Die Wahren Konservativen

«Wirklich fortschrittlich zu sein, bedeutet heute, konservativ zu sein.» Klingt kühn! Die neu gegründete Partei «Die Wahren Konservativen» (DWK) errang bei der Landtagswahl jedenfalls einen Achtungserfolg. Sind die Mannen um Parteichef Giselher Bleibtreu nur technikfeindliche Besitzstandswahrer, wie ihre Gegner meinen? Oder treffen sie den Nerv einer Zeit, die unter Entfremdung und Beschleunigung stöhnt? (Interview: Roland Rottenfusser)

Herr Bleibtreu, es ist ja nicht unbedingt originell, etwas bewahren zu wollen. Die Grünen wollen die Umwelt bewahren, die Linken die Besitzstände der Arbeitnehmer. Warum glauben Sie, dass Ihre Partei trotzdem gebraucht wird?



Für uns ist es ein Lebensgefühl, das viele Lebensbereiche berührt, nicht nur den Umweltschutz. Schauen Sie, fast jeder fühlt sich in einem historischen Stadtkern wohler als in modernen Hochhaus-Silos. Viele kleine Läden mit persönlicher Beratung im Quartier sind schöner als ein monströses Einkaufszentrum am Stadtrand. Alte Kirchen, Burgen und Fachwerkhäuser faszinieren uns. Die Atmosphäre eines Botanischen Gartens mit vermoosten Statuen und alten Eichen – jeder spürt, dass daran etwas stimmig ist, was in der modernen Welt nicht mehr stimmt. Konservativ ist aber auch die Bewahrung von altem Saatgut, der Verzicht auf Pestizide, die alte geflochtene Einkaufstaschen, die wir statt Plastiktüten verwenden oder die überlieferten Kräuterrezepte statt Antibiotika. Verbündete haben wir in vielen Bewegungen. Die nennen sich nur nicht «konservativ».



Ihre Bezeichnung «Die Wahren Konservativen» suggeriert, dass es auch falsche gibt.



Ja. Genau genommen gibt es Konservative als politische Kraft heute gar nicht mehr. Wenn Politiker irrtümlich so bezeichnet werden, sind es entweder Rechtsradikale oder Neoliberale, also technokratische Modernisten.



Bestreiten Sie etwa, dass Sie eher rechts sind?



Entschieden! Nehmen wir das Thema Ausländerfeindlichkeit: Migranten sind entweder per Einbürgerung Vollmitglieder unserer Gemeinschaft, oder es sind Gäste. In beiden Fällen verlangt es die Ehre, ihnen mit Respekt und Freundlichkeit zu begegnen. Daher finden Sie in unserem Programm nichts von Fremdenfeindlichkeit. Wir sind gegen eine globale Einheitskultur, die uns assimilieren will wie ein Borg-Raumschiff bei «Star Trek». Viele in unserer Partei beschäftigen sich mit den traditionellen Kulturen anderer Völker: Ich selbst lerne z.B. gerade Arabisch. Die Vielfalt ist konservativ, der Einheitsbrei modernistisch.



Und Politiker wie Merkel, Berlusconi oder Bush würden Sie nicht als Konservative durchgehen lassen?



Um Gottes willen, das sind eher Karikaturen des Konservativismus. Die bedienen aus purer Berechnung einen militaristisch-autoritären Randbereich unseres Spektrums. Sie fordern harte Strafen für Verlierer der Systeme, die sie selbst geschaffen haben. Sie marschieren in Länder ein, die ihnen nichts getan habe und grüssen mit gespielter Ergriffenheit den Fetisch der Nationalflagge. Nein, danke! Der Konservative bewahrt zunächst sich selbst, und das ist unvereinbar mit einem Bild des Menschen als Ware. Konservativ zu sein heisst vor allem, die Macht des Kommerziellen zu brechen. Es ist die Lebenslüge der so genannten christlichen und bürgerlichen Parteien, dass sie dem Ökonomismus ihre Seele verkauft haben, zugleich aber mit dem Begriff «konservativ» hausieren gehen. Ihr Dogma, der Neoliberalismus, zerstört Heimat und Familie, Ehre und Vertrauen.



Geht’s auch weniger pathetisch?



Konservativsein hat auch etwas mit Emotionalität zu tun, die noch nicht unter Sachzwängen vergraben ist. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurden viele Menschen entwurzelt. Sie mussten ihre ländlichen Regionen verlassen und fanden sich in einer Stadtlandschaft von unfassbarer Hässlichkeit wieder. Das hat Millionen von Menschen das Rückgrat gebrochen. Sie verloren das Gefühl dafür, was ihnen gut tut und was nicht. Im Kommunikationszeitalter kommt ein massiver Verfügbarkeitsdruck dazu, der Zwang zu unbegrenzter Flexibilität. Für die Karriere muss man jederzeit bereit sein, Familie, Freunde und gewohnte Umgebung zu verlassen. Nichts gegen Reisen, aber man braucht einen Ort, zu dem man heimkehren kann



Wenn ich Sie höre, denke ich an Trachtenvereine und den sonntäglichen Kirchgang.



Mein Begriff von «Heimat» ist umfassender. Arbeitnehmern gönnt man heute nicht einmal ein eigenes Zimmer mit Wänden, die sie mit ihren eigenen Bildern schmücken können. Sie loggen sich heute hier, morgen dort ein und durchstreifen wie Nomaden die beruflichen Menschlichkeitswüsten. Die moderne Welt, das sind Grossraumbüros oder Grossraumabteile voll piepsender Handys und plappernder Wichtigtuer.



Gute Detailbeobachtungen, aber noch kein politisches Programm.



Der Berufsalltag ist politisch. George Orwell erzählt von einem System, in dem es keine Solidarität mehr gibt ausser zum Grossen Bruder. Der Grosse Bruder von heute, das sind die Machtkartelle des Turbokapitalismus: Grosskonzerne, Banken und willfährige Medien. Entwurzelte Menschen sind leichter manipulierbar, deshalb versuchen die technokratischen, Eliten alles Konservative zu ironisieren. Genauso schlimm ist aber der Wachstumszwang. Dahinter steckt die Dynamik des zinsbasierten Geldes. Wachstumszwang bedeutet Veränderungszwang, und heute wächst das Tempo der Veränderung mit der Dynamik einer Exponentialkurve.



Was ist daran so schlimm? Wollen sie den Status Quo auf ewig einfrieren?



Nein, Entwicklung ist unvermeidlich und oft auch gut. Aber das Tempo der Veränderung muss sich den Menschen und ihren Bedürfnissen anpassen, nicht umgekehrt. Heute haben wir es geradezu mit einem Innovationsterror zu tun.



Jetzt übertreiben Sie aber!



Keineswegs: Konservativ zu sein bedeutet, die Zufriedenheit des Einzelnen und der Gemeinschaft als Ziel wirtschaftlichen Handelns anzuerkennen. Dazu braucht es die Freiheit, einen Lebensstil zu verwirklichen, mit dem die Seele atmen kann. Für viele bedeutet das: ein genügsames Leben ohne Hetze, erfüllende menschliche Beziehungen und eine gesunde Balance von Leben und Arbeiten. Leider gelten zufriedene Menschen aber heute als Feinde einer florierenden Wirtschaft. Sie weigern sich, den Herstellern von technischem Schnickschnack als Zielgruppe zur Verfügung zu stehen.



Aber gerade jüngere Leute sind fasziniert von technischen Innovationen und informieren sich freiwillig.



Das Problem ist nicht, dass es Computerbastler gibt, sondern dass sie unsere Epoche zunehmend dominieren. Anfang des 20. Jahrhunderts war der Soldat das prägende Leitbild einer ganzen Kultur: Heute befinden wir uns in der Hand von jungen Computer-Schnöseln. Wir verbrauchen viel Zeit und Energie, um mit Hilfe von Technologien Probleme zu lösen, die ohne sie gar nicht entstanden wären.



Aber es hilft doch nichts, auf den Jugendlichen herumzuhacken. Die Regeln, nach denen sie spielen, wurden von Älteren gemacht.



Richtig, auch die Jungen sind nur Opfer von Manipulation. Damit sind wir bei einer Kernthese meiner Partei: Es gibt in einer Gesellschaft normalerweise ein Gleichgewicht von progressiven und konservativen Kräften. Der Kommerz hat dieses Gleichgewicht zerstört, zugunsten einer Diktatur des Fortschritts. Kleider, die zehn Jahre halten, oder Drucker, die 20 Jahre funktionieren, stören die Vermarktungsabsichten der Konzerne. Ein Gedichtband von Rilke, der die Seele über Jahre erfüllt, stört, weil er den Kauf unzähliger Modemagazine unnötig macht. Fortschritt ist ein Tarnbegriff, der die wahre Antriebskraft des Ökonomismus maskiert: den Profit. Wie wenig den Neoliberalen an wirklichem Fortschritt gelegen ist, sieht man daran, dass nützliche Innovationen verzögert werden. Elektroautos z.B. sind noch nicht serienreif, weil eine ehrlose Benzinlobby das verhindert.



Bei Ihnen ist jedes zweite Wort «Ehre». Da wundern Sie sich, wenn man Sie als reichlich altbacken wahrnimmt!



Ja, man hört den Begriff heute kaum mehr – ausser im Zusammenhang mit Ehrenmorden. Genau daran krankt ja unsere Gesellschaft. Ehre ist, was unser Leben lebenswert macht, weil das Gesetz immer nur eine Annäherung an wünschenswertes Verhalten erzwingen kann. Du kannst im Gefängnis sitzen, weil du höchst ehrenhaft gehandelt hast. Du kannst aber auch in Freiheit sein, reich und hoch angesehen, und ein Lump. Ein Manager, der für höhere Renditen die Mitarbeiter entlässt, denen die Aktionäre ihren Reichtum verdanken, hat seine Ehre verloren. Er müsste gesellschaftlich geächtet werden, bis er den Schaden wieder gut gemacht hat.



Wenn es ein Verbrechen ist, seinen eigenen Vorteil zu suchen, sind wohl 99 Prozent der Menschen für Sie ehrlos!?



Ehre heisst, aufgrund von Weisheit und Gemeinschaftsgeist freiwillig auf Vorteile zu verzichten. Es bedeutet, Menschen auch dann gut behandeln, wenn sie nicht die Macht haben, uns andernfalls zu schaden. Wir haben im Landkreis einen kleinen Bio-Hühnerhof. Die Bäuerin lässt die Tür zum Eierlager offen und legt ihren Kunden vertrauensvoll ein Portemonnaie hin, um zu bezahlen. Es wäre leicht möglich, Eier und Geld zu stehlen. Aber es wäre unehrenhaft, verstehen Sie?



Natürlich.



 Im Film «Zeiten des Aufruhrs» gibt es einen schöne Satz: «Im Grunde wissen wir immer, was die Wahrheit ist, egal wie lange wir ohne sie gelebt haben.» Das gilt auch für die Ehre. Ihre Grundregeln kennt jeder in einem vergessenen Winkel seiner Seele. Wir treten nicht auf einen Schwachen ein, der am Boden liegt, wir helfen ihm auf. Wir veruntreuen kein Geld, das uns anvertraut ist, selbst wenn wir vor dem Gesetz damit durchkommen. Wir suchen einen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen, anstatt wie ein kleines Kind andauernd «Ich!» zu schreien. Wir stehlen die Ernte nicht von dem, der für sie hart gearbeitet hat. Wir verkaufen die Menschen, die uns vertrauensvoll zu ihren Vertretern bestellt haben, nicht für Geld an Dritte. Sehen Sie, worauf ich hinaus will? Unser politisches und ökonomisches System hat längst seine Ehre verloren.



Das sind starke Worte!



Richtig verstandene Ehre ist etwas, wonach sich viele Menschen verzweifelt sehnen. Es bedeutet, vertrauen zu können und sich selbst als vertrauenswürdig zu erleben. Als Erwachsene haben wir durch bittere Erfahrung gelernt, dass wir misstrauisch sein müssen, weil Ehre unserem Gegenüber nichts bedeutet. Wenn wir eine Geschäftsbeziehung eingehen, erwarten wir vom Anderen nichts anderes, als dass er uns übervorteilt, wo er kann. Fast jeder agiert nach dem Motto: «Ich nehme von dir, was ich kriegen kann, solange ich glaube, dass du dich nicht wehren kannst.» Firmen und Staat scheinen Tag und Nacht damit beschäftigt, Tricks zu ersinnen, wie sie uns immer weniger geben und dafür immer mehr nehmen können. Jeder kennt Beispiele: Mogelpackungen, gepanschtes Essen, Abzocker-Hotlines mit Endlos-Warteschleife, erzwungene Selbstbedienung statt Service, die Schliessung der Stadtbücherei bei gleichzeitiger Erhöhung der Parkgebühren …



Glauben Sie, dass Moralpredigten das ändern können?



Moral kann einen Systemwechsel nur ergänzen, nicht ersetzen. Ich habe schon angedeutet, dass der Wachstumszwang abgeschafft werden muss. Wir brauchen ein am Gemeinwohl orientiertes Wirtschaftssystem, basierend auf einem Geld ohne Zins. Um die Gier als psychologischen Motor der Zerstörung zu stoppen, brauchen wir neben den Mindestlöhnen auch Höchstlöhne. Wenn es nicht mehr so viel zu gewinnen und zu verlieren gibt, lässt der seelische Druck nach, der uns zerreisst. Wenn wir wollen, dass Firmen uns Kunden nicht mit Wegwerfprodukten und Serviceabbau quälen, müssen wir ihnen den Existenzdruck nehmen. Das bedeutet weniger Konkurrenz, kostenlose Kredite, notfalls finanzielle Förderung durch die Gemeinschaft. Den öffentlichen Kassen und gemeinwohlorientierten Unternehmen muss also mehr Geld zur Verfügung stehen. Und das kann nur von denen kommen, die sich zu viel davon angeeignet haben.



Das klingt eher nach der extremen Linken als nach einer konservativen Partei.



Weil wahre Sozialisten, wahre Unweltschützer und wahre Konservative viel gemeinsam haben: die Vision eines guten Lebens, Fairness gegenüber allen Mitgeschöpfen und eine natürlichen Ordnung, die ungesunde Extreme meidet. Trotzdem haben wir unsere Partei «konservativ» genannt, weil diese Farbe im Spektrum am schmerzlichsten fehlt. Konservativ zu sein heisst heute, traurig und wütend zu sein, weil mächtige Kräfte mutwillig zerstören, was an unsere Welt liebenswert war. Wir Wahren Konservativen fordern die Menschen auf, sich den Abrissbirnen in den Weg zu stellen. Fortschritt bedeutet nicht, die Menschen zu zwingen, TAN-Nummern in Handys zu tippen, es meint eine tatsächliche Verbesserung der Lebensumstände vieler Menschen. Wirklich fortschrittlich zu sein bedeutet folglich heute, konservativ zu sein.