Matrifokalität: Mütter im Zentrum

Frauen sind nicht die besseren Menschen. Aber sie haben die bessere Zivilisationsform hervor gebracht: die matrifokale. Ein Plädoyer für eine Gemeinschaftsform, die danach strebt, dass es allen gut geht.

Ein Baum auf einem Hügel mit ausladender Krone vor blauviolettem Hintergrund und einer Sonne, die im Meer versinkt
Im Zentrum matrifokaler Gemeinschaften steht die Mutter. (Bild: Pexels)

Wenn man von Matriarchat und Patriarchat spricht, führen die Begrifflichkeiten  immer wieder zu Verwirrungen und Missverständnissen. Deshalb seien sie hier gleich zu Anfang geklärt:

  • Mit dem Patriarchat sind nicht die Männer als solche gemeint.
  • Matriarchat bedeutet nicht «Frauenherrschaft». Gemeint ist Matrifokalität: Im Zentrum der Gemeinschaft steht die Mutter.
  • Dass es allen gut gehen soll, heisst nicht, dass der Einzelne mit dem Kollektiv verschmelzen und seine Ansprüche und seine Individualität aufgeben soll.

Matrifokalität gilt als artgerechte Urform des Zusammenlebens. Sie bedeutet, dass die Mütter im Zentrum der Gemeinschaft stehen. Die enge, lebenslange Grossmutter-Mutter-Tochter-Schwester-Gemeinschaft gewährleistete die optimalen Entwicklungsmöglichkeiten für die nächste Generation. Sie gilt als Voraussetzung für die Kulturentwicklung der Menschen überhaupt, weil wir als Spezies besonders unreif und fürsorgebedürftig sind. Im Neolithikum waren es die Pflanzerinnen und davor die Sammlerinnen, die 75 Prozent der Nahrung herbei schafften. Entsprechend lebten diese Gemeinschaften auch aus wirtschaftlicher Sicht in weitgehend weiblicher Autarkie.

Männer wurden in diese matrifokale Sippenstruktur hinein geboren, waren gut integriert und leisteten Beiträge an das Zusammenleben, zum Beispiel als Jäger oder Schamanen. Sie übernahmen wichtige Aufgaben als «soziale Väter» der Kinder, die in der Sippe aufwuchsen.

«Bewegen sich Männer aber ausserhalb der Natürlichen Ordnung der Mutter, wie wir es seit 6500 Jahren von vielen Männern im Patriarchat erleben, so neigt das Männliche dazu, zerstörerisch zu sein.» Dr. Kirsten Armbruster

Die Naturwissenschaftlerin und Patriarchatskritikerin Dr. Kirsten Armbruster schreibt über das Tao als Symbol der Natürlichen Integrativen Ordnung der Mutter:

«Die Mutter ist das Urbild für die Integration menschlichen Lebens. In der Mutter entsteht weibliches und männliches, aber auch, der Diversitätsregel der Natur folgend, nicht heteronormatives Leben. In der Mutter wird dieses Leben gleichermassen genährt und gleichermassen von ihr geboren. In der Mutter findet kein Kampf zwischen den Geschlechtern statt und in der Umkehrung findet der Kampf zwischen den Geschlechtern erst seit der patriarchalen Entwertung der Mutter statt. Und weiter bedeutet das: Wenn sich Männer innerhalb dieser Natürlichen Integrativen Ordnung der Mutter bewegen, so sind sie natürlich männlich und damit gesund und heil. Bewegen sich Männer aber ausserhalb der Natürlichen Ordnung der Mutter, wie wir es seit 6500 Jahren von vielen Männern im Patriarchat erleben, so neigt das Männliche dazu, zerstörerisch zu sein. Es befindet sich ausserhalb der Natürlichen Ordnung der Art.»

Wie hat das eigentlich angefangen mit dem Patriarchat?

«Patriarchat» heisst wörtlich übersetzt «Herrschaft der Väter». Es begann vor rund 5000 bis 7000 Jahren. Mit dem Beginn des Metallzeitalters, in der Kupfersteinzeit, lassen sich archäologisch erste Veränderungen feststellen. Spuren von Gruppengewalt und das Auftauchen von Herrschergräbern zum Beispiel in Warna, am Schwarzen Meer im heutigen Bulgarien oder in Arsan Tepe in Anatolien machen erstmals patriarchale hierarchische Gesellschaftsstrukturen sichtbar. In der Bronzezeit ab zirka 3300 vor unserer Zeitrechnung begann im Vorderen Orient das patriarchale Kriegszeitalter; in Mittel- und Nordeuropa war es im 2. Jahrtausend v. Chr. soweit. Erstmals kam es zu Reichsgründungen durch kriegerische Eroberungen.

Die angebliche Präferenz für potenziell wohlhabende Männer ist keine angeborene evolutionäre Programmierung, sondern eine Anpassung an eine Welt, in der Männer einen Grossteil der Ressourcen kontrollieren.

Als die Menschen begannen, Land zu bestellen und Vieh zu halten, wandelte sich die Gesellschaft tiefgreifend. Zuvor lebten unsere Vorfahren als Wildbeuter, und das Teilen war die einfachste Art, Risiken zu minimieren. Frauen hatten in den frühen Wildbeuterkulturen als Sammlerinnen und Pflanzerinnen auch ökonomisch eine zentrale Bedeutung. Im Zuge der fortschreitenden Rinderdomestikation, der Pferdedomestikation und dem Beginn des Pflugackerbaus änderte sich das: Die Frauen wurden aus ihrer matrilinear-frauenkollektiven ökonomischen Unabhängigkeit zunehmend heraus gedrängt. Während sie zuvor den gleichen Zugang zu Nahrung, Schutz und sozialer Unterstützung hatten wie Männer, fanden sie sich nun in einer Welt wieder, in der sie ihre Reproduktionskapazitäten gegen den Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen eintauschen mussten. Die angebliche Präferenz für potenziell wohlhabende Männer ist keine angeborene evolutionäre Programmierung, sondern eine Anpassung an eine Welt, in der Männer einen Grossteil der Ressourcen kontrollieren.

Mit der Sesshaftigkeit veränderte sich die Gesellschaft und mit ihr der Status von Frauen radikal. Während nomadische Wildbeuter ihren persönlichen Besitz notgedrungen auf ein Minimum beschränkten (weil ja alles getragen werden musste), rückte nun der Privatbesitz in den Vordergrund. Nun war es von Bedeutung, wo das eigene Feld endete und das des Nachbarn begann. Land war etwas, das man besass und nachfolgenden Generationen weiter vererbte.

Während Frauen in den Wildbeuter-Kulturen eine zentrale, respektierte Rolle innegehabt hatten, wurden sie nun zum Besitz des Mannes, den dieser zusammen mit Haus, Vieh und Sklaven verteidigen musste.

Erstmals in der Geschichte der Menschheit wurde auch die Sicherstellung der biologischen Vaterschaft zum Thema - ein wesentlicher Bestandteil des Patriarchats. Mann will sichergehen, dass der eigene Nachwuchs Haus und Hof erbt. Dort lässt sich auch der Jungfern- und Keuschheitsskult verankern: Die ursprüngliche «female choice», die selbstbestimmte, sexuelle Freiheit der Frau, wurde beschnitten, damit Klarheit über die eigenen Nachkommen herrscht - und damit über die Besitzansprüche. Während Frauen in den Wildbeuter-Kulturen eine zentrale, respektierte Rolle innegehabt hatten, wurden sie nun zum Besitz des Mannes, den dieser zusammen mit Haus, Vieh und Sklaven verteidigen musste.

Zurückdrehen lässt sich das Rad der Geschichte nicht. Doch die Frage lautet: Wie können wir matrifokale Grundsätze in unserem Leben verwirklichen und uns von patriarchalen Ideologien befreien? Und warum wäre das gut für die Gesellschaft?

Dr. Kirsten Armbruster listet in ihrem Buch «Matrifokalität - Mütter im Zentrum» folgende Vorteile auf:

  • Die Erziehungsarbeit ist auf viele verschiedene Menschen der Sippe verteilt, was Einseitigkeit und Überforderung vorbeugt und Vielseitigkeit fördert.
  • Der Lebenskontext der neuen Generation ist wesentlich stabiler als die patriarchatsalternative Variante der Ehe, die auf einem leicht flüchtigen Liebesgefühl und der natürlich-kurzzeitigen sexuellen Anziehung zwischen Exogam-Fremden oder auf einer arrangierten patrilokalen Form beruht.
  • Existentielle Trennungs-Traumen durch Scheidungen werden für die Kinder vermieden, und die sollten nicht unterschätzt werden, liegt doch in westlichen Kulturen die Scheidungsrate bei 40 Prozent und wird nur unter restriktiv-theologischen Bedingungen und meistens damit verbundenen ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen von Müttern zumindest äusserlich sichtbar unterschritten.
  • Der Schutz vor Gewalt und sexuellem Missbrauch von Frauen und Kindern durch die matrifokale Sippe ist wesentlich höher, und dieser Schutz ist dringend nötig, denn selbst in Deutschland, das als zivilisiert gilt, sind die aktuellen Zahlen des Bundeskriminalamts bei den Tötungsdelikten alarmierend, denn demnach sind 49,2 Prozent aller getöteten Frauen Opfer ihres aktuellen oder ehemaligen Partners.
  • Die ökonomische Absicherung der matrifokalen Familie hängt nicht an einem Einzelnen, sondern ist durch eine Verteilung auf mehrere Schultern wesentlich breiter aufgestellt.
  • Die Geburtenrate wird nicht mehr durch theologische Vermehrungsindoktrinationen fehlgeleitet, sondern obliegt dem Verantwortungsbereich der Frauen, die erfahrungsgemäss, von patriarchalen Strukturen befreit, die Fortpflanzung den natürlichen Ressourcen anpassen, womit eines der dringendsten Probleme unserer exponentiellen Wachstumszwangsgesellschaft, der heute auch das Bevölkerungswachstum obliegt, gelöst werden könnte.
  • Verantwortungsvolle Väter könnten problemlos in eine matrifokale Sippe integriert werden.

Matrifokalität bedeutet eine Lebensgemeinschaft unabhängig von sexuellen Beziehungen. Mehrere Generationen leben in einer verlässlichen Sippengemeinschaft zusammen, in der alle Menschen eingebettet sind: Kinder, Erwachsene mit und ohne Beeinträchtigungen und Betagte. Man lernt voneinander und unterstützt einander. Nach dem Prinzip der Permakultur ist Vielfalt eine der Grundvoraussetzungen für die Schaffung stabiler Systeme.

Die Familie ist die wichtigste soziale Gemeinschaft, in der Kinder behütet aufwachsen können und Erwachsene Rückhalt finden. Und das ist nicht die Kleinfamilie, die dem Partnerschaftsmythos anhängt und auf dem romantischen Ideal des Märchenprinzen oder der Märchenprinzessin aufbaut, wonach man «alles mit einem für immer» haben könne. Die dauerhafte romantische Beziehung ist nichts weiter als ein Sehnsuchtsort, den wir als patriarchal geprägte Menschen fälschlicherweise für die Normalität halten.

Mehr dazu

- Frauenstreik - und dann? Artikel hier im Zeitpunkt vom 13. Juni 2019
- Matrifokalität - die Idee, die Muttersippe wieder aufleben zu lassen», Artikel auf «Die Störenfriedas» vom 1. März 2016
- Kirsten Armbruster ruft Mütter an die Macht, Artikel in der «Mittelbayerischen» vom 15. Februar 2008

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Quellen:
- Dr. Kirsten Armbruster: Matrifokalität - Mütter im Zentrum
- Claudia von Werlhof: Die Verkehrung. Das Projekt des Patriarchats und das Gender-Dilemma
- Christopher Ryan & Cacilda Jetha: Sex. Die wahre Geschichte
- Mariam Irene Tazi-Preve: Das Versagen der Kleinfamilie. Kapitalismus, Liebe und der Staat

Kommentare

Matrifokalität vs. Frauenneid u. -hass, Gedankenspiel

von Albatros
Mir fehlt in der Diskussion der Faktor weiblichen Konkurrenzdenkens als einer der treibenden Faktoren der menschlichen Evolution. Wir Männer säßen vielleicht heute noch in Höhlen ums Feuer, wenn Frau es nicht gern behaglicher gehabt hätte, zum eigenen Wohle und dem der eigenen Nachkommenschaft. Es heißt auch, hinter jedem großen Mann steht eine starke Frau. Man darf wohl davon ausgehen, dass es die Frauen selber waren, die durch die Stärkung von Männerrechten in der Gesellschaft weibliche Mitkonkurrenz um Leit- und Führungsfunktionen auszustechen versuchten. Es liegt nahe, dass dazu von den jüngeren Müttern die gemeinsamen Kinder mit den durchsetzungsfähigsten oder den aktivsten Männern einer  Gemeinschaft als Vorwand genutzt wurden, um sich bspw. gegen die etablierte Ordnung der älteren Frauen durchsetzen zu können. Als Grund lassen sich persönliche Vorteile anführen, wie die absolute Sicherung der eigenen Nachkommen, indem Frau für sich allein den effektivsten, leistungsstärksten oder durchsetzungsstärksten Mann beanspruchte, statt ihn mit anderen zu teilen. Was freilich nur Sinn macht, wenn Frau diesen Sichereitsanspruch auch auf die gemeinsamen Kinder überträgt und für diese wiederum Geschlechtspartner auswählt, die ihr geeignet schienen, diesen Dominanzanspruch der eigenen Sippe auch künftig, über den eigenen Tod hinaus, aufrecht zu erhalten. Vielleicht auch, um sich im Alter oder in der jenseitigen Welt von den gut versorgten Nachkommen selbst gut versorgt zu wissen. Auch heute beobachtet man unter Frauen häufig Neid auf die besseren oder auch nur  vermeintlich besseren  Besitztümer, die andere Männer ihren Frauen bieten. Die ganze Klatsch- u. Glamourpresse ist dafür sehr beredtes Zeugnis. Dieser Neid,  vornehmlich des weiblichen Geschlechts, ist wohl kaum erst in historischen Zeiträumen erwachsen. Es scheint allerdings ebenso naheliegend, dass dieser Prozess erst mit der Sicherung von Acker- und Weideland Richtung Patriachat eskalierte, weil hier die Vorteile von Ackerfruchtbarkeit, Ackergrösse, leicte Bestellbarkeit, ständige Wasserverfügbarkeit, Nähe zur Behausung, gepaart mit der Leistungsfähigkeit, Fleiss, Disziplin, aber auch der Kreativität und der Durchsetzungsfähigkeit des Mannes zu ereblichen Unterschieden in den Erträgen kommen konnte. Welche Frau wollte für sich u. ihre Kinder einen  Versager, wenn es ums Überleben geht? Welche Frau wollte gern ihren erfolgreichen Mann gegen einen vielleicht attraktiveren Partner eintauschen, mit dem Risiko, dass der sich aber nicht aufs ackern versteht? Andersherum versuchten junge, attraktive Frauen, wie heute auch, vermutlich älteren den Mann apspenstig zu machen, den sie bereits als fleißig, strebsam u. erfolgreich erkannt haben.  Spätestens also mit dem sich ausbreitenden Ackerbau, begann vermutlich der Konkurrenzkampf unter Frauen substantiell zu werden, was den Männern Macht über sie verliehen haben dürfte.