«Der Schrei der Armen»
Im Christentum hat Kapitalismuskritik eine lange Tradition, die bis auf die Evangelien selbst zurückgeht. Die Kirchen haben sich in der Geschichte dennoch oft auf die Seite der Reichen geschlagen. (Roland Rottenfußer)
«Christus geht im Poncho einher», lautet einer der Wahlsprüche der Basiskirchen im Norden Perus. Die Campesinos, Kleinbauern indianische Herkunft, betreiben in der unwirtlichen Gebirgslandschaft seit Generationen Ackerbau. Ein hartes Brot. Da kann sich jede Störung des gewohnten Ablaufs existenzbedrohend auswirken. Seit einigen Jahren haben die Campesinos im peruanischen Cajamarca nun Probleme mit der nahe gelegenen Yanacocha Mine, der grössten Goldmine Südamerika. Der metallhaltige Dampf aus den Bergwerken legt sich als rostbraune Schmiere auf die Felder. Dann sterben die Kühe.
Die Campesinos haben begonnen, sich zu wehren. Unterstützt wurden sie dabei bis vor kurzem von einer Kirche, die sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil für die Rechte der Armen stark machte. Der legendäre Bischof José Dammert Bellido hatte in Cajamarca bis zu seiner Berentung im Jahr 1992 eine selbstbewusste indianische Kirche aufgebaut. Er hatte 3000 Campesinos zu Gemeindehelfern ausgebildet, die zum Teil priesterliche Funktionen wie Bibellesungen und Taufen wahrnahmen. Der mutige Priester Marco Arana setzte das Werk des Bischofs fort und gründete die Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung «Grufides». Mit zahlreichen gewaltfreien Aktionen unterstützte er die Bauern in ihrem Kampf gegen die Minenbetreiber
Doch Marco Arana muss sich seit kurzem mit Morddrohungen auseinandersetzen. Schon sechs Campesinos sind, vermutlich von Sicherheitskräften der Minen, ermordet worden. Die Gewalttätigkeiten haben zugenommen, als Ortsbischof Lázaro dem ihm unterstellten Priester Arano in den Rücken fiel. Der Bischof hatte bei seinem Amtsantritt 2004 angekündigt, den «Saustall» auszumisten. Insider berichten, dass er sich jedes Jahr von den Goldminen-Betreibern ein Auto habe schenken lassen. Bischof Lázaro verfasste einen Hirtenbrief, in dem er mehrere engagierte Priester aufforderte, ihre «Agitation» sofort einzustellen und sich auf ihre «eigentlichen priesterlichen Aufgaben zu beschränken.»
Was sind die «eigentlichen priesterlichen Aufgaben»? Zweifellos prallen in Peru zwei Auffassungen von Kirche aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Zwei Traditionen der Bibeldeutungen, die einander seit den Ursprüngen des Christentums gegenseitig bekämpfen. Der Verbindung von Thron und Altar, wie sie sich seit dem römischen Kaiser Konstantin anbahnte, kirchlichem Prunkt und weltlicher Machtentfaltung der Päpste stand eine Strömung des sozial engagierten Christentums gegenüber, die sich auf das Armutsgebot bestimmter Stellen des Evangeliums berief.
Als unwissentlicher Begründer und Bezugspunkt jeder Art von «linker Theologie» gilt der Evangelist Lukas. In seinem Evangelium, geschrieben ca. zwischen 80 und 90 n. Chr., sind – verglichen mit Matthäus, Markus und Johannes – auffällig viele Textstellen überliefert, in denen die soziale Differenz zwischen Arm und Reich Thema ist. Die berühmte Weihnachtsgeschichte mit ihrer Stall- und Krippen-Romantik ist ausschliesslich im Lukas-Evangelium überliefert. Sie verlegt die Geburt des Herrn (was historisch nicht verbürgt ist und vielfach bezweifelt wird) in ein «Unterschichten-Milieu», inmitten der Tiere des Feldes und der einfachen Leute (Hirten). Der Gottessohn auf Stroh gebettet – hier findet der Mythos vom Abstieg Gottes in die «Niedrigkeit» des Menschlichen einen sinnfälligen und überaus populären Ausdruck.
Schon vor Jesu Geburt allerdings wird bei Lukas Sozialrevolutionäres verkündet: «Er übet Gewalt mit seinem Arm und zerstreuet, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn», heißt es da über Gott Vater. «Er stösset die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllet er mit Gütern und lässt die Reichen leer.» (Lukas 1, 51) Die linke Revoluzzerin, die dies verkündet, ist keine Geringere als Maria, die Mutter Jesu. In der reichen Tradition der Marienverehrung gerade im Katholizismus spielt dieser aggressive Aspekt Marias gegenüber ihren sanften Eigenschaften (Gnade und Milde) nur eine geringe Rolle. Es handelt sich bei Marias «Lobsang» um eine typische Rollentauschfantasie, die im Weiteren die Rhetorik des Lukas-Evangeliums prägen wird. Die Armen sollen im «Reich Gottes» in die Position der Reichen versetzt werden, und umgekehrt.
In der Lukas-Version der Bergpredigt heisst es: «Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr hier hungert; denn ihr sollt satt werden. (…) Weh euch Reichen! denn ihr habt euren Trost dahin. Weh euch, die ihr hier satt seid! denn euch wird hungern.» (Lukas, 6, 20-24). Weiter hinter im Evangelium die Warnung vor Habgier: «Sehet zu und hütet euch vor Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.» (Lukas 12, 15). Im Gleichnis «Reicher Mann und armer Lazarus» findet sich der Reiche nach seinem Ableben in einem qualvollen Totenreich wieder und muss mit ansehen, wie es sich der ebenfalls gestorbene Arme in «Abrahams Schoss» gut gehen lässt. (Lukas, 16, 19). Natürlich ist da auch die Geschichte von dem Reichen zu erwähnen, dem Jesus rät, alles, was er hat den Armen zu geben. «Es ist leichter, dass ein Kamel gehe durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt.» (Lukas, 18, 25).
Eine solche Häufung sozial engagierter Textstellen hat Lukas den Ruf eines «Evangelisten der Armen» und «sozialistisch denkenden Schriftstellers» eingebracht. Tatsächlich geht es Jesus im Lukas-Evangelium aber nicht um eine Idealisierung unfreiwilliger Armut, sondern um das Ideal des freiwilligen Besitzverzichts als Voraussetzung für Jüngernachfrage – die Hingabe des «Ego», um es mit Begriffen einer neueren Spiritualität zu sagen. Der De-facto-Kommunismus und die Besitzlosigkeit der Jüngergemeinschaft Jesu wurden zum Vorbild für besitzlose Mönchsgemeinschaften und Armutsbewegungen im späteren Christentum. Reiche indes werden dazu ermahnt, die Anhaftung an materiellen Gewinn als Hindernis auf dem Weg zur Erlösung zu verstehen. Sie sollen Schulden erlassen, zu Unrecht angeeignetes Gut zurückgeben und generell einen großen Teil ihres Besitzes den Armen spenden. Diese Anweisungen sind zunächst «spirituelle Therapie» für die Reichen, aber auch der Entwurf einer fundamentalen Sozialordnung, die – im Gegensatz zur modernen Wirtschaftsordnung – geeignet ist, die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen.
Besonders deutlich werden diese beiden Aspekte in der Geschichte vom Zöllner Zachäus, dem Jesus auftrug, die Hälfte seiner Güter den Armen zu geben und Menschen, die er betrogen hat, das Vierfache zurückzugeben. (Lukas 19, 8). Zachäus ist der Prototyp des Ausbeuters, des Feindbilds aller Sozialisten. Steuerpächter im damaligen Judäa waren Eintreiber für den römischen Staat, schlugen aber auf die von Rom geforderte Summe oft noch ein Vielfaches drauf, um sich so an der Bevölkerung des eigenen Landes schamlos zu bereichern. Zachäus ist ein schönes Beispiel für die Umkehr eines Sünders und für Vergebung. Es wäre aber sicher ein Missverständnis, wenn sich die Kirchen mit Hinweis auf Zachäus mit ausbeuterischen Strukturen verbünden würden und dabei die Tatsache, dass es sich dabei um Sünde handelt sowie die Notwendigkeit der Umkehr unter den Tisch fallen liessen. Man kann durchaus sagen, dass „linke“ Interpretationen des Evangeliums eine Grundlage haben. Jesus spricht den Reichen das moralische Recht ab, ihren Besitz nur deshalb zu behalten, weil sie formaljuristisch Anspruch darauf erheben können.
Es ist unmöglich, hier einen Gesamtüberblick über die sozial engagierten Strömungen der Kirchengeschichte zu geben, die sich an das Lukas-Evangelium anschliessen. Berühmt ist etwa die «Rede an die Reichen» (370 n. Chr.) von Basilius, Erzbischof von Caesarea: «Genauso sind die Reichen: Sie betrachten die Güter, die allen gehören, als ihr privates Eigentum, weil sie sich diese als erste angeeignet haben. Den Hungernden gehört das Brot, das du für dich behältst; den Nackten der Mantel, den du in der Truhe versteckst; den Armen das Geld, das du vergräbst». Bei dem «vergrabenen» Geld kann man heute durchaus an auf Bankkonten gehortetes, dem Umlauf entzogenes Geld verstehen. Basilius’ Zeitgenosse, der griechische Bischof Grogor von Nyssa, sprach sogar explizit die Problematik des Zinses an: «Was ist für ein Unterschied, durch Einbruch in Besitz fremden Gutes zu kommen (…), oder ob man durch Zwang, der in den Zinsen liegt, das in Besitzt nimmt, was einem nicht gehört?»
Ein grosser Erneuerer des Armutsgebots, wie es vor allem aus dem Evangelium des Lukas herausgelesen werden kann, war Franz von Assisi (1181-1226). In seiner Geburtstadt ist noch heute eine graue, zerrissene, mehrfach geflickte Kutte zu besichtigen, extremer Ausdruck seiner uneitlen, allem Weltlichen abgewandten Geisteshaltung. Franz von Assisi war der Sohn eines reichen Kaufmanns. Als ihn seine ebenfalls aus der «Oberschicht» stammenden Freunde einmal allein und nachdenklich in einer Gasse vorfanden, fragten sie, ob er daran dächte, «ein Weib zu nehmen». Franz soll geantwortet haben: «Ich gedenke mir eine Braut zu nehmen, diese ist aber viel edler, reicher und schöner, als Ihr zu denken und Euch vorzustellen vermöget.» Diese Braut war die Armut.
Franz verkaufte alles, was ihm im väterlichen Haus gehörte, für den Wiederaufbau einer verwahrlosten Kapelle bei Assisi. Als sein Vater ihn dafür öffentlich zur Rede stellte und drohte, ihn zu enterben, entkleidete sich Franz vollständig und gelobte, von nun an nur noch Gott anzugehören. Franz – und in seiner Nachfolge die Orden der Franziskaner und der Klarissinnen – haben seither unzählige soziale Projekte auf den Weg gebracht und sind ihrem Gelübde persönlicher Bedürfnislosigkeit immer treu geblieben. Dabei ist die starke Ausstrahlung des Franz von Assisi sicher u.a. seiner überlieferten Herzensfröhlichkeit zu verdanken – schlagender Beweis dafür, dass eine konsequent immaterielle Lebenseinstellung sehr wohl ein erfülltes Leben zu begründen vermag.
Die armen Franziskaner waren so auch eine beständige lebende Provokation für eine zunehmend prunksüchtige Kirche, die die soziale Botschaft des Evangeliums eher «wegzuinterpretieren» suchte. Eine literarische Spur dieses Zwiespalts finden wir in Umberto Ecos Roman «Der Name der Rose». In diesem berühmten Mittelalter-Roman wird eine Debatte zwischen Vertretern des Franziskanerordens und einer Gesandtschaft des Papstes Johannes XXII. beschrieben, die sich um die Notwendigkeit oder Nicht-Notwendigkeit der Armut der Kirche dreht. Doch kehren wir zurück in die Moderne.
Einen wesentlichen Schub erhielt die politisch engagierte Kirche nach der kubanischen Revolution von 1959 mit der Entstehung der so genannten «Befreiungstheologie» in Lateinamerika. Es war zunächst eine Bewegung der Armen selbst, landloser Bauern und Slumbewohner, die aus der Bibel eine Botschaft der Befreiung von Not und Unterdrückung herauslasen. Sie interpretierten die biblischen Geschichten, etwa den Auszug der Juden aus Ägypten, als etwas, das unmittelbare Konsequenzen für ihren Alltag hatte. Die Kirchenhierarchie verhielt sich gegenüber den Bestrebungen der Basis von Anfang an zwiespältig. Ein Teil des katholischen Klerus stellte sich traditionell eng an die Seite der Mächtigen und Besitzenden.
Auch in anderen Ländern der Erde wurde die Verbindung aus Christentum und Politik als schlagkräftiges Instrument gesellschaftlicher Veränderung entdeckt. Der Rückgriff auf die spirituelle Kraft biblischer Aussagen diente dazu, den berechtigten Ansprüchen der Armen und Unterdrückten Nachdruck zu verleihen, ihren Mut anzuspornen, aber auch Gewalt zu verhindern. So gab sich der Führer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung Martin Luther King «überzeugt, dass jede Religion, die angeblich um die Seelen der Menschen besorgt ist, sich aber nicht um die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse kümmert, geistlich gesehen schon vom Tod gezeichnet ist und nur auf den Tag des Begräbnisses wartet. (…) Eine Religion, die beim Individuum endet, ist am Ende.» Wenn man Martin Luther King erwähnt, muss man in der Geschichte noch weiter zurückgehen und Kings großes Vorbild Gandhi würdigen, einen Mann, der – ohne christlich erzogen zu sein – politische Durchsetzungsfähigkeit mit grosser spiritueller Überzeugungskraft verband. Über das Verhältnis von Politik und Religion sagte Gandhi in seiner Autobiografie, es gäbe für ihn «keine Politik, die nicht zugleich Religion wäre. Politik dient der Religion. Politik ohne Religion ist eine Menschenfalle, denn sie tötet die Seele.»
Seit den 70er-Jahren stellten sich Theologen wie Gustavo Gutiérrez (von dem der Begriff «Teologia de la liberación» stammt), Ernesto Cardenal und Leonardo Boff demonstrativ hinter die christlichen Basisbewegungen in Lateinamerika. Sie schufen mit Schriften wie «Schrei der Armen» (Leonardo Boff) ein theoretisches Fundament, empfanden sich aber nicht als Begründer der Bewegung, sondern als deren Sprachrohr. Die Befreiungstheologen verstanden die Erlösungsbotschaft der Bibel nicht ausschliesslich in einem transzendenten Sinne, sondern fanden in ihr eine weltlich-ökonomische, ja sozialrevolutionäre Botschaft. So kamen sie nicht umhin, auch die Kirchenhierarchie zu kritisieren der sie vorwarfen, durch Verdummung der Armen den Ausbeutungsinteressen der Besitzenden zu dienen. In Deutschland gipfelten die Aktivitäten der Sympathisanten der lateinamerikanischen Befreiungsbewegung in der Aussage des Theologen Helmut Gollwitzer: «Christen müssen Sozialisten sein». Gollwitzer war auch ein Freund und Förderer von Rudi Dutschke, dem Anführer der 68er-Studentenbewegung in Berlin.
Jon Sobrino, einer der populärsten Befreiungstheologen, der seinen Lebensmittelpunkt seit 1957 in El Salvador hat, drückte die Auffassung der Befreiungstheologie besonders prägnant aus: «An Gott glauben bedeutet, sich mit den Unterdrückten zu solidarisieren.» Sobrino war auch Berater des 1980 von einer Todesschwadron ermordeten Erzbischofs Oscar Romero. Hinter dem Mord standen vermutlich Militärberater aus den USA. Romero hatte in seiner letzten Predigt vor seiner Ermordung gesagt: «Kein Soldat ist verpflichtet, einem Befehl zu gehorchen, der wider das Gesetz Gottes gerichtet ist. (...) Ich bitte euch, ich flehe euch an, ich befehle euch im Namen Gottes – hört auf mit der Unterdrückung!»
Der Brasilianer Leonardo Boff wurde 1985 vom damaligen Kardinal Joseph Ratzinger zu einem Jahr des Schweigens verurteilt und später aller kirchlichen Funktionen enthoben. Ratzinger warf Boff u.a. vor, dass Jesus Christus nach dessen Ansicht keine bestimmte Kirchengestalt befohlen habe, so dass andere als das katholische Kirchenmodell aus dem Evangelium heraus denkbar würden. Ferner dass Offenbarung und Dogma bei Boff nur eine untergeordnete Rolle spielten und dass er den historischen Machtmissbrauch der Kircheninstitution unnötig polemisch und respektlos beschrieben habe. In seiner Rechtfertigung gegenüber der Glaubenskongregation sagte Boff: «Die Kirche der Reichen für die Armen verneint die Macht des Volkes, sich zu befreien.»
In den 90er-Jahren startete Leonardo Boff ganz im Sinne der Grundsätze der Befreiungstheologie scharfe Angriffe gegen die sich ausbreitende Ideologie des Neoliberalismus: «Die Befreiungstheologie ist in den sechziger Jahren aus dem Schrei der Armen hervorgegangen. Dieser Schrei erklingt bis heute. Und er wurde zum lauten Aufschreien, weil es nicht mehr nur die Dritte Welt betrifft, sondern zwei Drittel der Menschheit. Nicht nur die Armen schreien, sondern auch die Schöpfung, unsere Erde, die ausgeplündert wird. In den 90er-Jahren geht es nicht um die Befreiung, sondern um die soziale Ausschließung als Folge der neuen Produktionsweisen, des Weltmarktes und des Neoliberalismus.»
Und Boff vermerkt mit bitterer Ironie: «Hält diese Entwicklung an, verlieren die Armen ihr Privileg, ausgebeutet zu werden. Sie werden einfach ausgeschlossen, für nichts erklärt, und wie beispielsweise die brasilianischen Strassenkinder von Todesschwadronen wie lästige Hunde erschossen.» In einem anderen Interview sagte der streitbare Theologe: „«Ich glaube, dass Veränderung möglich ist, weil ich keinen Gott annehmen kann, der sich dieser Welt gegenüber indifferent verhält, sondern nur einen, der sich den Armen, den Leidenden zuwendet. Seine Gnade gibt Kraft zum Widerstand, Kraft zur Befreiung.» Die Theologie müsse «offen sein für solche Herausforderungen, für den Schrei der Armen. Sonst bleibt eine Kluft zwischen der Welt des Glaubens und der konkreten politischen Wirklichkeit.»
Wie steht es aber um das sozial engagierte Christentum in unseren Breiten, in den zunehmend von einer neuen Armut bedrohten «reichen» Ländern des Westens? Hier bekamen die gegenüber dem Kapitalismus kritischen Kräfte Zuspruch von unerwarteter Seite. Heiner Geißler, der früher als konservativer Hardliner verschriene ehemalige Generalsekretär der CDU stellte in seinem Buch «Was würde Jesus heute sagen?» die unkonventionelle Frage: «Dürfen Kapitalisten sich Christen nennen?» Geisslers Antwort: «Wer den Börsenwert und den Aktienkurs eines Unternehmens verabsolutiert und nur noch die Kapitalinteressen ökonomisch gelten lässt, gehört zu den Menschen, die, wie Jesus sagt, viel Geld besitzen und für die es schwer sein wird, in das Reich Gottes zu kommen.»
Über die «Pharisäer» in seiner eigenen Partei sagte der ehemalige Jesuitenschüler Geißler: «jeden Sonntag (…) feierlich in die Kirche zu gehen, als politischer Schausteller sozusagen (…), aber gleichzeitig tiefe Einschnitte ins soziale Netz, die Kürzung der Sozialhilfe zu verlangen, den Kündigungsschutz abzuschaffen, Lohndumping als Wettbewerbselement zuzulassen, statt einer Bürgerversicherung das Risiko von Krankheit und Pflegebedürftigkeit zu privatisieren und auf den Kapitalmarkt zu verfrachten, ist nicht nur ökonomisch falsch, sondern führt wie in den USA zu einer Spaltung der Gesellschaft und ist mit der Botschaft des Evangeliums nicht zu vereinbaren.»
Heiner Geißler gibt auch eine aufschlussreiche Deutung der berühmten Geschichte vom Zinsgroschen. Im Lukasevangelium wird Jesus von Pharisäern gefragt: «Ist es nach deiner Meinung erlaubt, dem Kaiser Steuern zu zahlen oder nicht?» Die Frage war politisch brisant, weil die falsche Antwort Jesus als Gegner der römischen Besatzung geoutet hätte. Jesus’ Antwort ist bekannt: Sie wird normalerweise übersetzt mit «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist». Heiner Geißler weist nun darauf hin, dass im griechischen Urtext des Evangeliums das Wort «apodote» für den Vorgang des Gebens verwendet wird. «Apodote» heisst aber eigentlich «zurückgeben», also: «Gebt dem Kaiser zurück, was des Kaisers ist.» Geißler deutet diesen Satz als Aufforderung an die Juden, sich von der Währungshoheit der Römer zu lösen und das Geld des Kaisers (inklusive dem damit verbundenen Machtanspruch) zurückzuweisen. Demnach wäre die Bibelstelle nicht, wie oft argumentiert wurde, eine Aufforderung an die Kirche, Geistliches und Weltliches sorgfältig zu trennen und sich mit den Mächtigen zu arrangieren.
Ein beredtes Beispiel für den Geist der Befreiungstheologie in Deutschland ist ein Aufsatz des evangelischen Theologen Ulrich Duchrow, der in Carl Amerys äusserst lesenswertem Sammelband «Briefe an den Reichtum» veröffentlicht wurde. Duchrow gestaltet seinen Beitrag als fiktiven Briefwechsel zwischen zwei erfundenen Figuren: dem Argentinischen Bischof Teofilo Lucano und dem deutschen Bischof Justus Zumkehr. Der Argentinier gibt zu Protokoll: «Es geht nicht etwa um Armut als solche. Vielmehr geht es um Reichtum, der arm macht. Es geht um Mechanismen der Bereicherung, die als naturnotwendig erklärt und somit vergötzt werden. Armut ist die Folge. Darum kann es die Kirche nicht vermeiden, in Konflikt mit diesem Reichtum zu geraten. Nur so kann sie mitwirken, die Ursachen der gegenwärtigen Misere anzupacken. Bekanntlich reicht es nicht, die unter die Räuber Gefallenen zu versorgen. Man muss sich um die Räuber kümmern und sogar um die Ursachen dafür, dass und warum es Räuber gibt.»
Teofilo Lucano (bzw. Ulrich Duchrow) präzisiert dann seine ökonomische Analyse. Die Ausbeutungsmechanismen hätten «mit der Einführung des Privateigentums zu tun – nicht im Sinn von Gebrauchseigentum, sondern von Eigentum, mit dessen Hilfe man nach Marktgesetzen Vermögensvermehrung betreiben kann. Der Zusammenhang von verabsolutiertem Verfügungseigentum – Zins – Geld – Verlust des verpfändeten Landes/Schuldsklaverei auf der einen und wachsender Grossgrundbesitz mit Bewirtschaftung durch Sklavenarbeit auf der anderen Seite – ist also strukturell ein Mechanismus, der den Segenskreislauf umkehrt und damit zwingend in Gegensatz zu Jahweh gerät.» Er zitiert dann die Bibel: «Kein Sklave kann zwei Herren dienen. Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon» (natürlich bei Lukas, 16,13). Die Befreiung der Reichen vom Mammonismus sei psychologisch gesprochen «Suchttherapie.»
Der Text wird in der ökonomischen Theorie äußerst konkret und kritisiert die Kirchen für ihre Praxis, von Zinsen auf Geldanlagen zu profitieren: «Wenn hingegen die Zins- über der Wachstumsrate liegt, raubt der Geldvermögensbesitzer den anderen am Wirtschaftsprozess Beteiligten, also vor allem den Arbeitenden, den gerechten Anteil am gemeinsam Erwirtschafteten. (…) Das Argument, die Kirchen bräuchten die Zinseinnahmen zu marktüblichen Bedingungen (…), ist gleichbedeutend mit der plausiblen Aussage, Räuber brachten ja auch etwas als Lebensunterhalt.» Autor Duchrow setzt noch eins drauf: «Neutralität in einem asymmetrischen System bedeutet Parteinahme für die Seite der Macht und des Reichtums. Wenn die Kirche Kirche sein will, muss sie sich an die Seite Gottes stellen. Und Gott holt die Mächtigen vom Thron und hebt die Niedrigen aus dem Staub.»
Ist der Vorwurf der Parteinahme für die Seite der Macht berechtigt? Wie es scheint, hat sich die ablehnende Haltung des Vatikans gegenüber sozialreformerischen und kapitalismuskritischen Bestrebungen innerhalb der Kirche seit den 80er-Jahren und dem Lehrverbot für Leonardo Boff nicht wesentlich verändert. Wer auf einen altersmilde gewordenen Benedikt XVI. gehofft hatte, sah sich schwer enttäuscht, als der «bayerische Papst» erst im März 2007 gegen den Befreiungstheologen Jon Sobrino eine scharfe Lehrverurteilung aussprach. Der 68-jährige verbreite in einigen seiner Bücher «erhebliche Abweichungen von Glauben und Kirche» und könne somit bei den Gläubigen «grossen Schaden anrichten». Er betone zu sehr die Solidarität mit Armen und Unterdrückten und zu wenig den Glauben und die Erlösung durch Jesus Christus. Außerdem unterstreiche Sobrino zu sehr den menschlichen Charakter Jesu und vernachlässige dessen Göttlichkeit. Mit einem Entzug der Lehrerlaubnis ist der Rüffel aus dem Vatikan vorerst nicht verbunden.
Wird Jesus also weiterhin in Gold und Purpur gekleidet? Oder läuft er, wie die peruanischen Campesinos meinen, «im Poncho einher», in der Tracht des einfachen Volkes? Findet man ihn im Bischofsornat oder eher in der zerrissenen Kutte Franz von Assisis oder in dem selbstgesponnenen Baumwollgewand Mahatma Gandhis? Wird die Theologie der Zukunft die göttliche oder die menschliche Natur Christi in den Vordergrund stellen? Und selbst wenn er göttlich war, entbindet dies die Kirchen von ihrer Pflicht zur Fürsorge für die Armen, die gegebenenfalls auch Frontstellung gegenüber ungerechten Bereicherungsmechanismen bedeutet? Sollte ein ferner transzendenter Gott weiter auf Kosten der Menschen und an ihnen vorbei verehrt werden? Oder bedeutet «Menschwerdung Gottes» nicht gerade, dass der hohe ethische Grundsatz der Nächstenliebe gleichsam auf die Erde herabgestiegen ist, um hier in unserem praktischen Unfeld konkrete Wirklichkeit zu werden?
Der Konflikt zwischen dem sozialreformerischen Priester Marco Arana und seinem konservativen Bischof Lázaro im peruanischen Cajamarca schwelt indes noch immer, und sein Ausgang ist offen. «Meine Mitarbeiter und ich sind zum Abschuss freigegeben», sagte Arana und fürchtet angesichts der Brutalität der Minenbetreiber und der mangelnden Solidarität der staatlichen und kirchlichen Machthaber um sein nacktes Leben. Der Würzburger katholische Theologieprofessor Elmar Klinger schrieb Bischof Lázaro denn auch einen gesalzenen Brief, in dem er ihn aufforderte, mehr Mut zu zeigen. «Seien Sie der Bischof der Kirche des Volkes Gottes in Cajamarca! Sie werden dadurch Nachteile erleben, aber sich Schätze im Himmel sammeln.»
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