Profit mit der Unentschlossenheit – mein pädagogisches Gastspiel
Januar 1974: An der Schwelle zur Volljährigkeit werde ich nachdenklich, gebe Unterricht an einer Privatschule – und rufe die Schüler zum Widerstand auf. Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft. Folge 72.
An der Schwelle zum neuen Jahr – 1974 – wurde ich etwas nachdenklich. Bis zu meinem 20. Geburtstag fehlten nur noch wenige Monate. Dann war ich volljährig, ein Erwachsener, und ich wusste: Im neuen Jahr musste sich etwas ändern. Ich war es leid, ohne Freundin zu sein. Dieser frustrierende Zustand nagte an mir. Alles, was ich tat, war überschattet von meinem unfreiwilligen Singledasein. Im Tagebuch beschrieb ich, wie es mir ging:
«Ich lebe, ich schreibe, ich lese, ich höre tröstende und ermutigende Musik, ich sitze mit meinen Mitkommunarden in der Waldegg–Küche – und bin doch allein. Ich trinke, wenn überhaupt, höchstens Wein und achte darauf, nicht zuviel zu essen, denn Essen ist eines der Dinge, die man braucht, wenn man allein ist. Ich versuche mich überhaupt zu mässigen und eine gewisse Disziplin einzuhalten. Etwa zweimal pro Woche gehe ich schwimmen, jetzt im Winter ins Hallenbad, in der reichen Gemeinde von Uitikon, die sich so ein Hallenbad leisten kann. Ich drehe meine zehn Runden, in einer sterilen Umgebung, unter Badegästen, die ich nicht kennen will. Ich würde gern in die Ferien gehen, aber was soll ich allein in einem anderen Land? – Manchmal frage ich mich: Was nützen mir all meine Fähigkeiten und Möglichkeiten wenn so etwas Wichtiges fehlt? Wofür arbeite und lebe ich denn? Für die Revolution, für eine Veränderung der herrschenden Zustände? Das bestimmt erst in zweiter Linie. Ich will nicht für mich allein existieren.»
Trotz dieser Ermüdungserscheinungen schrieb ich auch jetzt, im neuen Jahr, einen Zeitungstext nach dem anderen. Ich schrieb über Jugendtreffs, über Alternativen für junge Süchtige, über die Hausbesetzung am Hegibachplatz, den Aufenthalt Jugendlicher aus Nordirland in der Schweiz, eine neue Gruppierung im Wallis, das «Kritische Oberwallis», und vor allem schrieb ich weiterhin über Musik. Aber im Tagebuch gestand ich mir selbst: «Obwohl ich, was die Musik betrifft, immer mehr spüre, dass ich da ausgeschrieben habe».
Rückblickend betrachtet, war das ein historischer Satz. Nach fünf Jahren leidenschaftlichem Engagement für die Rockmusik hatte ich «ausgeschrieben». Das Thema Musik sollte mich auch im neuen Jahr noch begleiten. Dennoch war es ein erster Hinweis auf eine berufliche Neuorientierung.
Davon zeugte auch ein anderer Satz, den ich zum Jahresbeginn formulierte: Nämlich, dass «ich später einmal in die Filmproduktion einsteigen» wolle. Noch wusste ich nicht, wie bald sich dieser Vorsatz verwirklichen würde.
Der Eindruck, «ausgeschrieben» zu haben, beschlich mich auch deshalb, weil ich seit meinem Weggang bei der Auffangstation nicht viel anderes tat als an der Schreibmaschine zu sitzen. Ich arbeitete zwar immer noch bei der Post, aber nur als Aushilfe an den Wochenenden. Etwas Vergleichbares wie der Dienst in der Notschlafstelle, die Arbeit in einem Team, die Arbeit mit Menschen, vermisste ich.
Da las ich, noch im alten Jahr, eine Annonce, dass das private Schulinstitut Juventus ab Januar kurzfristig eine Lehrperson suchte. Ich meldete mich.
Zu den Angeboten des Instituts gehörte auch die Berufswahlschule. Ein schulisches Zwischenjahr nach der obligatorischen Schulzeit für Schüler, die sich noch nicht entschieden hatten, welchen Bildungsweg sie einschlagen wollten, war damals ein Novum. Bis zur Einführung einer öffentlichen Berufswahlschule sollte es noch viele Jahre dauern. Die Berufswahlklassen an der Juventus waren deshalb eine durchaus fortschrittliche Einrichtung. Aber da die Schule wie die meisten Privatinstitute an Geldmangel litt, fiel es ihr schwer, genügend geeignete Lehrer zu finden. Auch Quereinsteiger – und zur Not sogar junge, noch nicht einmal volljährige Quereinsteiger waren willkommen. Nur so kann ich mir heute erklären, warum selbst ein blondgelockter Hippie wie ich eine ernsthafte Chance auf die vakante Stelle hatte, als ich mich der Schulleitung vorstellte.
Aber an Selbstsicherheit fehlte es mir in solchen Situationen nie. Und als Journalist, der für den Tages–Anzeiger schrieb, wurde ich offenbar für genug kompetent eingeschätzt, um die freigewordenen Stunden zu übernehmen. Denn das Fach, für das ich eingestellt wurde, hiess «Kulturelle Weiterbildung». Es handelte sich um zwei Alibistunden pro Woche, damit neben den «nützlichen» Fächern, die auf die Berufswahl vorbereiteten, auch das Schöngeistige nicht ganz auf der Strecke blieb. Ich war ziemlich frei in der Gestaltung der Stunden, was mir gelegen kam. Wäre ich für ein Pflichtprogramm im Fach Deutsch angestellt worden, hätte die Schulleitung bald schon bereut, mich engagiert zu haben. Sie sollte es so oder so bereuen.
Lehrer zu werden, war nie mein Plan gewesen. Ich wollte nie vor einer Schulklasse stehen, sondern vor der Öffentlichkeit. Ich wollte – etwas pathetisch gesprochen – nicht einer Klasse von Jugendlichen, sondern der Menschheit meine Sicht der Dinge vermitteln. Dennoch reizte mich die Erfahrung des Unterrichtens und ich begab mich deshalb sehr motiviert an die Lagerstrasse 102 unweit des Hauptbahnhofs – wo die Juventus Schulen übrigens heute noch sind.
Als ich in das Schulzimmer eintrat, waren beide Seiten im ersten Moment irritiert. Die Schüler staunten, dass ein Lehrer sie unterrichtete, der direkt vom Szenetreffpunkt an der «Riviera» zu kommen schien – und ich selber schreckte ganz leicht zurück, als ich begriff, dass meine Schüler nur drei Jahre jünger waren als ich. Doch dann war die Freude ganz gegenseitig, und mein Unterricht trug dazu sicher bei, denn ich legte die «Kulturelle Weiterbildung» sehr grosszügig aus und brachte genau die Themen mit, die mich selber beschäftigten. Wir diskutierten über Drogenprobleme, Autonomie, Religion, Krieg in Vietnam, Sinn der Armee, Sinn des Lebens. Die Schüler bereiteten Vorträge vor, wir machten Collagen aus Zeitungsausschnitten, es gab viel zu lachen, und wir sagten uns Du, obwohl ich auf der Höflichkeitsform hätte bestehen müssen.
Weil mir die Schüler vertrauten, klagten sie mir mit der Zeit, wie unbefriedigend sie diese Schule fanden – wie nutzlos sogar. Da erwachte in mir in Sekundenschnelle der kritische junge Zeitgenosse, der gegen den Kapitalismus zu Felde zog. Denn die Juventus AG war ein Privatunternehmen. Was lag somit näher als die Vermutung, es gehe der Schule nur darum, an den Schülern Geld zu verdienen?
Ich hatte inzwischen für weitere Medien zu schreiben begonnen, um Stories, die der Tages-Anzeiger nicht wollte, anderswo unterzubringen. Neben der Basler «National-Zeitung», die für eine linke Weltsicht offener war, publizierte ich nun auch gelegentlich in der neugegründeten Zeitschrift «team», die speziell für ein junges Zielpublikum gedacht war. Ich vereinbarte mit der «Team»-Redaktion einen Bericht über die Missstände an der Berufswahlschule.
Bereits im März reichte ich an der Schule meine Kündigung ein. Wie so viele Male in meinem Leben hatte ich mit viel Enthusiasmus etwas begonnen, um schon nach kurzer Zeit zu erkennen, dass das erhoffte Feuer bloss ein Strohfeuer war. Die drei Monate Probezeit hatten genügt. Aus mir wurde definitiv kein Schulmeister. Meine Leidenschaft galt definitiv nicht der Pädagogik, sondern der Publizistik.
Die Schüler bedauerten meinen Abgang, und auch ich äusserte mein Bedauern. Ich hatte die Stunden mit ihnen geschätzt, und meine Kündigung hatte nichts mit ihnen zu tun. Aber wenn ich spürte, dass ein Engagement für mich nicht mehr stimmte, dann war das für mich ein Gefühl, als würde mir permanent Energie geraubt. Dann musste ich gehen. Ich musste die Notbremse ziehen.
Gleichzeitig mit meiner Kündigung aber, in einer der letzten Unterrichtsstunden, interpretierte ich das Fach, das ich unterrichtete, ein weiteres Mal ziemlich eigenmächtig. Ich machte die Schule selbst zum Thema. Ich trug mit den Schülern alle Kritiken und Beanstandungen zusammen, die sie gegen ihr Berufswahljahr an der Juventus ins Feld führten. Sie machten voller Begeisterung mit. Eine aufrührerische Stimmung erfasste die Klasse.
Danach, beim Niederschreiben meines Reports, hatte ich den Lehrer schon abgestreift und war wieder ganz in meinem journalistischen Element. Das neue «team» erschien, und die Schlagzeile lautete: «Berufswahlschüler klagen an: Der Profit mit der Unentschlossenheit».
Ich begann meinen Bericht mit Sätzen aus dem Werbeprospekt der Schule: «Das Berufswahljahr wird für deine berufliche Zukunft von entscheidender Bedeutung sein», «Tausende von Schülern haben auf diesem Weg ihre Berufswahl getroffen.» «Der Schüler soll so gefördert werden, dass er einen Beruf wählen kann, der seinen Interessen und Fähigkeiten entspricht».
Garantiert wurde den Schülern und ihren Eltern eine «persönliche Betreuung» durch die schulinternen Berufsberater. «Doch auf jeden Berufsberater», berichtete ich, «entfallen rund hundert Schüler. Zeit für das Besprechen persönlicher Probleme bleibt wenig. Dabei sind es oft gerade die persönlichen Probleme, die jungen Leuten die Berufswahl erschweren.»
«Viele Schüler hoffen, dass der Berufsberater wenigstens auf ihre beruflichen Wünsche eingehen würde, doch die meisten machen dabei schlechte Erfahrungen. Susy erzählt: ‚Ich wollte Kindergärtnerin werden oder etwas mit Tieren machen, aber die Berufsberaterin redete mir das aus und schlug mir eine Stelle als Drogistin vor. Da ich damit nicht einverstanden war, versuchte sie, meine Eltern auf ihre Seite zu ziehen. Das gelang ihr, und jetzt werde ich halt Drogistin.’»
«Bei Christoph hingegen hat der Versuch, über die Eltern Druck auf den Schüler auszuüben, nicht funktioniert: ‚Die Berufsberaterin riet mir zur Handelsschule, das sei eine gute Grundlage. Ich wehrte mich dagegen, denn ich will Krankenpfleger werden. Während drei Stunden versuchte sie es mir auszureden. Schliesslich bestellte sie meine Eltern zu sich, aber auch die Eltern konnte sie nicht überzeugen. Damit war die Sache für sie erledigt. Inzwischen habe ich einen Ausbildungsplatz in einem Spital gefunden. Ohne ihre Hilfe.»
«Dass die Berufsberaterin», kommentierte ich, «den Jugendlichen zur Handelsschule drängte, liegt wohl auch daran, dass die Juventus eine eigene Handelsschule besitzt und deshalb an Nachwuchs interessiert ist. Dazu passt, dass in der Berufsberatung fast allen Schülerinnen der Beruf der Arztgehilfin vorgeschlagen wurde. Denn es gibt auch eine hauseigene Arztgehilfinnenschule. Das Resultat: In einer Klasse von dreissig Schülerinnen sind es neun Mädchen, die in die Arztgehilfinnenschule eintreten. Vier Mädchen werden ausserdem die Handelsschule besuchen, das heisst, fast die Hälfte der Klasse wird im Institut Juventus verbleiben.»
Der Bericht wurde zu einer einzigen Anprangerung. Ich gab hauptsächlich wieder, was die Schüler selbst sagten. Sie fanden auch, dass die Schule sich viel zu sehr von den Interessen der Wirtschaft beeinflussen lasse. Man habe ihnen nur zu unbeliebten Berufen geraten und nur Betriebe besichtigt, wo Nachwuchsmangel bestehe.
«Soziale oder gar künstlerische Berufe will die Schule den Schülern nicht noch unter die Nase reiben. Bei den Mädchen war von siebzehn Betriebsbesichtigungen genau eine dem Besuch einer Kinderkrippe gewidmet. Bei den Burschen nicht einmal das.»
Die Schüler beschwerten sich auch über den Unterricht. Der Stoffplan der Oberstufe werde weitgehend repetiert. Man lerne nichts Neues und es herrsche ein autoritäres Regime mit Strafen und Einschüchterungen. Bei jeder Kleinigkeit erfolge eine Mitteilung an die Eltern. Werde ein Schüler der Schule verwiesen, könne das jeder lesen – am Schwarzen Brett. Anklage reihte sich an Anklage. Es war ein bedenkliches Fazit, das ich mit den Schülern zusammentrug.
Mit wenig hoffnungsvollen Worten beendete ich den Bericht. «Die Jugendlichen», zitierte ich aus einem Schreiben der Schulleitung an die Eltern, «sollen lernen, sich mit den Realitäten des Lebens auseinanderzusetzen.» Ich fügte hinzu: «Wenn die ‚Realität des Lebens‘ heisst, zu arbeiten, ohne eine Befriedigung darin zu finden, nur um Geld zu verdienen, wenn ‚Realität‘ bedeutet, sich unterzuordnen und Befehlen Folge zu leisten, dann allerdings wird man an der Berufswahlschule der Juventus AG bestens auf die Realität vorbereitet.»
50 Jahre danach hat sich vieles geändert. Eine Berufswahlschule gibt es an der Juventus nicht mehr. Berufswahlschulen sind heute staatliche Einrichtungen. Aber auch der Staat will die Jugendlichen von heute auf die «Realitäten des Lebens» trimmen. Und er ist es auch, der bestimmt, was mit «Realitäten» gemeint ist. Unabhängige, freie Schulen, die andere Bildungszielen verfolgen, sind immer noch nicht erwünscht. So betrachtet, sind wir nicht viel weitergekommen. Auch heute, im neuen Jahrtausend gäbe es für junge Menschen Gründe genug, um aufzubegehren gegen die Schulbänke, die sie drücken müssen.
Diese Hoffnung hatte ich natürlich schon damals. Ich wünschte mir, dass die Berufswahlschüler an der Juventus nach der Veröffentlichung des Reports sich erheben und rebellieren würden. Aber nichts geschah. Die Realitäten des Lebens gewannen wieder die Oberhand. Ein eingeschriebener Brief der Schulleitung an die «team»–Redaktion war die einzige Reaktion auf meine Anklageschrift. Vielleicht wurde die Stellungnahme anstandshalber in der Zeitschrift veröffentlicht. Ich finde keine Unterlagen dazu. Wahrscheinlich war ich schon ganz woanders.
Aber noch Jahre danach passierte es mir gelegentlich, dass mich in der Stadt jemand ansprach und strahlend meinte: «Ich war bei dir in der Schule. In der Juventus. Das waren die besten Stunden in jenem Jahr.»
Ganz umsonst war mein pädagogisches Gastspiel offenbar doch nicht gewesen.
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können