Der Tempel der Menschheit
Gigantisch, farbenfroh, unterirdisch: in Damanhur steht ein jahrelang geheimgehaltenes Kunstwerk von – im Wortsinn – grosser Tiefe. Ein weiterer Schnupperbeitrag aus dem neuen Zeitpunkt - und ein neuer Terra-Nova-Podcast im Gespräch mit Macaco Tamerice aus Damanhur.
Ich habe in meinem Leben etwa 30 Jahre in Gemeinschaft gelebt und etwa 100 Gemeinschaften besucht. In Damanhur war ich vor 25 Jahren zum ersten Mal. Die spirituelle Gemeinschaft in Norditalien beeindruckt durch ihre schiere Grösse (600 Menschen, die vor Ort leben), die liebenswürdige und farbenprächtige Gestaltung der Häuser und Wohnbereiche, die kreative Umgangsweise mit Konflikten und sozialen Problemen und das (völlig unitalienische) Organisationstalent.
Zum Programm gehörte auch der Tempelbesuch. Wir stiegen an einem unscheinbaren Ort eine Leiter in einen garagengrossen, unterirdischen Raum hinab und sagten höflich: Ach ja, schön!
Bis wir unterrichtet wurden, dass das keineswegs der Tempel sei. Sondern nur ein Vorraum, um möglicherweise kontrollierende Beamten abzulenken. Denn der Tempel war jahrelang geheimgehalten worden. (Und nach damaligem Baurecht in Piemont völlig illegal.)
Was wir dann betraten, war schlicht und einfach der Hammer! Von einem Saal ging es in den nächsten. Einer fantasievoller und farbenprächtiger als der andere. Hohe unterirdische Gewölbe von insgesamt 8.500 Kubikmetern Umraum, fünf Etagen und bis zu 72 Metern tief, alle verbunden durch einen Pfad mit Treppen.
Mosaiken in allen Farben. Skulpturen. Lichtspiele. Symbole aus Ägypten und allen möglichen anderen Kulturen. Üppige Darstellungen von Pflanzen, Tieren, Gottheiten – eine Traumwelt. Die sieben Haupträume symbolisieren auch die inneren Räume des Menschen, durch die man eine Reise durch das eigene Selbst erleben kann. Alle Räume sind durch Künstler der Gemeinschaft gestaltet worden.
Inzwischen bin ich mehrmals wiedergekommen und entdecke immer wieder Neues. Der legendäre «Tempel der Menschheit» wurde eine offiziell anerkannte Sehenswürdigkeit.
Wie habt ihr das geschafft – und warum habt ihr überhaupt damit angefangen? fragte ich Macaco Tamerice*, eine deutsche ehemalige Jazzsängerin, die vor 30 Jahren ihre Karriere beendete und nach Damanhur zog.
«Es begann 1978. Ich glaube, die Suche nach etwas Höherem, nach einem Sinn steckt in uns Menschen. Und die Gründer von Damanhur hatten das Bedürfnis, einen Ort zu haben, wo man sich dem Heiligen widmet, der ausserhalb des täglichen Lebens liegt.»
Oberto Airaudi – oder Falco Tarassaco* – aus der Nähe von Turin hatte gemeinsam mit anderen Konferenzen zum Thema paranormale Forschung abgehalten. Die Gruppe beschloss, ihrer Erfahrung Dauer zu geben. Eine Gruppe von zwölf Menschen erwarb schliesslich, nur 40 km von Turin entfernt, ein Gelände, wo sie die Gemeinschaft begannen. Die Idee der unterirdischen Tempel hatte Falco schon als Kind. Und so begannen sie eines Nachts zu graben.
«Am Anfang», so erzählt Macaco, «haben sie mit Spitzhacke und Schaufeln gearbeitet. Und es blieb bei der Handarbeit, mehr als pneumatische Hammer haben wir nie verwendet.»
16 Jahre lang wurde jede Nacht im Geheimen gebaut, mit viel Begeisterung. Damit die Nachbarn nichts davon mitbekommen, schleppten sie jede Nacht die ausgehobene Erde in Eimern und Säcken weg.
«In Piemont gab es damals keine Lizenzen für Untergrundbau», berichtet Macaco. «Die katholische Kirche war sehr stark und hielt uns für eine Sekte, deshalb haben wir uns keinerlei Chancen ausgerechnet. Wir hatten vor, den Tempel nach der Fertigstellung genehmigen zu lassen, wie es in Italien oft geschieht.»
Selbst viele Damanhurianer wussten nichts davon. Erst wenn man ihnen wirklich vertraute, wurden sie mit geschlossenen Augen in die entstehenden Tempel geführt.
Macaco: «Dann aber erpresste uns ein ehemaliges Mitglied von Damanhur. Er wollte Geld. Wir weigerten uns, und er zeigte uns an. Eines Tages kam die Polizei mit 40 Mann und drohte: Sagt uns, wo die Tempel sind, sonst sprengen wir den ganzen Felsen in die Luft.»
Die Behörden hatten vor, ihn mit Sand zuzuschütten, da sie Drogen, Waffen oder Schlimmeres erwartet hatten.
Macaco weiter: «Dann wurde der Magistrat in Begleitung von zwei Polizisten durch den Tempel geführt. Als er rauskam, hatte er Tränen in den Augen und sagte: `Jetzt weiss ich, wovon ihr sprecht. Ich werde euch helfen.´ Und das hat er sein ganzes Leben lang getan. Wir sammelten 100.000 Unterschriften. Ein Jahr später wurden die Tempel von der Institution des Staates Belle Arti in Rom zum Kunstwerk noch lebender Künstler erklärt und so geschützt. Unsere Freude war unbeschreiblich. Wir haben mit der Regierung zusammengearbeitet, um ein Gesetz zu schaffen für den Untergrundbau im Piemont.»
Was verlangt es Menschen ab, 16 Jahre lang heimlich mitzuwirken – schwere Arbeit, über die man nicht offen sprechen kann, von der man nicht weiss, ob sie jemals fertig wird – Nacht für Nacht, Jahr für Jahr für Jahr? Sie bildeten sich weiter – lernten zum Beispiel in der Schweiz über Stollenbautechniken, Lüftung und Sicherheitsmassnahmen.
Wenn das ein Einzelner vollbracht hätte, hätte ich gesagt: Genie und Wahnsinn. Aber eine ganze Gruppe?
Noch einmal Macaco: «Die Tempel der Menschheit sind ein Beispiel dafür, dass nichts unmöglich ist. Wenn du einen Traum hast, kannst du ihn auch erreichen. Und in Damanhur kannst du dabei auf die Solidarität und Unterstützung der anderen zählen.»
* In Damanhur geben sich die Gemeinschaftsmitglieder Namen von Tieren und Pflanzen – um so an die Verbundenheit mit allen Wesen hinzuweisen.
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Zum 6. Podcast «Aktivismus ist Leben» mit Martin Winiecki / Tamera.
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