Ärzte werden nie krank

Dass ich einem Arzt mein Leben verdanke, sagt im Grunde schon alles. Er hiess Doktor Glatthaar, und er wickelte mir in Sekundenschnelle die Nabelschnur vom Hals, als ich zur Welt kam. Ich bin ihm später nie mehr begegnet. Doch sein Name begleitet mich heute noch, denn mit ihm hat alles begonnen. Ich lebte!

«Erneut empfand ich, dass unser Arzt nicht wie wir war. An sich selber dachte er nicht. Nur an das Gebot der ärztlichen Hilfe.» Foto: Karolina Grabowska

Ich wuchs und gedieh, die ersten Jahre vergingen, aus dem Kleinkind wurde ein Kind, und ich entdeckte die Welt. Ich lernte, was ein Briefträger ist, was ein Polizist und ein Milchmann ist – und ich lernte auch, was ein Arzt ist. Der erste Doktor in meiner Kindheit war unser Hausarzt. Er war ein richtiger Landarzt, unterwegs von Patient zu Patient, immer etwas verspätet, immer in Eile, und ich sehe ihn heute noch vor mir, wie er grossgewachsen und raschen Schrittes ins Haus kam.

Schulzimmer

Bis Ende August hat die 5-Minuten-Podcast-Kolumne von Nicolas Lindt Sommerpause. Damit wir nicht auf seine Texte verzichten müssen, veröffentlicht der Zeitpunkt jeden Donnerstag ein Kapitel aus seinem Buch «Im Schulzimmer des Lebens».

Stärker noch als sein Bild allerdings ist mir sein Geruch in Erinnerung – der medizinische Äther, der aus der schweren schwarzen Arzneitasche stieg, die er mit sich brachte. Meistens kam er zu meiner Grossmutter, die im unteren Stock wohnte. Er setzte sich zu ihr ins Wohnzimmer, immer auf denselben Stuhl, und die Arzneitasche stellte er neben sich.

Sie war wie die Werkzeugtasche eines Elektrikers; und ich glaube mich zu erinnern, dass unser Arzt grosse Hände hatte, grosse und warme Hände, die er nicht nur zum Pillenverschreiben benutzte. Er fasste uns an. Er drückte, fühlte und prüfte, und er schlug mit dem Hämmerchen gegen das Knie.

Das war immer der Höhepunkt, wenn er sein Hämmerchen aus der Werkzeugtasche hervornahm. Ich weiss noch heute nicht ganz genau, wozu dieses Hämmerchen gut war, aber darauf kam es nicht an. Es war eine mystische Handlung. 

Unser Hausarzt, wenn er zu uns kam, war kein Besucher wie andere. Er war der Herr Doktor, und ich beobachtete, wie die Erwachsenen, meine Eltern und meine Grossmutter, genau befolgten, was er ihnen auftrug. Sie widersprachen ihm nie. Unser Hausarzt war eine freundliche, unfehlbare Autorität. Er stand höher als meine Eltern, höher als alle Erwachsenen, die ich kannte, er war kein gewöhnlicher Mensch.

Mit diesem Doktorbild bin ich aufgewachsen. Das Bild gefiel mir, es gehörte für mich zu einer Welt, die in Ordnung war, und ich fand es immer wieder bestätigt. Der Vater meines Schulkameraden zum Beispiel durfte seinen Wagen auch an Orten parkieren, wo Parkieren verboten war: Er durfte es, weil er Arzt war. Ebenso durfte er kostenlos mit seiner Frau ins Theater gehen: Weil er nebenamtlich Theaterarzt war. Ein Arzt, lernte ich, hat überall freien Zugang, ein Arzt ist immer willkommen. Und als ich einmal im Zug sass und ein Mann im Abteil nebenan einen Schwächeanfall erlitt, war die erste und einzige Frage, die durch den Waggon ging: Gibt es hier einen Doktor?

Ein Arzt war gefragt, niemand sonst. Worauf sich eine Frau ihren Weg durch die neugierig gaffenden Passagiere bahnte und sich als Ärztin vorstellte, um sogleich erste Hilfe zu leisten.

Diese Szene blieb in mir haften – zunächst sicher deshalb, weil eine Ärztin damals noch selten war. Doch vor allem machte mir Eindruck, dass die Frau, obwohl sie sich nicht im Dienst befand, ihr Stethoskop bei sich hatte. Ein Notfallköfferchen hatte sie auch. Sie war nicht nur Ärztin in ihrer Praxis, sondern überall, wo sie hinkam. Sie war es immer. Sie war Ärztin von Natur aus. 

Während mein Vater am Abend jeweils, nach seiner Heimkehr, von Arbeit und Geschäft nichts mehr wissen wollte, durften wir unseren Hausarzt jederzeit, sogar nachts anrufen, wenn es meiner Grossmutter schlecht ging. Einmal kam er tatsächlich um 3 Uhr morgens, und als ich seine Stimme hörte, erwachte ich. Die Stimme des Doktors klang so gut und beruhigend wie immer, und auch dies beeindruckte mich.

Obwohl er doch bestimmt müde war und zu Hause gern weitergeschlafen hätte, liess er sich nichts davon anmerken. Erneut empfand ich, dass unser Arzt nicht wie wir war. An sich selber dachte er nicht. Nur an das Gebot der ärztlichen Hilfe. So sah ich das damals. Es war ein Bild, das der Wirklichkeit, wie man weiss, nicht ganz entspricht, es war ein verklärendes Bild, das merkte auch ich eines Tages. Die Jahre der Kindheit verblassten – ich ent- deckte das kritische Denken. Die Zeit, in die ich geriet, war die Zeit der grossen Revolte, die Zeit, in der keine Autorität unangetastet und nichts verschont blieb.
Auch die Medizin nicht.

Das chinesische Gesundheitswesen fand ich auf einmal besser als das schweizerische Gesundheitswesen. Nicht aus medizinischen Gründen – von Akupunktur wusste ich damals noch nichts. Aber das Gesundheitswesen in China war sozialistisch. Der chinesische Arzt stand im Dienste des Volkes. Der Schweizer Arzt mit seiner privaten Praxis dagegen war für mich ein Kleinkapitalist, der sich auf Kosten der einfachen Leute bereicherte und mit der Pharmaindustrie unter einer Decke steckte.

Solche Ärzte gab es vermutlich. Es gab sie bestimmt. Aber damals machten wir keine Unterschiede. Für uns, die kritische Generation, waren alle Ärzte so. Einzig die Ärzte in den Spitälern entgingen der Strenge unseres Urteils. Nicht die Chefärzte natürlich – das war die Kumulation des Verwerflichen. Auf der Seite des Volkes standen, wenn überhaupt, nur die unteren Chargen, die Assistenzärzte. Bei ihnen handelte es sich gewissermassen um Werktätige, und als solche hatten sie letztlich die gleichen Interessen wie die Geschirrabräumerin im Spitalcafé.

Es war ein einfaches Weltbild, das wir uns zurechtgelegt hatten. Die ganz privaten Träume von jungen Ärzten – Träume nach einem Chefarztposten, Träume nach einer eigenen Praxis – sahen wir nicht. Private Träume interessierten uns nicht. Die Frage stellt sich natürlich, wohin ich mich selber begab, wenn mich der Bauch drückte. Zu unserem Hausarzt ging ich schon lange nicht mehr. Denn inzwischen wohnte ich in der Stadt, und da gab es die Poliklinik. Im Wartezimmer der Poliklinik sass der Professor neben dem Taxifahrer, der türkische Kellner neben dem mittellosen Studenten, der Obdachlose neben dem Bankbeamten: In der Poliklinik, da waren alle gleich, da zählte weder der Rang noch der Name.

Nicht einmal der Name – nach Nummern wurde man aufgerufen. Und warten musste man bis zu zwei Stunden. Aber das machte mir nichts, denn ich fühlte mich dafür ganz sozial. Ich fühlte mich wie in China. Auf die chinesische Art ging es weiter, wenn die Reihe dann endlich an mir war. Denn nicht nur ich, der Patient, war bloss eine Nummer – der Arzt ebenso.

Diesmal hiess er «Kabine 4». Ich betrat also Kabine 4, wo die Schwester mich einen Augenblick warten hiess. Die Kabine war eine von neun oder zehn weiteren Kabinetten, die alle gleich aussahen und nur durch Vorhänge voneinander getrennt waren. Die Einrichtung bestand aus der üblichen, mit einem weissen Laken bedeckten Pritsche, medizinischem Inventar und zwei Hockern. Mehr gab es nicht. Alles jedoch sehr modern und sehr sauber: Die medizinische Grundver- sorgung war bestens gewährleistet.

Nein – ich vermisste nichts. Und ich machte mir keine Gedanken darüber, dass zwischen Kabine 4 und dem Sprechzimmer des Hausarztes meiner Kindheit Welten lagen. Weit weg war es gerückt, das Doktorhaus in unserem Dorf, das getäferte Zimmer mit dem mächtigen Schreibtisch, das man stets etwas scheu und respektvoll betrat, das Zimmer mit dem vertrauten Geruch, den ärztlichen Utensilien und der voluminösen medizinischen Bibliothek, das Zimmer mit dem Blick in den Doktorsgarten: In Kabine 4 gab es das alles nicht. Nicht einmal ein Bild hing an der Wand. Kabine 4 genügte sich selbst. Und der Arzt, der sie nun betrat, war nicht der Doktor von damals, sondern ein unkomplizierter junger Kollege, der den Arztkittel offen trug und salopp auf mich zukam: «Schneider ist mein Name. Und Sie sind … –»

Er warf einen suchenden Blick auf die Karteikarte, die er bei sich hatte, und so half ich ihm und stellte mich vor. Und dann – dann beging ich den wohl grössten Verrat am Doktorbild meiner Kindheit. Ich erwiderte den Gruss, den der junge Arzt mir bot, mit den Worten: «Guten Tag, Herr Schneider».

Das sagte ich. Ich sagte «Herr Schneider», obwohl ich auf seinem Namensschild lesen konnte, dass er ein Herr Doktor war. Aber der Doktor wollte mir nicht mehr über die Lippen. Gleiche Rechte für alle.

Herr Schneider verzog keine Miene. Er war nicht beleidigt, sondern schien es sich fast schon gewohnt zu sein. Als ich ihn darauf ansprach, meinte er, ob ein Patient ihn Herr Doktor nenne, spiele für ihn keine Rolle. Seine Art war locker und doch kompetent, ich hatte keine Zweifel an seinem Können, und dass er sich nicht wie ein Arzt gab, gefiel mir gerade.

Besonders gut fand ich, dass er, während er mich untersuchte, meinte, er habe dieselben Beschwerden auch schon gehabt. Das erwähnte er einfach so. Er sagte, mit anderen Worten, dass auch er als Arzt manchmal krank sei. Die Demontage meiner Kindheit nahm ihren unaufhaltsamen Fortgang. Hatte ich nicht stets geglaubt, Ärzte seien vor Krankheit gefeit? Von unserem Hausarzt hatte ich nie gehört, er sei krank – immer war er zur Stelle gewesen, wenn wir ihn brauchten. Und Albert Schweitzer, der die Leprakranken in Afrika heilte, bekam selber nie Lepra. Wie oft hatte ich als Kind diese Bilder betrachtet: Der Urwalddoktor inmitten der Kranken und Siechen von Lambarene. Es waren Photographien gewesen von fast biblischem Ausdruck.

Doch selbst diese Bilder – sie hätten mir nichts mehr bedeutet. Ein Arzt war ein Mensch mit Magenweh und Migräne, ein Mensch wie seine Patienten auch, und hinter dem Nimbus seiner Berufung stand bloss ein Job. Dass der junge Doktor der Poliklinik den Arztkittel offen trug, war eine Botschaft, und sie lautete: Ich bin zwar Arzt, aber nur während der Arbeitszeit. Darunter trage ich Jeans. Darunter beginnt meine Freizeit.

Als ich die Klinik des Volkes das nächste mal aufsuchte, kam ich nicht zu Herrn Schneider. Vielleicht war er gar nicht mehr da. Ich kam zu Frau Vogt in Kabine 3 und das dritte Mal, zur Kontrolle, in Kabine 1 zu Herrn Burkhard. Beide trugen den Arztkittel offen, auch sie, und genau das entsprach mir. Höhere Wesen durfte es keine mehr geben in meinem Leben. So ging das einige Jahre. Meistens war ich gesund, und wenn ich es einmal nicht war, nahm ich die Dienste der Poliklinik in Anspruch. Für den Unterhalt und die gelegentliche Reparatur meines Körpers war ich dort am richtigen Ort.

Doch dann, eines Tages geschah etwas Merkwürdiges, etwas, mit dem ich absolut nicht gerechnet hatte. Ich wurde im Wartezimmer vergessen. Obwohl ich an diesem Tag einer der ersten gewesen war, sass ich zwei Stunden später immer noch dort, als der letzte. Das frustrierte mich. Es ärgerte mich, und vor allem fand ich es ungerecht. 

Im Rückblick betrachtet war es ein Zeichen: In der gerechtesten aller Kliniken, an einem Ort, wo es für niemanden Privilegien gab – andere privilegiert zu sehen. Das vergass ich nicht so
schnell. Andere Einsichten kamen hinzu. Mein Weltbild veränderte sich mit den Jahren, ich fand zu mir selbst – und ich zog aufs Land. Auf dem Land gab es keine Poliklinik. 

Und so folgte der Tag, an dem ich zum ersten mal wieder eine private Praxis betrat. Es war die Praxis einer Frau, einer Allgemeinärztin, und es war eine schöne und sehr neuzeitlich eingerichtete Praxis. Ich wurde ins Wartezimmer geführt, und als ich da sass und Zeit zum Nachdenken hatte, machte ich eine interessante Feststellung. Ich stellte fest, dass ich mich nicht zurücksehnte nach den Wartesälen der Klinik des Volkes. Hier gefiel es mir besser; hier würde man mich garantiert nicht vergessen, und vor allem: Hier nannte mich die Arztgehilfin beim Namen. Obwohl ein Name niemals so gleichberechtigt ist wie eine Nummer, zog ich es vor, meinen Namen zu hören.

Dann stand ich im Sprechzimmer, und das erste, was ich sah, war der Blick in den Garten. Es war ein anderer Garten als damals, und doch, da war er wie- der – der Doktorsgarten, der mit seinen Blumen, kiesbestreuten Wegen und Hecken zu einer Ordnung gehörte, die ich kannte. Auch das Sprechzimmer selbst war ein anderes, aber ich wusste sofort, ich hatte gefunden, was ich suchte. Alles war da, was es braucht, Instrumente, Arzneien, Bilder von Heilpflanzen, Nachschlagewerke, die Werke des Paracelsus – und in der Mitte ein Schreibtisch, viel zu markant für die medizinische Grundversorgung, ein altehrwürdiger Praxisschreibtisch, auf dem Notizen lagen, Rezepte, stapelweise medizinische Hefte, ein aufgeschlagenes Anatomie- buch: Es war das Sprechzimmer, so empfand ich, eines Menschen, der Arzt ist mit Leib und Seele, es war ein Sprechzimmer für den Leib und die Seele.

Und dann erschien durch die Nebentüre die Ärztin, in deren Reich ich mich aufhielt. Ich schätzte, sie war etwa 50, von angenehmer Erscheinung, und sie hiess Baumgartner. Sie begrüsste mich – und in diesem Moment war mir klar, dass die Zeit reif war für ein Bekenntnis. Ich stand vor dieser Ärztin und wusste, dass ich nicht Frau Baumgartner zu ihr sagen würde. Denn die Haltung, mit der sie mir gegenübertrat, diese Haltung aus Sachlichkeit und Barmherzigkeit zeigte mir: Sie war eine echte Doktorin, sie wollte es sein, und ich sagte Frau Doktor.

Dass auch Ärzte nur Menschen sind – ich wusste es längst. Aber ich hatte nicht das Bedürfnis, dass sie gleich war wie ich.

Sie war eine Ärztin, und ich wollte an sie glauben.