Rojava unter Beschuss: Warum wir uns an die Seite des demokratischen Nordostens Syriens stellen müssen

In Syrien schürt die Türkei genau den «Terrorismus», den sie vorgibt zu bekämpfen. Erdoğan und seine dschihadistischen Stellvertreter der «Syrischen Nationalarmee» (SNA) verlängern künstlich einen grausamen Krieg für ihre eigenen politischen Ziele und zielen darauf ab, die demokratische Selbstbestimmung und die Freiheit der Frauen im Nordosten Syriens zu zerschlagen. Progressive auf der ganzen Welt dürfen dazu nicht schweigen.

Bild: Markus Spiske

Vor zehn Jahren wurde der kurdische Kampf gegen den völkermörderischen Angriff von Da’esh (Islamischer Staat) auf Kobane zu einem globalen Symbol für die Verteidigung der Menschlichkeit und den Widerstand gegen den Faschismus. Die Welt hielt den Atem an, als kurdische Frauenmilizen der Demokratischen Kräfte Syriens (Syrian Democratic Forces, SDF) in dieser kleinen Stadt nahe der türkischen Grenze einer bis dahin unaufhaltsamen Terrorgruppe heldenhaft die Stirn boten. So unwahrscheinlich es auch schien, gelang es den Kurden schliesslich, die Dschihadisten zurückzudrängen – ein entscheidender Wendepunkt, der sich als der Anfang vom Ende von Da’esh erweisen sollte.

Im Moment wiederholt sich die Geschichte, aber dieses Mal schenkt die Welt dem nicht viel Aufmerksamkeit. Einmal mehr sieht sich Kobane von feindlichen Streitkräften belagert, die kurz vor einem Angriff stehen. Die Angreifer mögen zwar eine andere Flagge tragen, aber sie haben eine ähnliche Mentalität. Die Türkei und ihre dschihadistischen Söldner der sogenannten «Syrischen Nationalarmee» (SNA) nutzen den Zusammenbruch des Assad-Regimes aus, um das zu erreichen, was Da’esh nicht gelungen ist: Rojava, die international kaum beachtete demokratische, feministische und ökologische Revolution im Nordosten Syriens, auszulöschen.

Illegaler Angriff der Türkei auf Nordostsyrien

Die Blitzoffensive von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und der Sturz der 54 Jahre andauernden, rücksichtslosen diktatorischen Herrschaft von Assad haben für Syrien ein neues Kapitel aufgeschlagen. Während die Syrer auf den Strassen feiern, Familien mit politischen Gefangenen wiedervereint werden, die aus Assads berüchtigten Folterkammern befreit wurden, Exilsyrer sich auf den Weg in die Heimat machen und wir uns dem erschütternden Ausmass des Staatsterrorismus des alten Regimes stellen, besteht Hoffnung, dass einer der grausamsten Kriege dieses Jahrhunderts endlich beendet wird.

Aber vieles ist noch ungewiss. HTS, ein Ableger von Al-Qaida mit Verbindungen zu Da’esh, der im Westen alsTerrorismusgruppe klassifiziert wird, hat sich bemüht, sich als eine Gruppe «Freiheitskämpfer» neu zu positionieren, die sich für Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und internationale Zusammenarbeit einsetzt.

Wie glaubwürdig dies ist, wird sich jedoch erst noch zeigen müssen. Einige der Anführer von HTS sprechen davon, das Scharia-Recht mit einer Sittenpolizei im iranischen Stil durchzusetzen. Das schürt die Befürchtung, dass das Land ein zweites Afghanistan wird. Viel wird davon abhängen, ob HTS willens und in der Lage ist, die verschiedenen politischen, ethnischen und religiösen Gruppen Syriens an einen Tisch zu bringen und gemeinsam eine politische Lösung zu finden.

Es ist wahrscheinlich keine Übertreibung zu behaupten, dass die Rojava-Revolution eines der bedeutendsten aktuellen Experimente der Welt zum Aufbau einer postkapitalistischen Gesellschaft ist. Und genau das macht sie in den Augen aller Gruppen mit totalitären oder kolonialen Ambitionen so gefährlich.

Ob dies möglich ist, hängt jedoch nicht nur von der Bereitschaft der HTS ab, sondern auch davon, ob die ausländischen Mächte, die sich in Syrien einmischen, ein Ende des Krieges zulassen. Während der Sturz Assads den Iran aus dem Spiel in Syrien verdrängt und die Position Russlands immens geschwächt hat, haben Israel und die Türkei auf ihre eigene Weise von dieser Zeit des Übergangs und der Instabilität profitiert und sie opportunistisch ausgenutzt.

Und beide haben dabei das Völkerrecht missachtet. Während viele westliche Progressive zu Recht Israels schurkische Bombenangriffe auf syrische Militärstützpunkte als bizarre und inakzeptable Verletzung des Völkerrechts verurteilen, herrscht mehr Schweigen gegenüber den türkischen Angriffen auf Nordostsyrien und Verwirrung über die Rolle der Kurden.

Die Türkei hat sich jahrelang illegal in Syrien eingemischt und Teile des Landes besetzt. Bereits 2018 griffen die Türkei und ihre dschihadistischen SNA-Verbündeten die SDF an, kurz nachdem diese Da’esh besiegt hatten. Die Türkei marschierte ein und annektierte die mehrheitlich kurdischen Gebiete Afrin und 2019 Serekaniye und Gire Spi. Amnesty International wirft der Türkei Kriegsverbrechen vor, darunter die Vertreibung von hunderttausenden Menschen aus ihren Häusern.

In den besetzten Gebieten leiden die Einwohner unter einer, wie es die Vereinten Nationen nennen, «düsteren» Menschenrechtslage, die von ethnischen Säuberungen, Zwangsumsiedlungen und Beschlagnahmen von Land und Eigentum geprägt ist. Trotz eines Waffenstillstandsabkommens hat die Türkei ihre Kriegshandlungen mit konsequenten Drohnenangriffen und regelmässigen intensiven Angriffen fortgesetzt. Im vergangenen Winter zerstörten türkische Luftangriffe 80 Prozent der zivilen Infrastruktur im Nordosten Syriens durch gezielte Angriffe auf Strom- und Wasserwerke, Lebensmittellager, medizinische Infrastruktur usw.

Seit dem 27. November, als die Welt ihre Aufmerksamkeit auf HTS und Damaskus richtete, haben die Türkei und die SNA ihre Angriffe auf Nordostsyrien verstärkt. Mit Unterstützung schwerer türkischer Luftangriffe eroberte die SNA schnell die Regionen Shebha, Tall Rafaat und Manbij um Aleppo herum. 170.000 Familien wurden gewaltsam vertrieben, was zu einer neuen Flüchtlingskrise führte. SNA-Söldner wurden wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in den neu besetzten Gebieten verurteilt, darunter standrechtliche Hinrichtungen, Zwangsumsiedlungen und Plünderungen von zivilem Eigentum, Folter und Entführungen von Frauen, was Proteste und Streiks in Manbij auslöste.

Am Tishreen-Staudamm, einem grossen Wasserkraftwerk im Euphrat in der Nähe von Manbij, kam es zu schweren Zusammenstössen, die schwere Schäden verursachten. Ein Bruch des Damms würde wahrscheinlich eine weitere humanitäre Katastrophe, einen Stromausfall und Wasserknappheit in weiten Teilen Nordostsyriens auslösen.

SNA-Truppen haben auch SDF-Einheiten an der Qerekozak-Brücke an der Grenze zwischen dem von der Türkei besetzten Afrin und der von den SDF kontrollierten Region Kobani angegriffen. Die USA handelten einen Waffenstillstand in Manbij aus, aber die SNA und die Türkei hielten sich nicht an die Vereinbarung.

Berichte aus dem Nordosten Syriens sprechen von weit verbreiteter Angst vor Massakern und einem Wiederaufleben von Da‘esh. Da sich immer noch Zehntausende von Da’esh-Kämpfern in nordostsyrischen Gefängnissen befinden und Schläferzellen aktiv sind, haben die türkischen Angriffe im Laufe der Jahre bereits die Bemühungen der SDF, Da’esh zu überwachen und einzudämmen, gefährdet. Viele der inhaftierten Dschihadisten sind Bürger westlicher Staaten, deren Heimatländer sich weigern, sie zu repatriieren und strafrechtlich zu verfolgen. Je heftiger die Angriffe der Türkei und der SNA werden, desto grösser ist die Gefahr eines vollständigen Wiederauflebens von Da’esh, da die SDF gezwungen ist, sich gegen die türkischen Angriffe zu verteidigen.

Aber viele Kurden sehen keinen grossen Unterschied zwischen den Söldnern der SNA und Da´esh. Wie Foza Yusuf, eine kurdische Politikerin, warnt: «Was Da´esh 2014 den jesidischen Frauen angetan hat, wird den Frauen im Nordosten Syriens widerfahren, wenn wir uns nicht wehren. Da’esh hatte jedoch nicht die Unterstützung, die die SNA geniesst. Wir wissen, dass extremistische Kräfte immer zuerst Frauen und Minderheiten ins Visier nehmen, aber wir wissen auch, dass sie es nicht dabei belassen werden; sie werden zu einer Bedrohung für die Selbstbestimmung und Würde anderer.»

Um den türkischen Sicherheitsbedenken Rechnung zu tragen, bot die SDF der Türkei an, Kobane in eine entmilitarisierte Zone umzuwandeln. Bisher waren die Versuche der USA, eine diplomatische Lösung zu vermitteln, erfolglos. Im Gegenteil, das türkische Militär hat Bodentruppen gegenüber der Grenze bei Kobane zusammengezogen, was US-Regierungsbeamte am Dienstag dazu veranlasste, zu warnen, dass eine türkische Bodeninvasion in Rojava unmittelbar bevorstehen könnte.

Was will die Türkei in Syrien?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat ausdrücklich vor, einen 30 Kilometer breiten Streifen entlang der 600 Kilometer langen Grenze zwischen der Türkei und Syrien dauerhaft zu besetzen und eine gross angelegte demographische Manipulation durchzuführen: die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung und die Zwangsumsiedlung (bis zu einer Million) überwiegend arabischer syrischer Flüchtlinge in das Gebiet, wie es die Türkei bereits in Afrin getan hat.

Der Grund für diese unablässigen Aggressionen ist jedoch nicht der «kurdische Terrorismus», wie der türkische Staat, die NATO und ihre Verbündeten immer wieder behaupten. Was in Berichten über Nordostsyrien in der Regel verschwiegen wird, ist die Tatsache, dass es dort ein bemerkenswertes Experiment der demokratischen autonomen Selbstverwaltung gibt.

Seit 2012 haben sich etwa 5 Millionen Menschen – Kurden, Araber, Assyrer, Turkmenen, Jesiden und andere – in der Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (Democratic Autonomous Administration of North and East Syria, DAANES), allgemein bekannt als Rojava (Kurmandschi für «West»-Kurdistan), organisiert und zeigen, wie eine multiethnische Gesellschaft friedlich zusammenleben kann.

Die DAANES funktioniert auf der Grundlage des «demokratischen Konföderalismus», einem radikalen Modell der Entscheidungsfindung an der Basis, bei dem sich die Menschen in Volksversammlungen auf lokaler, regionaler, kantonaler und gesamter Ebene selbst organisieren, um die Bedürfnisse so nah wie möglich am Ort ihres Auftretens zu erfüllen. Arbeiter und Bauern produzieren in selbstverwalteten und genossenschaftlichen Betrieben. Die Revolution strebt nach Ernährungssouveränität durch regenerative Methoden. Ihr Regierungssystem ist auf Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Ethnien und Geschlechtern ausgerichtet – Minderheiten haben das Recht, in Versammlungen zuerst zu sprechen, und Frauen machen mindestens die Hälfte der Führung aus. Praktiken der restaurativen Justiz und Frauenräte versuchen, soziale Konflikte durch Inklusion und Versöhnung statt durch Bestrafung und Gewalt zu transformieren.

Wie die preisgekrönte Journalistin Debbie Bookchin sagt: «Die Rojava-Revolution ist im Kern wirklich eine Frauenrevolution. Die Tatsache, dass die Befreiung der Frau der Schlüssel zu jedem Aspekt der Gesellschaft ist, ist nicht nur im Nahen Osten, sondern auf der ganzen Welt einzigartig.»

Die kurdische Frauenbewegung geht über den westlichen Mainstream-Feminismus hinaus, indem sie nicht nur darauf abzielt, Frauen in Machtpositionen zu bringen, sondern die gesamte patriarchalische Machtstruktur zu stürzen und die Gemeinschaft als soziale Grundlage des menschlichen Zusammenlebens wiederherzustellen.

Es ist wahrscheinlich keine Übertreibung zu behaupten, dass die Rojava-Revolution eines der bedeutendsten aktuellen Experimente der Welt zum Aufbau einer postkapitalistischen Gesellschaft ist. Und genau das macht sie in den Augen aller Gruppen mit totalitären oder kolonialen Ambitionen so gefährlich. Wie der inhaftierte kurdische Führer Abdullah Öcalan schreibt: «Die wahre Macht der kapitalistischen Moderne liegt nicht in ihrem Geld und ihren Waffen, [sondern] in ihrer Fähigkeit, alle Utopien [...] mit ihrem Liberalismus zu ersticken.»

Die Unterdrückung der Kurden reicht weit über ein Jahrhundert zurück. Mit einer Bevölkerung von etwa 40 bis 45 Millionen Menschen ist das kurdische Volk die grösste ethnische Gruppe der Welt ohne eigenen Staat.

Im Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923, als die europäischen Kolonialmächte die Karte eines postosmanischen Nahen Ostens zeichneten, teilten sie die Kurden unter vier ethnozentrischen Nationalstaaten auf: Türkei, Syrien, Iran und Irak. In der Folge litt das kurdische Volk 100 Jahre lang unter einer kontinuierlichen und andauernden völkermörderischen kolonialen Auslöschung, um es und andere Minderheiten in die jeweilige türkische, arabische und persische Kultur zu assimilieren, ohne das Recht, ihre Sprache zu sprechen, ihre Kultur auszuüben und politische Selbstbestimmung zu haben.

Wie bei anderen Befreiungskämpfen von Mexiko bis Palästina stempelten die Kolonialmächte den antikolonialen Widerstand der Kurden als «Terrorismus» ab, der rücksichtsloser Vernichtung und kollektiver Bestrafung würdig sei. Die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erhob 1984 die Waffen gegen den türkischen Staat, um der Unterdrückung zu entkommen und ein unabhängiges sozialistisches kurdisches Heimatland zu errichten. Nach erheblichen Rückschlägen und vielen Todesopfern änderte die Bewegung jedoch ihre Strategie. Neun Mal bot die PKK dem türkischen Staat einen Friedensprozess an, um den bewaffneten Konflikt politisch zu beenden.

Sie änderte auch ihre Vision der kollektiven Befreiung. Wie Nilüfer Koç vom Kurdischen Nationalkongress erklärt: «Die kurdische Freiheitsbewegung erkannte, dass Staatenlosigkeit tatsächlich eine Chance sein kann, Strukturen demokratischer Autonomie zu schaffen, die es verschiedenen ethnischen Gruppen ermöglichen, über die Zwänge von Nationalstaat, Patriarchat und Kapitalismus hinaus friedlich zusammenzuleben. Wenn wir uns die aktuellen dramatischen Ereignisse im Nahen Osten, einschliesslich in Palästina, ansehen, sehen wir, dass wir dringend eine Alternative zur Gewalt der ethnozentrischen Nationalstaaten brauchen, und die kurdische Freiheitsbewegung bietet ein solches Modell.»

Als Assads Kontrolle über den Nordosten Syriens 2012 zusammenbrach, war die Kurdische Freiheitsbewegung bereit, diese Ideen in die Tat umzusetzen.

Mittlerweile hat sich das Regierungsmodell von Rojava über die syrischen Kurden hinaus auf andere ethnische und religiöse Gruppen in Syrien und im Irak ausgeweitet und die kurdische politische und kulturelle Organisation im Iran und in der Türkei neu belebt – eine ernsthafte Bedrohung für Erdoğans immer diktatorischere Herrschaft im Inland. Der Aufstieg des Faschismus erfordert die Auslöschung utopischer Vorstellungen.

Die Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen werden

Der türkische Staat könnte seinen Kolonialkrieg gegen die Kurden nicht ohne die aktive Unterstützung der NATO und regelmässige Waffenlieferungen der Vereinigten Staaten, Deutschlands, Grossbritanniens, Spaniens und anderer Länder führen.

Als Da’esh jedoch vor einem Jahrzehnt seine Schreckensherrschaft rasch ausweitete, sahen sich die USA in der misslichen Lage, gleichzeitig den Erzfeind der Türkei – und obendrein eine Armee von Anarchisten! – unterstützen zu müssen.

Aufgrund der militärischen Zusammenarbeit mit den USA zögern viele Progressive und Antiimperialisten, sich mit Rojava zu solidarisieren oder es auch nur zu erwähnen.

In Wirklichkeit spielen die USA ein opportunistisches, machiavellistisches Doppelspiel mit den Kurden, was durch die irreführende internationale Medienberichterstattung weitgehend verschwiegen wird.

Ja, die Vereinigten Staaten leisten der SDF militärische Unterstützung im Kampf gegen Da’esh. Aber die übliche Darstellung der SDF als «von den USA unterstützte kurdische Kämpfer» verschleiert eine Reihe von Wahrheiten: Die Vereinigten Staaten nutzen ihren Einfluss auf die SDF, um die basisdemokratischen Strukturen von Rojava zu untergraben. Die USA unterstützen die DAANES weder diplomatisch noch setzen sie sich für ihre Einbeziehung in eine politische Lösung für die Zukunft Syriens ein. Sie sind auch der grösste Waffenlieferant der Türkei und liefern genau die Waffen, mit denen die Türkei die SDF und die Bevölkerung im Nordosten Syriens angreift. Daher ist es nicht überraschend, dass die USA die Türkei in der Regel nicht für ihre Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen.

Wenn internationale Medien die aktuellen Feindseligkeiten im Nordosten Syriens als «territoriale Streitigkeiten zwischen von der Türkei unterstützten Rebellen und von den USA unterstützten kurdischen Kämpfern» darstellen, suggerieren sie eine Machtgleichheit, die es einfach nicht gibt. Die Kämpfer der SNA rücken mit Hilfe der unerbittlichen Luftangriffe der zweitgrössten NATO-Armee auf Rojava vor, während die Vereinigten Staaten – die vermeintlichen Schirmherren der SDF – einen Grossteil des Luftraums im Nordosten Syriens kontrollieren und die Türkei die Kurden ungestraft bombardieren lassen, während amerikanische Bodentruppen tatenlos zusehen.

Darüber hinaus wird durch die Darstellung der SDF als US-amerikanische Stellvertreter ein altes rassistisches Klischee aufrechterhalten, wonach Kurden Agenten ausländischer imperialistischer Interessen seien und keine eigene politische Handlungsfähigkeit hätten. Aber täuschen Sie sich nicht: Die SDF und die DAANES haben eine sehr starke, ausgesprochen antiimperialistische, anarchistische Agenda, die die USA bis aufs Blut ablehnen. Es ist kein Zufall, dass nur sehr wenige internationale Medien bereit sind, die revolutionäre Politik im Nordosten Syriens offen anzuerkennen.

Wir sollten nicht auf einen trägen und puristischen Antiimperialismus hereinfallen, der sich weigert, sich mit den komplexen Fragen des Aufbaus und der Aufrechterhaltung tatsächlicher Alternativen vor Ort auseinanderzusetzen.

Die Menschen im Nordosten Syriens konnten ihre unwahrscheinliche Revolution über 12 Jahre lang aufrechterhalten, weil sie selbst gekämpft und sich selbst verteidigt haben, nicht wegen eines imperialen Schutzherrn.

Dennoch beginnen westliche Politiker zu begreifen, dass der aktuelle türkische Angriff auf Nordostsyrien Da’esh wieder zum Leben erwecken könnte. Am Dienstag drohten die US-Senatoren Chris Van Hollen (Demokratische Partei, Maryland) und Lindsey Graham (Republikanischen Partei, South Carolina) mit Sanktionen gegen den türkischen Staat, sollte Ankara keine Waffenruhe mit der SDF erzielen und die Schaffung einer entmilitarisierten Zone in Nordostsyrien sicherstellen.

Kurdistan geht uns alle an

Syrien und insbesondere Rojava befinden sich an einem kritischen Scheideweg. Dies ist der vielleicht gefährlichste Moment in der turbulenten Geschichte Rojavas, aber nach Assads Sturz bietet sich auch die historische Chance, den grausamen Syrienkrieg zu beenden und allen Gruppen des Landes eine demokratische und friedliche Zukunft zu ermöglichen. Unmittelbar nach der Übernahme von Damaskus durch HTS wandte sich die DAANES an sie und schlug einen innersyrischen Dialog vor, um auf eine gemeinsame politische Lösung hinzuarbeiten.

Bei all den verschiedenen ausländischen Einflüssen, die auf Syrien einwirken, hängt das, was dort geschehen wird, auch von den Stimmen der internationalen Gemeinschaften ab. Der türkische Staat, so viel ist sicher, nutzt seinen wachsenden Einfluss auf HTS, um jegliche Zusammenarbeit mit der DAANES zu verhindern, die zu einer Zukunft für ein autonomes Rojava führen könnte.

In diesem entscheidenden Moment müssen sich Progressive und alle, die sich für die kollektive Befreiung einsetzen, laut und deutlich Gehör verschaffen. Insbesondere wir in den NATO-Mitgliedsländern haben die Verantwortung, uns gegen die illegalen Militäraktionen der Türkei zu stellen, die wir mit unserem Steuergeld mitfinanzieren.

Das Schweigen zu den türkischen Kriegsverbrechen und das regelmässige Verschweigen sowohl der kolonialen Ursachen dieses Konflikts als auch der radikalen politischen Vision der kurdischen Freiheitsbewegung ermöglichen es der Türkei, ihre Unterdrückungsmassnahmen fortzusetzen.

Wir müssen unsere Plattformen nutzen, um die Botschaften aus Rojava zu verbreiten. Aufbruchskräfte auf der ganzen Welt müssen etwas über den demokratischen Konföderalismus und das Paradigma der kurdischen Frauen erfahren. Und auch wenn Sie der Wahlpolitik genauso skeptisch gegenüberstehen wie ich, müssen wir mit unseren gewählten Vertretern sprechen, um sie unter Druck zu setzen, damit sie die Türkei zu einer sofortigen Einstellung der Feindseligkeiten in Syrien drängen, keine Waffen mehr nach Ankara schicken, Sanktionen verhängen und die DAANES politisch anerkennen.

Im Nordosten Syriens steht mehr auf dem Spiel als nur das Schicksal des kurdischen Volkes und die Zukunft Syriens. Es geht darum, ob die Menschheit in der Lage ist, aus der patriarchalen, kapitalistischen und kolonialen Sackgasse auszubrechen und wirksame Alternativen zu schaffen, bevor es zu spät ist. Wenn wir erkennen, dass kein Kampf isoliert betrachtet werden kann, solange alle Kämpfe auf dasselbe globale Machtsystem treffen, sind gemeinsamer Kampf und die Schaffung fundierter Lebensalternativen der natürliche Ausdruck unseres Willens zum Leben.

Oder wie die kurdische Frauenbewegung sagt: «Jin jiyan azadi» – wir erheben uns für «Leben, Frau, Freiheit».


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien am 20. Dezember 2024 unter dem Titel «Rojava Under Attack: Why We Must Stand with Syria's Democratic North-East» zuerst auf Common Dreams. Er wurde von Elisa Gratias übersetzt.


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