Plädoyer für eine Neutralität der Besonnenen

Warum das westliche Grossmachtdenken die Probleme verschärft, statt sie zu lösen. Wie wäre es, wenn sich die Schweiz künftig für Frieden und Ausgleich einsetzt? Zweiter von drei Teilen.

Foto: Odin Aerni

(Der erste Teil der Serie erschien am Samstag und kann hier gelesen werden.)

Wagen wir einen Blick ins Auge des Zyklons. Denn so ausgerüstet kommen wir derzeit in der Schweiz alle – reich und arm, wenn auch zu ungleichen Teilen – in den Genuss eines grenzenlosen Zugriffs auf die globalen Ressourcen. Ein Zugriff, den sich vermutlich die Mehrheit der Menschen wünscht, ein Zugriff, der aber zwangsläufig – auch anderswo und oft weit entfernt - mit unökologischer Bewirtschaftung und schwindenden Ressourcen zusammengeht.

Besonnene Alt- und NeuschweizerInnen wissen: Das system- und strukturblinde Moralisieren, das derzeit im Schwange ist, verdeckt die geostrategisch entscheidenden Interessen. Das, wozu der Kapitalismus laufend gezwungen ist: 
• neue Märkte zu erobern
• neue Investitionsmöglichkeiten zu ergattern oder zu erstreiten
• den Zugang zu Rohstoffen, seltenen Erden zu erschliessen oder zu kontrollieren.
Eine Dynamik, die, wie die globalen Ungleichgewichte, direkt mit der grenzenlosen Wachstumswirtschaft verbunden ist.

Zugegeben – die Sache ist ambivalent: Der Westen hat mit seinem Wirtschaftssystem die Industrialisierung, die Wissenschaft, die weltweite Mobilität, das weltweite Netz ermöglicht und vielen Menschen ein besseres und längeres Leben gebracht. Ein Wirtschaftsmodell, das inzwischen von den meisten nicht-westlichen Staaten übernommen wurde: Sie hatten die Wahl – entweder erfolgreich mitzumachen.... oder unterzugehen.
Nur hat der Westen bereits vor 500 Jahren damit begonnen, sich die Restwelt zu seinem Vorteil zuzurichten und zu unterwerfen: durch Eroberung, Kolonialisierung, Sklaverei, Ausbeutung, Fremdherrschaft. Der Westen hat bereits zwei Weltkriege angezettelt und er scheint nicht zu zögern, einen Dritten zu entfachen.

Wir brauchen eine Wirtschafts-NATO die unseren Lebensstandard verteidigt. (Liz Truss)

 

Obwohl hauptverantwortlich für die Klimaerwärmung, die sinkende Biodiversität, die rasch wachsende Polarisierung zwischen Armen und Reichen, ist der Westen wild entschlossen, sich «seine» unipolare Welt zu erhalten und weiterzufahren mit seinem Titanic-Kurs. Kurz: 15% der Weltbevölkerung wollen dem Rest der Welt diktieren, wo’s lang gehen soll. Liz Truss – die einstige britische Aussenministerin – hat das im April 2022 bislang am klarsten formuliert: «Wir brauchen eine Wirtschafts-NATO die unseren Lebensstandard verteidigt.»

Kurz: das westliche Grossmachtstreben verschärft die Probleme statt sie zu lösen.
So kann es nicht weitergehen: Es reicht!

Auf der Basis der Neutralitäts-Initiative mit ihrem Besonnenheitspassus haben die offiziellen VertreterInnen der Schweiz mit Blick auf die grosse Welt künftig einen verfassungsmässigen Auftrag zu erfüllen:
• Sie haben dafür zu sorgen, dass Konflikte verstanden, verhindert, vermitteln werden können.
• Sie haben über- oder allparteilich zu intervenieren – eine grosse und wunderbare Herausforderung!
Die Schweiz und ihre offiziellen VertreterInnen nehmen künftig Partei für den Frieden und für den Ausgleich.

Und jetzt der Blick ins Innere der Schweiz.

Zuerst sei klargestellt: Als Privatpersonen können SchweizerInnen selbstverständlich auch künftig Partei nehmen und sich der Probleme in aller Welt parteilich annehmen. 
Als eine, die lebenslang mit Migrierenden und Flüchtenden in und aus aller Welt und an den damit verbundenen Schwierigkeiten gearbeitet hat, bin ich aber seit langem überzeugt, dass in unserem Land zwei Probleme anstehen: zwei Schwierigkeiten, für die es ebenfalls Besonnenheit braucht, wenn sie denn konstruktiv gelöst werden sollen.

(1) Besonnene Neutralität ist nötig, damit unser Land nicht in einem Tohuwabohu endet.
Die Bevölkerung der Schweiz hat sich in letzten sieben Dekaden beinahe verdoppelt und zwar aufgrund einer Immigration, die zuerst aus den südlichen Staaten Europas stammte, heute zunehmend aus aller Welt kommt. Inzwischen ist vermutlich ein grosser Teil der Schweizer Bevölkerung über die Einwanderung, die Eltern oder eine Heirat mit dem Ausland verbunden.
Kurz: die Schweiz ist multiethnisch oder multikulturell, aber auch extrem heterogen zusammengesetzt und inzwischen – ebenso stark – soziokulturell polarisiert. 
Darüber mag man nun jubilieren oder jammern! Aber gelingt es nicht, mit diesen Faktoren besonnen umzugehen, riskiert unser Land sich politisch aufzureiben – weiter zu zersplittern – auseinanderzufallen – unterzugehen!

Wichtig für eine konfliktlösungsorientierte Aussen- und Innenpolitik ist es zu wissen, dass die meisten Neulinge in unserem Land im internationalen System aufgestiegen sind und in die Schweiz gekommen sind, weil es ihnen hier besser geht. Sogar Deutsche wandern ein, weil sie hierzulande mehr verdienen. Sofern die Immigrierten aber aus dem armen Teil der Welt stammen, gehörten sie oder ihre Eltern meistens der dortigen Mittel- oder Oberschicht an. Das gilt sogar für Kriegs- und Armutsflüchtlinge, denn die Ärmsten können selten weg! Und sofern sie inzwischen eingeschweizert wurden – und das sind viele – haben sie oft ihren Pass behalten oder besitzen sogar mehrere Pässe. Ein Kurde hat mir geraten, sie als «NeuschweizerInnen» zu bezeichnen. Viele davon, wenn auch nicht alle, nehmen selbstverständlich weiterhin und oft sehr aktiv am Geschick ihrer einstigen Heimat teil. Das ist gut so und darf auch so bleiben.

Ihr politisches Engagement in Ehren: Das soll und darf Sache der immigrierten Personen bleiben. Aus zwei Gründen darf es aber nicht zur Sache der offiziellen Schweiz werden:

Erstens hegen manche Immigrationsgruppen Umsturzpläne mit Blick auf ihr Heimatland und haben unter sich entsprechende heftige politische Differenzen – das ist kein Vorwurf: beides darf sein! Die offizielle Schweiz soll sich aber nicht darin verwickeln lassen. Sonst haben wir nicht nur den Parteiensalat, sondern das Tohuwabohu in unserem Land nimmt massiv zu. 

Bereits rufen iranische NeuschweizerInnen dazu auf, die Schweiz solle den Iran sanktionieren. Ständerat Jositsch nahm dieses Begehren – bezeichnender Weise just noch vor den Bundesratswahlen – sofort auf. Dass er damit gegen wichtige Grundsätze im Völkerrecht (8) verstösst, ist dem Sozialdemokraten entgangen. Auch dass Immigrierte aus der Türkei, aus Kurdistan, Eritrea oder Sri Lanka diese Einmischungspraxis ebenfalls einfordern könnten. Inzwischen hat sich Herr Jositsch eines Besseren besonnen. 

Für seinen SP-Kollegen, Nationalrat Cédric Wermuth, (9) gilt das nicht: Er hat auf Twitter Putin und die Serben – in arger Verkennung der Geschichte – als Faschisten beschimpft. Hat er dabei auf die Stimmen der SchweizerInnen aus dem Kosovo geschielt: den 27. Kanton der Schweiz? Bestimmt hat er weder darüber nachgedacht, wohin diese Anbiederung innenpolitisch führt, noch was das strukturblinde Moralisieren und die Einmischung von aussen und oben für andere Staaaten bedeuten. Cédric Wermuth sieht sich nicht in einem regelgebundenen Amt, das er verantwortungsethisch zu erfüllen hat. Nutzt er stattdessen sein Mandat, um sich persönlich zu profilieren und um sich bei einer spezifischen Wählergruppen möglichst optimal zu positionieren? Das wäre höchst unbesonnen!


Der dritte und letzte Teil der Reihe folgt am Donnerstag.

 

Anhang


8 Generalversammlung der UNO 24.10.1970: Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts: Der eine wichtige Grundsatz betrifft die Pflicht, im Einklang mit der Charta, sich nicht in Angelegenheiten einzugreifen, die zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören.
Der andere ist: Der Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker.
9 https://www.blick.ch/politik/wegen-faschisten-vergleich-auf-twitter-sp-…