Der Wunsch nach freier Liebe

Intimität als Menschenrecht?

Dezember, Vortragsreise, jeden Abend eine andere Stadt, jede Nacht ein anderes Bett. Ich lerne jede Menge interessanter Menschen kennen, aber nach zwei Wochen lechze ich nach Intimität. Genauer gesagt: Ich möchte von einem nackten Mann in die Arme genommen werden! Jetzt ist es raus. Ich bin bereit, das zum Menschenrecht zu erklären. Fast kann ich Geschäftsreisende verstehen, die fremde Frauen fürs Zuhören und für Sex bezahlen. Aber mal ehrlich, welche Art von Intimität kriegst du schon für Geld?


Da pflege ich lieber wohlig die eine oder andere Fantasie. Zum Beispiel könnte meine Gastgeberin von den Bräuchen der Beduinen inspiriert sein und sagen: «Ich sehe dir an, du könntest einen Mann gebrauchen. Mein Freund hätte sicher Lust, dich zu verwöhnen, soll ich ihn mal fragen?»


Sie kocht mir wunderbares Essen, legt mir frische Handtücher hin und lässt mich ihr Duschgel benutzen. Aber auf die Idee, mir ihren Freund anzubieten, kommt sie nicht. Warum eigentlich nicht? Ich würde ihn sicher nicht behalten, und die Erfahrung könnte ihrer Beziehung durchaus neue Impulse geben. Was für eine neue Reisekultur das wäre!


Was wäre, wenn die Liebe frei wäre? Wenn wir weder Angst vor Verlust hätten noch Angst vor der Rache des Geliebten? Wenn wir der Liebe folgen dürften, nicht nur beim Nächsten, sondern auch dem Übernächsten: dem neuen Nachbarn, der Chefin, deinem Lieblingsschüler oder dem Freund deiner besten Freundin? Denn genau das ist es, was die Liebe will, auch die erotische: Sich verschenken, sich verausgaben, die Welt umarmen.


Warum eigentlich definieren die meisten Paare Treue immer noch als sexuelle Ausschließlichkeit? Sie schwören sich bedingungslose Liebe – bis zu dem Punkt, wo der Partner sich für eine andere interessiert. Dann schwören sie sich Rache. Schon Elizabeth Taylor durfte über ihren Gatten sagen: «Wenn er fremdgeht, bringe ich ihn um!» Und alle bekamen feuchte Augen bei dem Gedanken, dass das nun die echte große Liebe sei.


Als Gandhi-Fan (ihr wisst schon: «Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst!») habe ich bei mir selbst angefangen. Naja, es waren anfangs nicht sehr edle Beweggründe. Als mein Freund sich in eine andere verliebte und mich verließ, war Wut die erste Reaktion. Allerdings lebe ich in einem menschlichen Umfeld, das dies nicht begünstigt. Meine Freundinnen bekamen keine feuchten Augen, sondern sagten: «Ja, also was jetzt? Liebst du ihn nun oder nicht?»


Ihr ausbleibendes Mitleid war ein Wachrüttler, und ich entschied mich zu einem Experiment. Was geschieht, wenn ich bei der Liebe bleibe, komme was da wolle?


Die «Liebesschule» in Tamera hat mir dabei stark geholfen. Ich schüttelte entschlossen die Identifizierung mit der Sitzengelassenen ab, wollte erfahren, wer die andere Frau ist, in die er sich so verliebt hatte, stieg behutsam in ein neues Universum, entdeckte, erkannte, verstand. Liebe beginnt mit Interesse. Ich will keine Partnerschaft, die auf Verträgen oder Druck beruht, sondern auf Wahrheit und Freiheit; und ich lernte ein kleines bisschen mehr, dem Prinzip der Liebe zu vertrauen: Dort wo ich wahr werde, ziehe ich auch Liebe in mein Leben.


Es war eine Entdeckung meiner Autonomie: Niemand anderes, keine Umstände, kein anderer Mensch kann darüber entscheiden, ob ich liebe oder nicht. So kam es, dass die Liebe in meinem Leben – auch die zu meinem Freund – nicht schwand, sondern wuchs.


Sabine Lichtenfels, für mich die wichtigste Lehrerin im Bereich der Liebe, schreibt: «Wie jedes Lebewesen wollen Liebe und Eros Freiheit, um sich ihrem Wesen gemäß bewegen zu dürfen. Die Liebe zwischen zwei Menschen wird nicht weniger dadurch, dass wir uns auch anderen zuwenden, sondern sie wird sich vermehren.»


Was wäre, wenn die Liebe frei wäre? Wenn wir Lebensformen aufbauen, wo es nicht gleich den Verlust unseres Selbstwertgefühls, unserer Wohnung, unseres Umfeldes bedeutet, wenn wir ihr folgen? In denen sich die Frauen vertrauen und gegenseitig unterstützen, selbst wenn sie den gleichen Mann – oder die gleiche Frau – lieben? In denen wir lernen, so zu kommunizieren, dass keine Verlustangst entsteht, sondern Vertrauen?


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Leila Dregger ist regelmässige Zeitpunkt-Autorin und lebt im portugiesischen Ökodorf Tamera, wenn sie nicht in der
Welt umherzieht.


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