Reisen in eine ideale Welt

2017 ist das «Jahr des nachhaltigen Tourismus für die Entwicklung». Die Welttourismusorganisation (UNWTO) will damit das Bewusstsein für die Situation in den Urlaubsländern schärfen, deren soziale und ökonomische Entwicklung. Was steckt tatsächlich dahinter?

Aktuell werden eine Milliarde internationaler Reisen pro Jahr unternommen. Millionen von Menschen, die jedes Jahr die Welt heimsuchen, weil ihnen daheim die Decke auf den Kopf fällt. Das sind nicht unbedingt Millionen neuer Freunde, die sich als Botschafter für Völkerverständigung kumbaya-singend die Allerwertesten in den Billigfliegern plattsitzen, sondern möglicherweise Millionen von Ressourcenräubern und Billiglohnausbeutern, die im Dschungel nach einer Pizza schreien und in der Wüste nach einem Pool, die Berge an Müll und diverse Geschlechtskrankheiten hinterlassen, Biotope schreddern, Kulturen plündern und viel zu selten «Bitte» und «Danke» sagen, Landessprache hin oder her.

Weil «ein gut konzipierter und gesteuerter Tourismus» durchaus in der Lage wäre, einen erheblichen Beitrag zur «nachhaltigen Entwicklung in ökonomischer, ökologischer und soziokultureller Hinsicht» zu leisten, zählt er auch zu den 17 Zielen der Agenda 2030, die 2015 vorgestellt wurde. In einer idealen Welt würde nachhaltiger Tourismus menschenwürdige Arbeitsplätze auch und gerade für Frauen und Jugendliche schaffen, Armut bekämpfen und die Lebensqualität der Menschen in den Urlaubsländern verbessern. Doch wer fühlt sich berufen, den Status quo herauszufordern – mal abgesehen von den Ferienfreunden, die leider keine nennenswerte Lobby haben? Der Urlauber selbst zahlt nur ungern mehr, Veranstalter und Unternehmer vor Ort teilen ungern ihren Profit und Flugzeuge verzichten ungern auf ihren obligatorischen CO2-Ausstoss. Ob da die Auszeichnungen, mit denen die UNWTO lockt, ausreichen werden, dieses Verhalten zu ändern? Zumal wenig darüber bekannt ist, mit welchen Massnahmen das hehre Jahresziel unterstützt werden soll.


Es stehe zu befürchten, dass die UNWTO dieses Jahr vor allem zum Anlass nimmt, einen grossen Werbespot zu lancieren, der zu Investitionen in der boomenden Tourismus-Branche motivieren soll, glaubt Christine Plüss vom «arbeitskreis tourismus & entwicklung» in Basel. Im Grunde begrüsst sie die Gelegenheit, die Notwendigkeit der Nachhaltigkeit beim Reisen zu thematisieren. Nach Schätzungen der UNWTO wird sich das Tourismusaufkommen bis zum Jahr 2030 verdoppeln. Und das wäre, so Plüss, «global gesehen eine Katastrophe für Umwelt und Klima und lokal gesehen jenseits der Tragfähigkeit vieler Zielorte, die damit völlig überlastet wären». Zudem werden die Veränderungen, die Tourismus an den Zielorten verursacht, nicht systematisch erfasst und abgebildet. Stattdessen wird mit Grössen wie dem Anteil am Inlandsozialprodukt und der Anzahl an Arbeitsplätzen gearbeitet – die wenig aussagekräftig darüber sind, wer vom Tourismus profitiert und wie die Arbeitsbedingungen und Verdienstmöglichkeiten konkret aussehen. Plüss: «Auf jeden Fall sollte ein wichtiger Indikator sein, in welcher Art und Weise die Betroffenen und die Gemeinschaften vor Ort in der Entwicklung involviert sind und inwieweit sie dabei ein Mitspracherecht haben.»


Zivilgesellschaftliche Organisationen rund um den Globus haben gemeinsam eine Deklaration ihrer inhaltlichen Kritikpunkte erarbeiten und auf der Internationalen Tourismusmesse in Berlin präsentiert. Ihr Fokus liegt darauf, inwiefern der Tourismus zu jedem der einzelnen Ziele der Agenda 2030 nicht beitragen kann, sondern vielmehr muss, damit die Umsetzung dieser Ziele durch den enormen Anstieg seines Volumens nicht völlig torpediert wird. Der Arbeitskreis präsentiert auf seiner Webseite fairunterwegs.org zudem eine Checkliste, die beim Endverbraucher den Schritt von der Sensibilisierung für das Thema hin zum konkreten Handeln fördern will. Denn die längste Reise, so weiss der Volksmund, beginnt bekanntlich mit einem kleinen Schritt...



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10. April 2017
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