Mit Mut in die dritte Lebensphase

«So folgerichtig und strukturiert wie Du die Geschichte erzählst, fand ich‘s dann doch nicht», entgegnet Bettina Steinlin (70) ihrem Mitbewohner Richard Hehl (80). «Sicher, die Gruppe war irrsinnig engagiert; aber im Grunde genommen war es ein Haufen Leute, die alle etwas anderes wollten. Der Eine wollte aufs Land, ein Anderer wünschte, das Theater in drei Minuten zu erreichen und ein Dritter hoffte, die Berge zu sehen. Auch war nicht klar: Wohnungen oder Haus, mieten oder kaufen.» Bettina Steinlin und Richard Hehl leben seit zwölf Jahren mit acht weiteren Menschen im Stüerlerhaus in Bern. Ein ehemaliges Patrizierhaus, das die zehn BewohnerInnen auf ihre Bedürfnisse hin umgebaut haben. Hehl und Steinlin sitzen in der Gemeinschaftsküche und erzählen wie es kam, dass sie sich in der dritten Lebensphase zur heutigen Genossenschaft zusammengeschlossen haben.
Ein paar Meter entfernt steht ein Mann im Garten, reckt beide Arme in die Luft und hält die Augen geschlossen. «Das ist Fritz Muchenberger, er macht Qigong». Ein paar Minuten später lugt ein Kopf durch die Küchentür. Ruedi Moor, mit 65 der jüngste der Bewohner, fragt, ob es störe, wenn er für seinen Besuch koche.
«Drei Frauen unserer Gruppe hatten einen Brief mit der Idee einer anderen Wohnform an Freunde geschickt», erzählt Richard Hehl. «In unzähligen Zusammenkünften haben die Interessierten daraufhin versucht, die Theorie vom gemeinsamen Wohnen zu konkretisieren. Dazu sind wir unter anderem ins Piemont gereist, um zu sehen, ob wir überhaupt miteinander klar kommen – es kannten sich ja noch nicht alle. Wir entschieden uns schliesslich dafür und begannen mit der Suche nach einer passenden Liegenschaft. Bei dieser hier waren sich alle einig. In einer Nacht und Nebel-Aktion haben wir sie gesichert.»
Im ruhigen Berner Altenberg Quartier wähnt man sich auf dem Land. Vor der Haustür fliesst die Aare, gegenüber sieht man die Silhouette der Altstadt. Das Stadttheater ist 300 Meter Luftlinie entfernt. Jede Partei mietet eine zwei Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad. Daneben gibt es gemeinschaftlich genutzte Räume, zwei Gästezimmer, einen Garten und Hühner. An der Wand hängt ein Zettel mit Daten für die gemeinsamen Filmabende, am Kühlschrank ein Ämtliplan. «Natürlich ist es nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen», sagt Bettina Steinlin. «Die Schwierigkeit ist, mit Menschen durchs tägliche Leben zu kutschieren, denen ganz andere Dinge wichtig sind.» Richard Hehl nickt: «Mit unterschiedlichen politischen Ansichten und pingeligen Charakteren zum Beispiel. Aber man lernt damit umzugehen.» Alle zwei Wochen trifft sich die Gruppe, um Aktuelles zu besprechen. Wenn nötig, leisten sie sich eine Retraite. Es sei wichtig, sind sich beide einig, ein gutes Mass an Nähe und Distanz zu finden. «Aber man wird weder zur Gemeinschaft gezwungen, noch ist man ihr ausgeliefert», sagt Hehl, der wie alle im Haus die engsten Freundschaften eher ausserhalb der Wohngemeinschaft pflegt.  
«Um so zu leben, wie wir es tun, darf man nicht zu spät beginnen. Es braucht Mut, Eigeninitiative und Toleranz für das Neue. Mit dem Umzug ins Stürlerhaus habe ich eine neue Lebensphase begonnen. Als ich mit meiner Tochter die Kisten gepackt und auf die Zügelmänner gewartet habe, war das wie bei einer Geburt», erinnert sich Bettina Steinlin. «Ich wusste: Jetzt gibt es kein Zurück.»
06. Mai 2014
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