Schief, aber immer noch schön

Sri Lanka wird als «paradise island» verkauft. Doch das Paradies kämpft mit der Globalisierung und mit sich selbst. Ein Augenschein

Als Herrmann Hesse um 1910 Ceylon besuchte, glaubte er, das Paradies zu betreten. Er wird wohl nicht der einzige mit diesem Eindruck gewesen sein, denn noch heute positioniert sich Sri Lanka, wie es seit 1972 heisst, als paradiesische Insel. Doch die letzten Flecken dieses Paradieses muss man suchen. Man findet sie in den Nationalparks – wenn einen die Jeeps nicht stören. Und man findet sie in den abgelegenen Dörfern, wo die Menschen von einfacher Landwirtschaft leben und nicht ständig um ihren Verdienst kämpfen müssen, wenn sie etwas zu essen haben wollen.
Sri Lanka, anderthalb mal so gross wie die Schweiz, ist mit 333 Einwohnern pro Quadratkilometer relativ dicht besiedelt; die Schweiz hat einen Wert von 203, Indien 368. Die Städte und Dörfer ziehen sich entlang der Strassen, sodass man in manchen Regionen den Eindruck kaum endender Besiedlung gewinnt. Dazwischen liegen klein parzellierte landwirtschaftliche Flächen und das, was die Einheimischen als «jungle» bezeichnen – Wald mit vereinzelten Hütten und Kleinlandwirtschaft.

Die birnenförmige Insel wird klimatisch geteilt durch ein bis zu 2500 Meter hohes Gebirge. Dort befinden sich die berühmten Teegärten und vergleichsweise kühle Orte, die schon die Engländer für den Rückzug nutzten. Rund zwei Drittel der Landesfläche liegen nördlich davon und sind ausserhalb der Regenzeit relativ trocken. Damit dort Reis angebaut werden kann, haben die sri-lankischen Herrscher im Verlauf der Geschichte Hunderte künstlicher Seen als Wasserreservoirs angelegt – eine bemerkenswerte Leistung. Sri Lanka hat also eine grosse Vergangenheit, aber nicht ganz so gross, wie es sich selbst sehen möchte. Dies zeigt sich an Sigiriya, einer der interessantesten Sehenswürdigkeiten des Landes. Dies ist ein rund 200 Meter hoher Monolith, der aus der Ebene hervorragt und auf dem sich eine phantastische Palastruine befindet samt mehreren grossen Bassins. Die Festung, die sie umgebenden Wassergärten und die befestigten Verwaltungsbezirke von enormer Ausdehnung wurden angeblich von Kasyapa I. zwischen 473 und 491 n.Chr. in bloss 18 Jahren erbaut. Kasyapa, der illegitime Sohn von König Dhatusena, ermordete seinen Vater, vertrieb den rechtmässigen Thronerben und verlegte die Hauptstadt zu dem markanten Felsen. Aber eine so prächtige Anlage an derart unzugänglicher Stelle in so kurzer Zeit zu bauen, das will dem aufmerksamen Besucher nicht einleuchten, selbst wenn es für Kasyapa offenbar wenig Hindernisse gab. Erst gegen Ende der Reise erfuhr ich von einem sehr politisch denkenden ehemaligen Guide, dass es in Sigiriya (und anderswo) Ausgrabungsstätten mit archäologischen Hinweisen auf eine viel ältere Geschichte gibt. Und nach denen hat ein aus Indien stammender früherer Herrscher Sigiriya erbaut. Weil dies nicht sein darf, hat die Regierung weitere Ausgrabungen schlicht verboten. Sri Lanka darf mythologische Wurzeln in Indien haben, aber keine realen historischen.

Sri Lanka möchte seine eigene selbstbestimmte Geschichte schreiben, ohne Rücksicht auf die Vergangenheit. Beispielhaft ist der 26 Jahre dauernde Bürgerkrieg zwischen der singhalesischen, buddhistischen Mehrheit und der tamilischen, meist hinduistischen Minderheit im Norden. Nachdem er 2009 mit der Auslöschung der Tamil Tigers und Tausenden unschuldiger Opfer beendet wurde, wehrt sich die Regierung bis heute gegen eine Aufarbeitung der Ereignisse, wie sie auch von der UNO gefordert wird. Die Gleichberechtigung der Tamilen und eine Versöhnung liegen in weiter Ferne. Dabei existierten während Jahrhunderten parallele Königreiche auf der Insel, die meiste Zeit in Frieden. Die Probleme begannen sich erst zu akzentuieren, als die Engländer, die die Insel 1796 von den Holländern eroberten, Tamilen aus Indien auf ihre Plantagen holten. Weil die Tamilen besser englisch sprechen konnten, waren sie auch überproportional in Wirtschaft und Verwaltung vertreten. Schon die Staatsgründung 1948 erfolgte denn auch mit einer nationalistischen, singhalesischen Note, die sich bis zum Gewaltausbruch steigerte.


Reisen in Drittweltländer sind grundsätzlich problematisch. Touristen aus dem Westen, auch mit normalen Einkommen, sind für die Einheimischen fast unermesslich reich. Das gilt auch für Sri Lanka, das grosse Hoffnungen in den Tourismus legt. Eine Folge davon ist, dass an seinen schönen Stränden von der reichen Elite veritable Touristen-Ghettos mit westlichem Standard und zu westlichen Preisen entstehen. In diesem Markt versuchen auch kleinere Player ihr Glück, Wohlhabende aus Colombo, die irgendwo im Land ein passendes Haus besitzen und es mit kaum geschultem Personal als Guesthouse, Bungalow oder unter phantasievollen Namen anpreisen. Wer beispielsweise auf einer populären Internet-Plattform, deren Namen wir nicht nennen wollen, in Nuwara Eliya im zentralen Hochland eine Unterkunft sucht, findet für den Ort mit gerade mal 25 000 Einwohnern knapp 300 Angebote. Da ist die Orientierung nicht ganz einfach. Wir haben uns auf unserer dreiwöchigen Reise etwa zu gleichen Teilen auf Empfehlungen anderer Reisenden, der zwei Reiseführer «Merian» und «Lonely Planet», von Fahrern und auf (vermeintliche) Fundstücke aus dem Internet verlassen. Die rollende Planung ist vielleicht etwas anstrengend – das nächste Ziel bestimmen, den Transport organisieren, eine Unterkunft finden. Aber von den vielen Reisenden mit fixen Buchungen und Fahrern, denen wir begegneten, wurden wir von allen um unsere Freiheit beneidet. Ich halte es da mit Goethe, der einmal geschrieben hat: «Man reist doch nicht, um anzukommen.»


Weil wir nicht wussten, was für ein Land uns erwarten würde, buchten wir bloss die ersten vier Übernachtungen von zuhause aus, eine in Colombo und drei in der Nähe eines grossen Buddha-Tempels in Alutgama an der touristischen Südwestküste der Insel. Es war ein guter Entscheid. Auch wenn das buddhistische Sri Lanka weniger aufdringlich und überwältigend ist als das hinduistische Indien, braucht so ein Land ein paar Tage, bis man die wichtigsten Spielregeln kennt und mit den Gepflogenheiten zurechtkommt. Zum Beispiel kriegt man in Sri Lanka erstaunlich unzuverlässige Antworten. Will man wissen, ob man diesen oder jenen Weg nehmen soll, kann man ohne Weiteres eine falsche Antwort kriegen oder auch ein simples «ok». Vermutlich liegt das daran, dass die meisten Menschen, obwohl des Englischen ein bisschen kundig, die Fragen einfach nicht verstehen. Und in ein paar Tagen genügend Singhalesisch für eine einfache Verständigung zu lernen, ist aussichtslos. Die Sprache klingt wie ein Maschinengewehr. Und so schwierig muss es auch für die Einheimischen sein, Englisch zu lernen.

Sri Lanka ist gut erschlossen. Die beiden Verkehrsmittel erster Wahl sind der Bus und das Tuktuk. Busse verkehren auch auf Nebenstrassen im Viertel- oder Halbstundentakt. Man stellt sich an eine der vielen Haltestellen und kommt zum Spottpreis weiter, vorausgesetzt man weiss, wohin man will und kann die Destination des Busses entziffern.
Tuktuks sind allgegenwärtig und besorgen die Feinverteilung in dem Land, wo nur wenige ein Auto besitzen. Der Kilometertarif für Einheimische liegt bei 50 Rupien pro Kilometer – 35 Rappen – für Touristen etwas mehr. Die Preise werden vorher vereinbart und sind ausserhalb Colombos generell fair. Damit die Tuktuk-Fahrer auf einen Tagesverdienst von 2500 Rupien kommen, reichen die Fahrpreise allerdings nicht aus. Dies gilt auch für jene Fahrer, die Touristen tage- oder wochenweise im Land herumfahren und dafür 70 bis 80 Franken verlangen, Benzin und Übernachtung inbegriffen. Sie haben deshalb die nicht immer angenehme Tendenz, ihre ausländischen Gäste zu irgendwelchen Geschäften, Hotels und Einrichtungen zu führen, von denen sie Kommissionen erhalten. Die Öle und ayurvedischen Präparate in den Gewürzgärten beispielsweise sind deshalb so exorbitant teuer, weil diese den Fahrern 60 bis 80 Prozent des Umsatzes abliefern. Man versorgt sich also besser auf den Märkten oder in Geschäften, in denen sich auch die Einheimischen eindecken.

Mit der Eisenbahn zu fahren, ist in Sri Lanka ein Vergnügen, das man sich hart verdienen muss. Wer nicht wie die Einheimischen zusteigt, bevor die Aussteigenden den Wagen durch das Gedränge verlassen haben oder sich durch das Fenster einen der raren Sitzplätze ergattert hat, muss stehen. Das kann Stunden dauern, aber es gibt auch Abwechslung. Es kann durchaus vorkommen, dass sich ein Messerschlucker vor einem aufbaut und sein gefährliches Kunststück vorführt. Eine Platzreservation ist nur in den wenigen Zügen möglich, die Erstklasswagen führen. Trotz allem ist eine Zugfahrt eine eindeutige Empfehlung, vor allem auf den kurvenreichen Strecken durch das Hochland.

Wie in fast allen weniger entwickelten Ländern, wäre ich auch in Sri Lanka gerne Umweltminister. Ich würde sofort ein Pfand auf Plastikflaschen erheben, allen Einwohnern einen kräftigen Besen schenken und mindestens einen jährlichen Reinigungstag ausrufen. Bessere Luft wird wohl nicht so einfach zu erreichen sein. Aber die häufigen Atemwegserkrankungen dulden keinen Aufschub.
Sri Lanka geistert als Reiseziel in vielen Köpfen herum, das Bild der paradiesischen Insel wirkt stark. Aber ein Land besteht nicht nur aus Sehenswürdigkeiten, Naturschutzgebieten und touristischen Einrichtungen. Die Hauptsache liegt dazwischen. Und da spielen Regierung und Wirtschaft eine wichtige Rolle. Ich bin mir nicht sicher, ob Sri Lanka, das soeben ein von der lokalen Bevölkerung bekämpftes Investitionsabkommen mit China über fünf Mrd. Dollar abgeschlossen hat, auf dem richtigen Weg ist. Dass ich als anderer, geistig erholter Mensch von grösserer Achtsamkeit zurückgekehrt bin, hat wohl mit unseren häufigen Tempelbesuchen zu tun und der Gelassenheit und Freundlichkeit, mit der die Menschen in Sri Lanka sich gegenseitig und dem Leben begegnen. Aber das ist wohl auch hier zu finden, wenn man genau hinschaut.    

24. April 2017
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