Die Welt ist mehr als Wissenschaft
Der Glaube an die messbare Welt verhilft der Wissenschaft zur Interpretationsmacht über die Natur. Eine gefährliche Tendenz mit theologischen Wurzeln.
Kirchliche Schriftgelehrte strebten bis ins späte Mittelalter nach einer allseits gültigen Interpretation der Heiligen Schrift. Deshalb bezeichneten sie die in der Bibel häufigen «Universalien» – abstrakte Begriffe wie das Gute, das Gerechte und das Göttliche – als unumstössliche Realitäten. Kritische Mönche sahen das anders. Die Universalien waren für sie die Folge eines Denkprozesses, der von den Gegenständen ausging. Erst die Beobachtung verschiedener Bäume führe zur Idee des Baumes. Das Göttliche wurde so zu einer Konstruktion des Menschen aufgrund von Erfahrungen mit der Unendlichkeit der Schöpfung oder seiner eigenen Unzulänglichkeit. Welt und Natur konnten jedenfalls nicht mehr allein im Kontext der Heiligen Schrift verstanden werden. Der blitzgescheite Franziskanermönch Wilhelm von Ockham (1285–1347) brachte es auf den Punkt. Die wirklichen Dinge sind individuell, ihre Bezeichnungen dagegen abstrakt: «Der Begriff ist niemals wirklich dasselbe wie jenes, dessen Begriff er ist.» Die orthodoxen Kirchenführer sahen durch diesen «revolutionären», lebendigen Ansatz ihr starres und abstraktes Lehrgebäude in Gefahr und verfolgten die abtrünnigen Mönche bis aufs Blut.
Weiss die Wissenschaft, wie wenig sie weiss?
Heute scheint alles ganz anders zu sein. Wir leben in Zeiten, in der jede und jeder forschen kann, was er oder sie will. Oder doch nicht ganz? Es überrascht auf jeden Fall, mit welcher Selbstverständlichkeit zurzeit zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Deutungshoheit gegenüber Mensch und Natur unterstreichen. Die Möglichkeit, Wirklichkeiten «vollständig zu erfassen», wird als sinnvolles Ziel verfolgt – trotz logischer und empirischer Einschränkungen. Eine Definition in den empirischen Wissenschaften ist nämlich niemals vollständig. Trotzdem wird in weiten Teilen des Wissenschaftsbetriebs allein «auf Anwendung hin» geforscht, als ob alles klar wäre. Die überragenden Resultate gerade in den Bereichen der künstlichen Intelligenz und der Robotik verführen folgerichtig zu offensichtlicher Betriebsblindheit. Anders kann nicht erklärt werden, wie vollmundig Wissenschaftler über die Beseelung von Robotern oder über den künstlichen Menschen reden. Auf der Suche nach dem absoluten Wissen kommt ihnen die Bescheidenheit abhanden. Wie früher die religiösen Machthaber wollen sie die Interpretationsmacht über die Welt.
Wissenschaft als Religion
Die Spinne im Netz und ihre Beute ist ein gutes Bild für die herrschende Logik der Abstraktion. Nur die Beute steht zur Diskussion, aber nicht, was durch die Maschen fällt. Nur was gemessen werden kann, existiert. Doch eine ganzheitliche und damit ökologische Betrachtungsweise von Mensch und Natur orientiert sich daran, ob sie die Natur lediglich als einen Komplex von Begriffen und Informationseinheiten versteht oder als letztlich niemals vollständig zu erfassendes Ganzes, dessen Grösse tiefen Respekt und eine durchaus auch politisch zu verstehende Demut verlangt.
Wer die Welt dagegen – wie differenziert auch immer – lediglich als vernetztes System begreift, wird sich früher oder später komplizenhaft zu den herrschenden wissenschaftlichen und mit ihnen oft verbandelten politisch-ökonomischen Instanzen verhalten. Wenn Medienwissenschafter wie Norbert Bolz heute davon ausgehen, dass «wir bereits in der Maschine leben» und dagegen «nicht kulturkritisch lamentieren» sollten (NZZ-Feuilleton, 24.03.2018), unterstützen sie einen Prozess, der die unfassbare Realität vergessen machen soll. Bolz plädiert folgerichtig für eine «Virtual Realitiy», die ihre Gemeinde «tödlich umarmt». Wie «die Natur» wird nun auch der öffentliche Raum informationstheoretisch «belegt» und vermessen. Ausserhalb «der Gemeinde» mag es noch Platz für ein paar Hohepriester haben, die sich ein authentisches Leben leisten können. Ihnen steht allenfalls eine Prise Achtsamkeit, fernöstliche Gelassenheit oder mystische Erkenntnis zu. Doch es geht – in Anlehnung an Theodor W. Adorno – gerade nicht um Erholung für ermüdete Geschäftsleute, Politcracks und Wissenschaftler. Es geht um die tief im kollektiven Bewusstsein verankerte einäugige Logik der Messbarkeit mit ihrer Sehnsucht nach der gültigen Interpretation von Welt und Natur. Sie müsste um eine gleichberechtigte Haltung der Offenheit bezüglich des Unerfassbaren und der unendlichen Vielfalt ergänzt werden. Das wäre eine notwendige Leitplanke für eine zukunftsgerichtete Wissenschaft ohne religiösen Herrschaftsanspruch.
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Markus Waldvogel ist Autor, Philosoph und Leiter der Beratungsfirma Pantaris. Er war viele Jahre Mitarbeiter des WWF Schweiz und hat die Bieler Philosophietage mitbegründet.
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