Müll – der Schatten der Konsumgesellschaft
Eine Wirtschaft, die zum Wachstum verdammt ist, muss Produkte herstellen, die die Menschen nicht brauchen. Immer mehr Überflüssiges wird immer rascher hergestellt und drängt auf den Markt. Die Industrie macht Profite, an den Bürgern bleiben die Kosten der Müllentsorgung hängen. (Roland Rottenfußer)
Die Erdoberfläche ist eine einzige Müllhalde. Einziges „Lebewesen“ ist ein kleiner Roboter, der die Müllmassen unaufhörlich zu kleinen Quadraten zusammenpresst. Eine düster-ironische Vision aus dem Hollywood-Trickfilm „Wall-E“, der vor zwei Jahren für Furore sorgte. Ein früher Vorläufer dieses modernen Kassenschlagers war 1974 Rainer Erlers beklemmende Sozialsatire „Die Halde“. Ein Dorf versinkt nach und nach unter einem gewaltigen Müllberg. Die Bewohner ignorieren alle Warnungen vorausschauender Mitmenschen und geben sich hemmungslos ihren kleinbürgerlichen Ritualen hin – am Rande des Untergangs.
Die Geschichte ist natürlich symbolisch gemeint. Man kann sich kaum vorstellen, dass dergleichen buchstäblich wahr werden könnte. Für die Müllsucher von Managua (Niceragua) ist das Leben mit und auf dem Müll bittere Realität. Auf La Chureca, der größten Halde Zentralamerikas, leben ca. 280 Familien. Ihre Unterkünfte sind oft nur Verschläge aus Brettern und Pappe. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf wieder verwertbarer Gegenstände (z.B. Flaschen) und durch den Verzehr von „Biomüll“. Giftige Ausdünstungen und verdorbene Lebensmittel bergen ein hohes Krankheitsrisiko. Dazu kommen die Dämpfe der immer wieder stattfindenden Müllverbrennungen. Die hygienischen und sozialen Bedingungen dort sind unvorstellbar.
Größte Müllhalde: der Pazifik
Im vergangenen Jahr haben sich Berichte über so genannte Müllstrudel in den Ozeanen gehäuft. Der Great Pacific Garbage Patch zwischen Nordamerika und Asien bedeckt eine Fläche so groß wie Texas und enthält etwa 100 Millionen Tonnen Kunststoffmüll (Tendenz steigend). Einige der häufigsten Gegenstände, die einen Strudel ausmachen, kommen uns vertraut vor: Plastiktüten, CD-Hüllen, Zahnbürsten. Was auf der Oberfläche zu sehen ist, ist nur die Spitze des Eisbergs. Plastik wird durch Wellen und Witterung rasch in kleinere Teile zerlegt und sinkt auf den Grund. Meerestiere halten die Plastikpartikel oft für Plankton und gehen elend daran zugrunde. Der größte Teil des Mülls wird von Flüssen in die Meere gespült und sammelt sich infolge von Meeresströmungen an wenigen Stellen. Manchmal werden bei Schiffsunglücken ganze Ladungen mit Turnschuhen oder Spielzeugtieren dem Meer übergeben.
Der Dokumentarfilm „Plastic Planet“ von Werner Boote machte die Öffentlichkeit 2009 auf einige schockierende Fakten aufmerksam: Die Verfallszeit von Plastik beträgt 500 Jahre. Jährlich werden 240 Millionen Tonnen Plastik produziert. Im menschlichen Blut wurden Spuren von Bisphenol A gefunden. Plastik umgibt uns nicht nur, es ist in uns. Wir nehmen es über Nahrung, Atmung und Haut auf, und es ist aller Wahrscheinlichkeit nach krebserregend. Sieht man die Bilder der Stadtlandschaften rings um Managua oder von am Strand angespültem Plastikmüll, so erfasst einen ein Grauen vor der menschlichen Spezies. Es scheint ihre Spezialität zu sein, etwas unfassbar Schönes wie unberührte Naturlandschaften in abstoßende Hässlichkeit zu verwandeln. Warum tun wir das uns und vor allem den betroffenen Menschen an?
Deutschland: Insel der Müll-Correctness?
Deutschland scheint von den Folgen weniger betroffen zu sein. Mülltrennung gehört zu den Säulen unserer Kultur. Kein Volk trennt sorgfältiger seinen Müll. Tatsächlich schützt die deutsche Müllkultur sogar unsere Mülleimer vor Verschmutzung. Die Plastiktüten, die diesem Schutz dienen, vermehren zwar die Menge des zu entsorgenden Mülls, aber sie sind hygienisch. Eine treibende Kraft der Vermüllung ist auch menschlicher Ekel: vor den Spuren des Verfalls, den Schattenseiten der Konsumkultur. Diese Berührungsangst hat einen gesunden Aspekt (Schutz vor Krankheiten), führt aber auch zu Übertreibungen. Plastik schützt den Menschen in allen Lebenslagen vor dem Leben: vom Müllsack über den Einweghandschuh zum Kondom.
Mülltrennung gibt es seit dem ersten Abfallbeseitigungsgesetz von 1971. Ich erinnere mich noch an „archaische“ Zustände, in denen verschiedene Materialien unbedenklich in denselben Eimer geworfen wurden. Eine florierende Recyclingwirtschaft und finanzielle Anreize für Gutwillige (Flaschenpfand!) sind eine plausible Antwort auf die Probleme des „Plastic Planet“. Sogar für den Restmüll gibt es mittlerweile intelligente Verwertungsmöglichkeiten. Das Müllheizkraftwerk Darmstadt, eines der modernsten Europas, liefert Strom für knapp 10.000 Haushalte. Dabei wird die Wärme aus Müllverbrennung zur Energiegewinnung genutzt. Die Rauchgase werden in Dampf umgewandelt, dieser treibt eine Dampfturbine an, die Strom erzeugt.
Ein Pilotprojekt für „Crowdsourcing“
Mülltrennung durch die Endverbraucher hat aber noch einen anderen Aspekt. Sie war das große Pilotprojekt des Prinzips „Crowdsourcing“. Darunter versteht man die Neigung von Firmen, Routinearbeiten auf die Menge („Crowd“) der Kunden zu übertragen, ohne sich um deren Einverständnis zu scheren. Kellnern bei McDonalds, Möbel schrauben bei IKEA oder Überweisungsscheine ausfüllen im Internet – solche kleinen Tätigkeiten bestimmen mehr und mehr unseren Alltag. Als Pilotprojekt eignet sich Mülltrennung deshalb, weil jeder versteht, dass man es keinem Profi zumuten kann, Berge von Müll zu sortieren.
Dabei ist die Arbeit in Mülltrennungsanlagen nicht ganz so eklig wie wir sie uns vorstellen. Ein Großteil der Sortierarbeit wird heute maschinell erledigt. Die Bestandteile des Mülls werden auf sich verzweigenden Fließbändern getrennt. Nur wo es nicht anders geht, sitzen tatsächlich Menschen mit Handschuhen an den Fließbändern und sortieren Fremdkörper aus. Crowdsourcing kostet Arbeitsplätze, belastet den Endkunden und erhöht die Profite der Unternehmen. Würden diese Profite wieder in die Gemeinschaftskassen zurückfließen, wäre es in Ordnung, Menschen die unappetitliche Arbeit zu ersparen. Die verrichten dafür jetzt wir – unentgeltlich und ohne mechanische Hilfsmittel.
Wer zufrieden ist, produziert wenig Müll
Ich will nicht zurück zur Einheitsmülltonne. Ich will nur klar stellen, wie Verantwortung und Lasten zwischen Herstellern, Politik und Verbrauchern aufgeteilt sind. Die viel beschworene Wegwerfgesellschaft ruht auf mehreren Säulen. Erstens ist da die Konsumlust der Käufer, die vielfach an Suchtverhalten grenzt. Der Kauf selbst wird zu Event überhöht, das Trost oder Ersatzbefriedigung sein kann – unabhängig vom Nutzen eines Produkts. Zweitens werden auch bescheidene Konsumenten durch ihr Umfeld dazu gedrängt, bestimmte Moden mitzumachen. Mein Bekleidungsstil etwa gilt als altbacken, weil ich Pullover so lange behalte wie sie brauchbar sind. Da können schon mal 10 Jahre ins Land gehen. Schon nach 2 oder 3 Jahren spüre ich in meinem Umfeld eine gewisse Unruhe, weil noch immer mein „alter“ Computer, Drucker oder Bildschirm auf dem Schreibtisch steht. Im privaten Umfeld gehe ich als liebenswerter Sonderling durch, für die Industrie bin ich ein Alptraum.
Generell sind ja zufriedene Menschen der Todesstoß für eine florierende Wirtschaft. Sie weigern sich, den Herstellern von technischem Schnickschnack als Zielgruppe zur Verfügung zu stehen. Die Industrie geht daher immer mehr dazu über, den Konsumanreiz durch Konsumzwang zu ersetzen. Ist der Drucker z.B. kaputt, signalisiert der Hersteller, dass sich die Reparatur nicht lohnt. Für den Preis bekommt man schon einen Neuen. Wird ein neuer Fernseher gekauft, muss ein HDMI-Kabel dazu erworben werden, da das Scart-Kabel nicht mehr kompatibel ist. Das Scart-Kabel ist also Müll. Der Trend, Waren ins Haus liefern zu lassen statt sie im Geschäft zu kaufen, produziert Unmengen an Papier- und Plastikverpackungen. Es herrscht eine Art Innovationsterror, der Zwang zum permanenten Update in immer kürzeren Rhythmen.
Ablasszahlungen für ein gutes Gewissen
Eine unerschöpfliche Quelle unnötigen Mülls ist das wahnhafte Selbstdarstellungsbedürfnis der Hersteller. Zwar wurden die Umverpackungen in letzter Zeit stark reduziert, doch gibt es noch genügend Beispiele eines drastischen Missverhältnisses zwischen Inhalt und Verpackung. Man sehe sich nur in einem Geschenkshop oder ein Parfümerie um. Mogelpackungen sind eine weitere gebräuchliche Methode der Müllvermehrung. Als Mogelpackung im Sinne des Gesetzes gelten von außen nicht sichtbare Lufteinschlüsse, die mehr als 30 % des Volumens einer Packung ausmachen. Aus der Perspektive der Müllvermeidung sind dies keine Kavaliersdelikte. Würde jeder Hersteller seinen Spielraum voll ausnutzen, bedeutete dies drastisch mehr Verpackung als nötig.
Während Innovationsterror und überflüssige Verpackungen auf das Konto der Industrie gehen, trägt die Kosten dafür – natürlich – der Kunde. Und zwar doppelt: über höhere Preise (da die Kosten für Entwicklung, Werbung und Verpackung auf die Käufer umgelegt werden) und dann noch mal über die Müllgebühren. Gleichzeitig findet ein Crowdsourcing des schlechten Gewissens auf den Endkunden statt. Vergisst dieser seine Stoff-Einkaufstasche zuhause und muss eine Plastiktüte an der Kasse kaufen, so raunt ihm eine innere Stimme zu: „Klimakiller“. Dabei profitieren die Händler vom Verkauf der teuren Plastiktüten wie der Staat via Tabaksteuer von Zigarettenverkäufen profitiert, vor denen er gleichzeitig warnt. Wir sollen viel konsumieren, uns dabei schlecht fühlen und für unser schlechtes Gewissen Ablasszahlungen leisten.
Sozial blinder Ökosnobismus
Die Plastiktüten sind aber ein harmloses Beispiel für einen allgemeinen Trend. Umweltgerechtes Verhalten wird über Preise und Strafen erzwungen. In manchen Fällen fühlen sich Preise auch wie Strafen an. Ich bezahlte einmal für eine als Sondermüll entsorgte Heimorgel über 30 Euro – nebst Zeitverlust. In den Steuern ist diese Gebühr nicht inbegriffen, die „braucht“ der Staat für Rüstung und Schuldendienst. Mancher mag bei solchen Zuständen denken, der Umweltbewusste sei eigentlich der Dumme. Wer das Teil in den Wald wirft, erspart sich Zeit und Kosten. Für Menschen, die am Existenzminimum leben, könnte sich das zunehmend als Mittel der Wahl erweisen. Unsere Unterschicht wächst, die Müllentsorgung ist aber auf die Verhältnisse der Mittel- und Oberschicht zugeschnitten. Dahinter steht ein sozial blinder Ökosnobismus. Die soziale Komponente von Umweltsünden wird ausgeblendet, es werden Maximalforderungen erhoben, und wer nicht mitmacht, hat das Weltklima auf dem Gewissen.
Auch die Müllversorgung ist von der Privatisierungswelle natürlich nicht verschont worden. Sie hat bereits in den 70er-Jahren begonnen. Mit Einführung des Dualen Systems in den 90ern wurde die Entsorgung von Müll mit dem Grünen Punkt ausschließlich von Privatfirmen übernommen. Mittlerweile hat sich der Trend umgekehrt. Viele Kommunen gründen wieder eigene Müllunternehmen. In Stuttgart scheiterte unlängst der Versuch, die Müllabfuhr zu privatisieren. Das derzeitige Verhältnis von Privat zu Öffentlich beträgt 60 % zu 40 %. Die Rücknahme von Privatisierungen ist zwar ein interessanter Trend, für Bürger aber nicht automatisch eine gute Nachricht. Man darf nicht vergessen, dass es den Kommunen an Geld fehlt. Manche Gemeinde bessert ihr Budget über die Müllgebühren auf – wenn sie etwa aus dem klammen Steuersäckel regionale Banken retten „musste“.
Der mächtige kollektive Schatten
Alle beschriebenen Phänomene spiegeln gesellschaftliche Realitäten und sind Ausdruck des kollektiven Unbewussten, das einen mächtigen Schatten wirft und dessen Existenz zugleich verdrängt. Die folgenden „Grundsätze“ sind durchaus vieldeutig:
- Die Verpackung ist wichtiger als der Inhalt
- Wenig Wertschätzung für das, was man hat (Wegwerfmentalität)
- Alles wird zur Ware (vom Verschmutzungsrecht bis zur Schmutzentsorgung)
Ohne einen dramatischen Wandel der Mentalität können wir auch beim Müllproblem nur an den Symptomen herumdoktern.
Können wir uns wirklich Verbraucher vorstellen, die drastisch weniger konsumieren und das, was sie kaufen, länger behalten? Eine Industrie, die auf Werbung verzichtet, das Tempo der Innovationen verlangsamt und unnötigen Schnickschnack gar nicht erst herstellt? Einen Staat, der für all das die Rahmenbedingungen schafft, bei den Kosten der Müllentsorgung mehr das Verursacherprinzip anwendet und Gebühren sozial abfedert? Dies erscheint utopisch, gerade in einem System, in das Wachstumszwang und Profitstreben „eingebaut“ sind. Aber es ist wie bei vielen anderen Themen: Wo uns das Wahrscheinliche in den Abgrund führt, kann uns nur das Unwahrscheinliche retten.
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