Mehr Kuscheln – weniger Distanz

Es hat einen zwiespältigen Ruf. Das Kuscheln gilt als etwas, das Männer nach dem Sex nicht gern und Harmoniesüchtige unentwegt tun wollen. Dabei hat der sanfte Körperkontakt verblüffende Wirkung.

Jeder Mensch ist biochemisch aufs Kuscheln ausgerichtet. Neurotransmitter und Glückshormone vermitteln beim angenehmen Körperkontakt Wohlgefühl pur in Form von Geborgenheit, Sicherheit und Zugehörigkeit. Und nicht nur das: «Viele Studien belegen, dass gegenseitige Berührungen in entspannter Form das Immunsystem stärken, die Wundheilung fördern und auch die Regeneration nach Unfällen beschleunigen. Insgesamt ist es sehr gesund für den Menschen», weiss LuciAnna Braendle, Sexualtherapeutin, Beziehungsberaterin und seit einigen Jahren auch «Kuscheltrainerin». Sie hat eine Forschungsarbeit zum Thema ‹Kuscheln mit Fremden› verfasst, in der sie über dessen positive Effekte schreibt.

Gleichzeitig ist aber in jedem Menschen auch das Bedürfnis nach einem körperlichen Sicherheitsabstand angelegt. In Urzeiten stellte jeder, der nicht zum Klan gehörte, eine potentielle Gefahr dar. Heute haben wir uns diese Angst vor Nähe abtrainiert, um etwa ohne Gewaltakte dicht nebeneinander im Zug sitzen zu können. Und gleichzeitig ist unsere Gesellschaft eine sehr distanzierte, berührungsarme, die Körperkontakt entweder kommerzialisiert, etwa bei einer Massage, oder in einen sexuellen Kontext bettet. Das absichtsfreie, hingebungsvolle Berühren von Fremden ist ein Kuriosum für uns – und gleichzeitig, so Braendle, genau das, was wir brauchen, um unser Herz zu öffnen und inneren und äusseren Frieden zu finden. Auf ihren «Kuschelparties» kuscheln fremde Menschen drei Stunden lang miteinander – ohne Absicht, ohne Druck. «Ich führe die Menschen langsam dazu heran, ihre Grenzen zu öffnen. Der Weg geht zunächst in die Eigenwahrnehmung, in der man bereits entspannt. Aus ihr heraus dann in den Kontakt, schliesslich die Berührung, wo die Entspannung noch grösser wird.»
  
Manche empfinden anfangs Stress angesichts der unbekannten Situation und der fremden Gruppe. «Der grösste Stressfaktor ist die Angst», erklärt Braendle. «Angst davor, ausgeliefert zu sein, abgelehnt zu werden, es nicht richtig zu machen oder niemanden zum Kuscheln zu finden.» Doch die legt sich schnell, wenn man Achtsamkeit übt und den Fokus auf die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und Grenzen legt – wovon wir auch im Alltagsleben sehr profitieren. Wer in der Gruppe kuschelt, erfährt zudem eine Auflösung der üblichen Wertungen: Es ist egal, mit wem man sich da gerade berührt, Aussehen, Alter und Geschlecht... alles geht im Gefühl der Geborgenheit unter. «Es ist wirklich eine Art von Friedensarbeit», stellt die Berührungstherapeutin fest. Ihre Teilnehmer, Frauen wie Männer, bestätigen, dass sie nach dem Kuscheln einen inneren Frieden spüren, der lange im Alltag nachwirkt. Im Kuschelhaufen sind seelische Wunden vergessen, soziale Ängste verflüchtigen sich, die Sorgen des Alltags fallen ab», resümiert einer der Teilnehmer.

Eine Gesellschaft mit einer entwickelten Berührungskultur, in der die Grenzen des Einzelnen nicht überschritten werden – das wäre eine Gesellschaft, in der weniger Aggression herrschte, die Leute mehr integriert wären und Konflikte entspannter ausgetragen würden, vermutet Braendle. Insgesamt eine gesündere Gesellschaft. Gruppenkuscheln für den Weltfrieden? Das wäre endlich mal ein praktikabler, konkreter und wohltuender Ansatz. Ich bin dabei!
www.kuscheln-schweiz.ch



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13. April 2017
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