Gelegentlich und unangekündigt erhalte ich Telefonanrufe von Unbekannten, die mich nett und zuvorkommend fragen, ob ich derjenige sei, der ich bin. Sie meinen mich, niemanden sonst, das hört man gern, und so bin ich jedesmal offen für das, was sie wollen.
Aber nur in den ersten Sekunden. Schon ihr nächster Satz bestätigt mir ein weiteres Mal, warum sie so nett sind. Ihre Freundlichkeit ist das Ergebnis interner Schulung. Die Anruferinnen und Anrufer meinen nicht mich, sondern die Kaufkraft, die ich besitze, das Kundensegment, zu dem ich gehöre, und eigentlich wollen sie mir ein Internet-Abo, ein Zeitschriftenabo, Olivenöl aus dem Piemont, eine Lebensversicherung oder wenigstens einen Krankenkassenvertrag verkaufen.
Einige Male habe ich nicht sofort reagiert und sie ausreden lassen. Deshalb weiss ich, was mir angedreht werden soll. Doch inzwischen falle ich ihnen immer ins Wort. Ich mag es nicht, Zielobjekt eines Kalküls zu sein. Berechnendes Nettsein verletzt mich. Man fühlt sich dann wie betrogen. Callcentermenschen begehen täglich hundert kleine Betrügereien. Sie schleichen sich in unsere Gutgläubigkeit. Bis wir es merken.
Deshalb stoppe ich sie mitten im Satz und sage: «Sie müssen nicht weiterreden. Aber ich wünsche Ihnen einen glücklichen Tag!»
Das meine ich wirklich. Doch in den Ohren der Anrufenden tönt es wie Hohn. Niemand lässt sich gern mitten im Satz unterbrechen. Nun sind sie die Verletzten, die doch nur ihren Job tun. Einige geben auch jetzt nicht auf. Weil sie das so gelernt haben. Dranbleiben. Einen Fuss in die Türe halten. Aber die meisten schlucken die Botschaft. Sie hängen auf und murmeln in sich hinein, was sie in Wirklichkeit von mir halten. Sie wünschen mir keinen glücklichen Tag. Darin sind sie wenigstens ehrlich.
Ich möchte sie eigentlich jedesmal fragen, warum sie diesen Job machen. Wie sie das schaffen. Soviel Zurückweisung und Verärgerung, so viele Niederlagen und sowenig Glück, das kein Glück ist. Wie hält man das aus?
Man hält es nicht aus. Doch man tut es. Und ist man einmal soweit, dass man Dinge tut, die man im Grunde nicht aushält, ist vieles möglich. Dann fällt es leicht, einen Fuss in die Türe zu halten, ohne dass man willkommen ist.
Ich werde den Anruferinnen und Anrufern, die mich behelligen, auch das nächstemal wieder ins Wort hinein treten. Ich werde sie mitten in ihrem Kaufangebot unterbrechen und sagen: Darf ich dir etwas wünschen? Ich wünsche dir Einsicht. Die Einsicht in den Wert deines Lebens. In die Kostbarkeit deiner Zeit. Und ich wünsche dir Mut. Den Mut, diesen Job zu entsorgen.
Was sollen die Callcentermenschen antworten? Die interne Schulung hat sie nicht darauf vorbereitet. Sie werden die nächste Telefonnummer wählen. Und dann die übernächste. Und dann die überübernächste. Irgendwann, nach der hundertsten Abweisung kann es sein, dass sie innehalten, in die Leere des Bildschirms starren und einen Augenblick lang an sich selber denken.
Dies ist die letzte Kolumne vor der Sommerpause. Der nächste Beitrag folgt am 21. August. In der Zwischenzeit publizieren wir von unserem Autor in sechs Teilen «Im Land der Vergangenheit»: Eine Entdeckungsreise in die Steinzeit der französischen Dordogne aus dem Buch «Die Freiheit der Sternenberger - Reiseberichte & Dorfgeschichten» von Nicolas Lindt.