Mit dem Kopf durch die Not

Wie eine junge afrikanische Frau die Traditionen ihres Volkes umbaut

Als sie sechs Jahre alt war, besass ihre Mutter absolut nichts. Mit elf ertrotzte sie sich den Schulbesuch und kämpfte gegen eine Zwangsverheiratung. Siebzehnjährig musste sie sich sechs Monate in einer Höhle verstecken. Heute macht Mercy Kiyapyap als stellvertretende Leiterin eines Projektes der Schweizer Stiftung BioVision anderen Menschen ihres Stammes Mut.

bwohl ich wusste, dass sie erst 26 Jahre alt ist, hatte ich sie mir gesetzter vorgestellt. Ernster, vielleicht sogar gezeichnet. Es war mir ja bekannt, was sie schon erlebt hatte. Doch die junge Frau, die mir mit leichtem Schritt entgegenkommt, lässt nicht an eine schwierige Lebensgeschichte denken. Über das ganze Gesicht strahlend, gibt mir Mercy Pkeo Kiyapyap die Hand. Sie wirkt weltgewandt, als hätte sie schon Hunderte von Interviews gegeben – dabei hat sie vor wenigen Tagen zum ersten Mal im Leben ihr Land verlassen.
Mercy lebt in West Pokot, einem der trockensten und ärmsten Gebiete Kenias. Das Volk der Pokot zählt rund 310‘000 Menschen. Sie führen, weitgehend auf sich alleine
gestellt, einen täglichen Kampf gegen schwierigste Lebensbedingungen: knappe Wasserressourcen, Krankheiten, fehlende Infrastruktur und mangelnde Bildung. «Ich sah die verzweifelte Lage, in der wir alle steckten», antwortet Mercy auf die Frage, was sie als Mädchen bewogen habe, für ein besseres Leben zu kämpfen. «Ich wusste, dass sich alles wiederholen würde, wenn ich wie meine Mutter jung heiraten und nicht zur Schule gehen würde.» Tatsächlich waren
Mercys Zukunftsaussichten trostlos. Ihr Vater war gestorben, als sie sechs Jahre alt war. Dessen Bruder vertrieb Mercys Mutter mit ihren sechs Kindern, um das Haus, die Rinder und Ziegen an sich zu nehmen. «Bei uns dürfen Frauen nichts besitzen. Die wenigsten Pokot-Mädchen gehen zur Schule, Die meisten werden sehr jung, zum Teil schon mit elf verheiratet, je jünger, desto höher der Brautpreis. Dann müssen sie arbeiten und Kinder gebären.» Mercy sah keine Chancen in diesem Lebensentwurf: «Mir war klar, dass die Schule der einzige Ausweg aus der Armut war,» erklärt sie und fügt an: «Aber meine Mutter hat mich drei Monate lang jeden Abend geschlagen, wenn ich von der Schule heimkam.»
Den letzten Satz hat Mercy in leichtem Ton ausgesprochen, so als wäre nichts dabei, Abend für Abend verprügelt zu werden. Mir wird klar, dass Mercy Verständnis für die damalige Reaktion ihrer Mutter hat. Ein Ausbruch aus der traditionellen Frauenrolle stellte tatsächlich ein Risiko dar. Noch heute sind Mädchen mit Schulbildung auf dem Heiratsmarkt weniger wert. Und für unverheiratete Frauen gibt es kaum Lebensperspektiven. Ich betrachte die lebhafte Frau in Jeans und rotem Sweatshirt. Kaum zu glauben, dass sie vorgestern zum ersten Mal in ihrem Leben einen Zug gesehen hat. «In diesen Kleidern könnte ich in Pokot nicht herumlaufen,» lacht sie. «Dort kleide ich mich traditionell, so können mich die Männer besser akzeptieren.»

Der Entschluss zur Veränderung
Das Schulgeld erarbeitete sich Mercy, indem sie Tomaten, Mais und Bohnen anpflanzte und auf dem Markt verkaufte. Bald hatte sie genug Geld, um zwei Ziegen und ein paar Hühner zu kaufen. «Mein Ziel war es, auch Tiere auf dem Markt zu verkaufen und das ist mir auch gelungen. Nur so konnte ich die Uniform, Hefte und Bücher bezahlen.»
Die grosse Armut und die Wasserknappheit in West-Pokot führen immer wieder zu Konflikten zwischen benachbarten Stämmen. 1997 wurde Mercy nach einem bewaffneten Überfall aus ihrem Dorf vertrieben. Zusammen mit der Mutter und den jüngeren Geschwistern versteckte sie sich während der bürgerkriegsähnlichen Unruhen sechs Monate lang in einer Höhle. «Damals beschloss ich, mich für Veränderung einzusetzen. Ich wollte, dass das Töten aufhört und die Menschen friedlich zusammenleben können.» Mercy
nahm Kontakt auf zu lokalen Hilfswerken. Mit Übersetzungsarbeiten brachte sie das Geld für die Secondary School zusammen. Danach besucht sie das College in Kobujoi, das sie mit einem Diplom in Sozialarbeit abschloss.
Auf dem Tisch liegen Fotos: ein Kind vor einer Hütte mit Strohdach, Frauen in der Kleidung der Pokot, um den Hals den grossen tellerförmigen Kragen. Mercy wird eine solche Tracht tragen, wenn sie am letzten Tag ihres Aufenthaltes in Zürich im Volkshaus auf die Bühne tritt. Dann wird sie als stellvertretende Leiterin des Projektes ‚Cabesi’ der Stiftung Biovision (s. Kasten) dem zahlreich erschienenen Publikum erklären, warum es wichtig ist, ihr Volk zu unterstützen. Niemand weiss besser als Mercy, wie viel Veränderung mit ein bisschen Hoffnung möglich ist.

Trotz Mühsal positiv denken
«Ich spreche mit meiner Arbeit vor allem Frauen an. Wir zeigen ihnen, wie sie mit einfachen Methoden die traditionelle Honigproduktion verbessern können. Dadurch erzielen sie bessere Erträge und werden von den Männern ernst genommen.» Damit der Honig zu den Marktplätzen gebracht werden kann, mussten die Pokot lernen, das Kamel als Lasttier zu nutzen. Einzelne Männer wurden zu Trainers in Kamelhaltung ausgebildet, damit sie ihrerseits das Wissen weitergeben konnten. Auch diese Arbeit verschaffte Mercy Respekt. «Die Leute schätzen mich aber auch, weil ich nach dem Studium wieder zurückkam. Sie realisieren, dass mir das Wohl der Gemeinschaft das Wichtigste ist.»
Ganz am Schluss des Gespräches erwähnt Mercy, dass sie im täglichen Kontakt mit den Menschen in den Dörfern vermehrt die Problematik der Genitalverstümmelung zur Sprache bringt: «Wir müssen auch den Männern klar machen, was sie ihren Töchtern mit der Beschneidung antun. Hier muss ein grosses Umdenken stattfinden.» Keine leichte Aufgabe. Findet sie das Leben und ihre Arbeit in West-Pokot manchmal nicht sehr mühselig? «Es ist sehr hart,...» Zögern – und dann wieder dieses mitreissende Strahlen, «...aber wir denken positiv und wir kommen vorwärts.»
25. April 2007
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