Können Märchen Kriege verhindern?
Michael Endes Werk gilt als bessere Literatur des Genres Fantasy, dem auch weniger angesehene Werke angehören, darunter die populärsten Filme und Computerspiele. Kolumne.
Der Literaturwissenschaftler Hans-Heino Ewers interpretiert Endes Werk im Kontext der Psychologie C.G. Jungs und zeigt auf:
Ohne gesunde „Remythologisierungsprozesse“[1] landet eine moderne Gesellschaft im Krieg. Endes Unendliche Geschichte sei eine solche Remythologisierung – und damit eine Expedition in die Tiefenschichten der menschlichen Seele, zu denen man normalerweise keinen Zugang hat. Mythen und Märchen vermittelten diesen Zugang als „psychische Manifestationen, … welche das Wesen der Seele darstellen“ und heilen können. Endes Werk bewirke eine Zähmung des kollektiven Unbewussten und fördere damit den Frieden in der Welt – frei nach Jung, dem zufolge die Leugnung und Unterdrückung des Unbewussten zu „psychischen Reaktionen“ führe, die sich zu „wirklichen daseinsbedrohenden Gefahren“ und „politisch-sozialen Wahnbildungen“ auswachsen könnten:
„Der Erste Weltkrieg mit seinen Gemetzeln gilt Jung als Explosion und ‚Empörung der unbewussten destruktiven Kräfte der Kollektivpsyche‘. Der ‚Rationalismus des modernen Lebens‘ habe alles Irrationale entwertet und dadurch dessen unerlässliche Funktion ins Unbewusste geschoben. Von dort aus wirke es sich umso verheerender aus: ‚Denn dann muss das Individuum sowohl wie das Volk zwangsmässig das Irrationale leben …‘“, so Jung. „‘Die rationale Kultureinstellung‘“ münde „‚notwendigerweise in ihr Gegenteil, nämlich die irrationale Kulturverwüstung‘“. Ewers folgert daraus: „Mythologische Urbilder … dürfen nicht erstickt, sie müssen vielmehr wiederbelebt und bewusst ausgelebt werden.“ Ende komme dem von Jung formulierten „‘Bedürfnis nach Ausdruck und Formulierung dieser inneren, wortlosen Ereignisse entgegen‘“ und schlage „‘zwischen der bewussten und der unbewussten Welt‘ eine Brücke“.
Ewers will damit nicht zuletzt den Vorwurf des Anti-Modernismus abwehren, der Fantasy als Rückfall in vormoderne Werte kritisiert. Eine solche Lesart entspringe einer veräusserlichten Auffassung von Fantasy. Man wende deren Bilderwelten fälschlicherweise auf die Aussenwelt an, obwohl sie in Wahrheit Ausdruck des menschlichen Innenlebens seien. Werke wie diejenigen Endes seien im Gegenteil ein Weg, das Mythologische mit der Moderne in Einklang zu bringen. Die Unendliche Geschichte thematisiere dies auch explizit und sei „damit einzureihen in den Kontext der (kultur)philosophischen Diskussionen über die Grenzen neuzeitlicher Rationalität, über Entmythologisierungs- und Remythologisierungsprozesse, über die Chancen und den möglichen Gewinn einer Wiederherstellung archaischer Mythen bei gleichzeitiger Respektierung grundlegender Werte der Moderne.“
Ende sei überzeugt gewesen, „dass auch die Moderne noch zu den mythenschaffenden Menschheitsepochen … gehören könnte, wenn sie sich denn von ihrem einseitig rationalistischen Selbstverständnis zu lösen in der Lage wäre.“ Eine Reflexion über den Materialismus als Ursache des einseitigen Rationalismus fehlt bei Ewers – ein Mangel, da bekannt ist, dass Ende ein dezidiert spirituell denkender Mensch war. Inspiriert von Rudolf Steiner und ähnlichen Denkern betrachtete Ende Mythen als bildhafte Beschreibungen metaphysischer Realitäten. Die „grauen Herren“ in Momo etwa, die den Menschen die Zeit stehlen und eine kapitalistische Technokratie infiltrieren, müssen im Sinne Endes durchaus als Abbilder realer metaphysischer Wesen interpretiert werden, die hinter den Kulissen des äusseren Zeitgeschehens wirken und die Menschen von innen her manipulieren. Auch gemäss dieser Auffassung spielt sich – ähnlich wie bei Ewers' Fantasy-Interpretation gemäss Jung – der entscheidende Kampf im Innern ab, das jedoch nicht als bloss subjektive Binnenwelt, sondern als eine Realität betrachtet wird, die den ganzen Kosmos durchdringt. Ewers hingegen interpretiert die grauen Herren als blosse Allegorien psychischer und ökonomischer Prozesse.
„Endes Bezug zu Steiner habe ich von vornherein ausgeblendet“, gibt Ewers auf Anfrage zu – eine weit verbreitete Haltung unter Literaturwissenschaftlern. Marianne Wünsch, die zu okkultistischen Hintergründen von Fantasy forschte, erklärte den Grund, warum diese Hintergründe so wenig untersucht werden: „Die Literaturwissenschaftler haben schlicht und einfach keine Lust sich mit okkultistischen Theorien zu befassen.“ Aus wissenschaftlichen Gründen müsste jedoch genau das geschehen, um Fantasy ganz zu verstehen – und damit einem Autor wie Michael Ende gerecht zu werden.
Bearbeiteter Nachdruck aus „die Drei“ Nr.6/2011
Kontakt: freieakademie.info
[1] Dieses wie die folgende Zitate aus: Hans-Heino Ewers: ›Michael Ende neu entdecken – Was Jim Knopf, Momo und Die unendliche Geschichte Erwachsenen zu sagen haben‹, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2018, 280 Seiten, 16,90 EUR. Doppelte Anführungszeichen („‘…“‘) kennzeichnen Sätze von Jung, die Ewers zitiert.
Ingo Hoppe studierte Philosophie und Geschichte in Basel; seit 1999 als freier Journalist unterwegs. Die Universitätsreform (Bolognaprozess) verarbeitete er in dem Buch: Der freiheitliche Universitätsbegriff Wilhelm von Humboldts (fiu-verlag.com). Desweiteren veröffentlichte er über die Zukunftsvision des russischen Philosophen Wladimir Solowjew: Eine kurze Erzählung vom Antichrist (urachhaus.de). Aktueller Schwerpunkt ist die Erforschung spiritueller Inhalte in Filmen und Computerspielen (siehe ZP 145 Krieg der Götter und ZP 149 Ihr seid Götter). – Ingo Hoppe hält auf Anfrage Vorträge zu zeitgeschichtlichen, philosophischen und spirituellen Themen.
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