Angst war schon immer, zumindest unterschwellig, vorhanden. Durch die Globalisierung und den weltweit wachsenden Bildungsstandard konkurrieren uns aber plötzlich nicht mehr nur Italiener und Deutsche, sondern auch Kosovaren, Türken und Inder. Ein noch nie dagewesener Zustand für die Menschheit und schon gar nicht für die Schweizer: Globale Konkurrenz unter Arbeitskräften. Das ist gut. Gut für die Unternehmen. Die können nun nicht nur aus ein paar wenigen SchweizerInnen auswählen sondern aus einem weltweiten Pool an willigen Arbeitskräften. Und es passiert, was auf dem Markt immer passiert: Hat‘s zu viel Angebot, geht der Preis runter. Im Falle der zu vielen ArbeitnehmerInnen weltweit heisst das konkret ins Leben übersetzt: „Wir erwarten, dass Sie als Kadermitglied Vollzeit arbeiten. Das heisst 50 Stunden pro Woche.“ Oder: „Vielen Dank für Ihre Bewerbung. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir die Stelle anderweitig vergeben haben“. Oder, und spätestens hier kommt die Panik: „Tut uns leid, aber wir müssen Sie entlassen“. Es gibt schlicht zu wenig bezahlte Arbeit, global gesehen. In einer Welt, deren Bevölkerung mobiler ist denn je, ist die Schweiz in dieses globale Problem eingebettet. Da helfen auch Abschottung und Einwanderungskontingente nichts dagegen; Arbeitssuchende kommen, legal oder illegal. Das Problem wird zudem noch stetig verschärft: Auf der einen Seite leben immer mehr Menschen auf der Welt, auf der anderen setzen wir immer intelligentere Technologie ein, so dass wir mit immer weniger Arbeitsplätzen immer höhere Mengen an Waren produzieren.

Sozialsystem ist unsicher
Unsere Sozialwerke sind belastet und nicht zukunftstauglich. Allerdings sind sie das nicht, weil sie mehr AusländerInnen mittragen müssen, sondern weil es Unternehmen verstehen, immer weniger Steuern zu bezahlen. Ja, ich meine „verstehen“. Sie wissen schlicht wie man es juristisch legal anstellt, möglichst wenig Steuern dem Schweizer Staat und seinen Sozialwerken auszuhändigen. Einer, der das anscheinend sehr gut kann und dem Staat Millionen vorenthalten hat, einer dieser Meister der Steuertrickli sitzt bei uns sogar im Bundesrat. (Es gilt natürlich die Unschuldsvermutung.) Die juristischen Grauzonen, die unsere Sozialsysteme untergraben, sind aber nur ein kleines Problem im Vergleich zum Dilemma, in dem sich unser Geldsystem befindet. Nein, ich meine nicht die Zocker an der Wall Street und am Paradeplatz. Ich meine das strukturelle Problem, dass private Banken aus dem Nichts Geld schaffen (Fiat Money), darauf Zinsen verlangen und schlicht hoffen (auf der amerikanischen 1-Dollar-Note steht: „In God we trust“), dass das mit dem damit verbundenen ewigen Wachstum unserer Geldmenge (Inflation) und dem unter anderem daraus folgenden Zwang zum Wirtschaftswachstum gut gehen kann. Zurück aber zu den Meistern der Steueroptimierung: Die Unternehmen streichen immer höhere Gewinne ein, auf Kosten der Staaten und seiner Sozialwerke. Das tun sie, a.) weil sie Geld zu geil finden und b.) weil sie (wie die ArbeitnehmerInnen) in der Konkurrenz des weltweiten Markts stehen. Zugegeben, den einen Unternehmen geht’s dabei ums Überleben, den anderen, meist grösseren multinationalen Unternehmen, jedoch schlicht um höhere Renditen für die Aktionäre (und Pensionskassen), die ihr Geld in die gewinnbringendsten Firmen stecken. Darunter leiden ArbeitnehmerInnen genauso wie die staatlichen Sozialwerke. Weitere Gründe für den hohen Druck auf die sozialen Errungenschaften der Schweiz: Erstens, Reiche bezahlen auf Kosten der Mittelschicht immer weniger Steuern. Und zweitens, Kantone und Gemeinden führen einen ruinösen Steuerkonkurrenzkampf. Ein Scheingefecht, bei dem am Schluss alle verlieren, ausser vielleicht die Superreichen und multinationalen Unternehmen.

Dichtestress existiert
Auch beim dritten Punkt, dem Dichtestress, glaube ich, dass es eine berechtigte Befürchtung ist. Jeden Tag verschwindet tatsächlich wertvolles Schweizer Kulturland. Aber auch hier bin ich überzeugt, dass nicht AusländerInnen der Grund dafür sind. Der Grund dafür ist ein „Nicht-genug-Kriegen“ unserer Gesellschaft. Und ein damit verbundenes und wohl für die Prägung unserer Gesellschaft verantwortliches „Niemals-genug-Wachsen“ unserer Wirtschaft. Beides ist verheerend, hat aber mit AusländerInnen nichts zu tun. Es ist ein weltweites Problem, dem Tag für Tag wertvolles Kulturland geopfert wird: Für grössere Häuser, neue Autobahnen und Zuglinien, für unseren Hunger nach den neusten Gadgets, für das Wirtschaftswachstum im Allgemeinen, für Arbeitsplätze im Speziellen. In der Schweiz entspricht die Opfergabe jeden Tag einer Fläche von zehn Fussballfeldern. Kulturland, das wir zubetonieren obwohl wir es eigentlich zum Überleben und zur Erholung brauchten. Das ist ein systemisches Problem, nicht das der AusländerInnen oder des Bevölkerungswachstums. Es ist schlicht logisch und der problematische Teil unseres Wirtschaftssystems: Das ewige Wachstum unserer Wirtschaft zerstört unsere Lebensgrundlage und schädigt unsere Psyche und Gesundheit.
Es ist Zeit, dass wir uns den Ängsten, die zur Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative geführt haben und den realen Problemen, die sich dahinter verbergen, ernsthaft annehmen und Lösungen dafür suchen. Wirkliche Lösungen. Nicht leere und gefährliche Rethoriken wie „Ausländer-sind-schuld-Lösungen“, „Ihr-seit-alles-Rassisten-Entgegnungen“, „Wirtschaftswachstum-wird’s-lösen“ oder „Nur-mehr-vom-Alten“. Lösungen existieren und werden zum Teil gerade erprobt. Erstaunlicherweise stellt sich heraus: Die Umsetzung macht mehr Spass und schenkt grössere Lebensqualität als wir uns das vorstellen konnten! Ein paar Stichworte dazu zum selbst weiter recherchieren: Postwachstum, Commons/Gemeingüter, Kooperation statt Konkurrenz, Urban Agriculture, Permakultur, Relokalisierung der Wirtschaft, Grundeinkommen, Umlaufgesichertes Geld, Lokalwährungen, Neustart Schweiz, Transition-Town, Venus Project.

Raffael Wüthrich ist freischaffender Meinungsjournalist. Deshalb und aus Freude verkauft er nebenher Massanzüge. Er ist Stiftungsrat der Stiftung Kolese, im Vorstand von Neustart Schweiz und Bandmitglied von Major B.. Wüthrich studierte Journalismus und Organisationskommunikation an der ZHAW.
25. Februar 2014
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