Was heißt hier «Scheinmedikament»?
Placebos können unsere Auffassung davon, was medizinisch wirksam ist, revolutionieren. Sie zeugen von der Macht des menschlichen Geistes und der Vorstellung. Wer sagt denn, dass die Wirkung der Schulmedizin nicht auf «Einbildung» beruht? (Wolf Schneider)
In der TIME-Ausgabe vom 23. Februar beschäftigt sich der Leitartikel »The Biology of Belief« eingehend mit Placebos. Er verweist auf den Radiologen und Psychiater Andrew Newberg von der Universität von Pennsylvania, der zusammen mit M.R. Waldman das Buch »How God changes your brain« geschrieben hat. Newberg erzählt von einem Krebspatienten, dessen Tumore zurückgingen, als er versuchsweise ein Mittel (»an experimental drug«) bekam. Als er hörte, dass dieses Mittel bei anderen nicht wirken würde, nahmen sie jedoch wieder zu. Dann gaben ihm die Ärzte steriles Wasser und sagten, das sei ein noch stärkeres Mittel als das erste – die Tumore gingen wieder zurück. Dann erkläre die US Food an Drug Administration das Mittel, das er bekommen hatte, für wirkungslos, daraufhin starb der Patient.
Aus diesen und vielen anderen Geschichten schließt das TIME magazine: »Wenn der Glaube an eine Pille so stark sein kann, dann müsste der Glaube an Gott und religiöse Lehren – der fromme Menschen noch viel tiefer berührt als bloße Pharmazeutik – noch viel stärker sein.« Da haben sie recht, meine ich. Und man weiß auch, wie das funktioniert. TIME: »Der Glaube an eine Heilung führt zu realen, physischen Veränderungen. Als Antwort auf Placebos, von denen der Patient glaubt, sie würden den Schmerz beseitigen, öffnet das Gehirn Rezeptoren für Opiate. Als Antwort auf eine nur scheinbare Parkinson-Operation hebt es die Dopaminausschüttung an, und es wirft sogar die Tumorentwicklung zurück, wenn der Patient an ein Mittel glaubt, das ansonsten ineffektiv ist.«
Die Wirkung eines Schmerz-Placebos, an das der Patient glaubt, kann, in dem sie körpereigene Schmerzmittel freisetzt, stärker sein als die Wirkung eines so genannten wirksamen Schmerzmittels, an das der Patient jedoch nicht glaubt. Optimal ist die Wirkung, wenn der Patient an ein ihm verabreichtes Mittel glaubt, das sogar ohne seinen Glauben wirken würde. Wenn dann noch das Setting optimal ist – das heißt: die Rahmenbedingungen inklusive passender Heilideologie (oder Religion) – dann ist das mögliche Maximum an Heilung erreicht.
Je älter die Tradition der Heilslehre, umso besser für das Vertrauen in sie und somit für die Wirkung der körpereigenen Heilkräfte des Patienten. Und nicht nur der Patient sollte vertrauen: auch der Arzt, die versorgende Familie, am besten die ganze Welt ... Jedenfalls sollte der Berichterstatter vertrauen, der Chronist oder Erzähler der Heilungsgeschichte, der Statistiker, der die Diagramme des Heilungsverlaufs erstellt, weshalb eine wirklich gründliche Placebostudio »dreifach verblindet« ist: Nicht nur der Patient (einfache Verblindung) und das Heilpersonal, welches das Mittel verabreicht (die zweite Verblindung), sondern auch die Personen, die die Ergebnisse auswerten, sollten nicht wissen, welches das »richtige« Mittel und welches »nur scheinbare« ist.
So stark ist der menschliche Geist! So leicht sind wir täuschbar. Ob der Arzt oder die Schwester einen weißen Kittel tragen, wie es in dem Raum riecht, ob es der Chefarzt oder nur der Oberarzt ist, wie alt die Heiltradition ist und wovon der Auswerter des Versuchs überzeugt ist, alles das spielt eine Rolle. Eine Kopfschmerztablette von einer Markenfirma wirkt besser als von einer nicht so bekannten Firma (das Problem der Generika). Eine teuere wirkt besser als eine billige, und auch die Farbe und Größe der Tabletten spielen eine Rolle, ihr Geruch und Geschmack. So stark ist der Geist.
Einige Reiki-Anhänger sind beleidigt, weil ich die Wirkung ihrer Methode mit der von Placebos verglichen habe. Anstatt darauf stolz zu sein, dass auch Reiki beweist, wie stark der menschliche Geist ist! Und die Freiheit darin zu spüren, dass auch andere Glaubensrichtungen ähnlich starke Heilerfolge vorzuweisen haben wie Reiki: Homöopathie, Ayurveda, TCM, EFT und wie sie alle heißen. Obwohl die Klopftherapien auch EFT genannt werden (Emotional Freedom Techniques) fühlen sich die meisten ihrer Vertreter angegriffen, wenn man die Freiheit besitzt, zu sagen, dass auch andere Inszenierungen dieselben Heilerfolge vorweisen können; anders gesagt: dass die Wirkung all dieser Methoden mit der von Placebos vergleichbar ist
Ich vermute, dass ein Grund für die starke Ablehnung von Placebos und anderen Geistheilweisen in den Begriffen »unwirksame« Mittel (so nennen die Pharmazeuten sie) und »Scheinmedikamente« liegen. Unwirksam sind sie nämlich nicht, sie sind sogar sehr wirksam, der Begriff ist also falsch. Er entwertet das Mittel. Unwirksam wären sie vielleicht, wenn sie heimlich verabreicht werden könnten. Und »Schein«-Medikament? Jedes Medikament kommt mit einem gewissen Schein daher, die Erwartung seiner Wirkung ist der Schein, der ihm vorausgeht, der Glanz, die Aura.
Wird der Patient dabei belogen? Kommt drauf an, was der Arzt dazu sagt. Wenn wir mit so strengen Vorgaben an das Heilpersonal herangehen wollen, nur das zu sagen, von dem es zweifelsfrei weiß, dass es wahr ist, dann können wir die meisten von ihnen wohl ausschließen. Welcher Pfarrer weiß schon hundertprozentig, ob das Vaterunser wirklich hilft? Demnach dürfte er als Seelsorger den ihm Anvertrauten das Beten nicht empfehlen und wir müssten nicht nur die Verabreichung von Scheinmedikamenten verbieten, sondern auch die Propagierung von Scheinreligionen und anderen »nur scheinbaren« Welterklärungsmodellen. Denn wenn ein Placebo eine Lüge ist gegenüber dem Patienten (so argumentieren einige Ärzte; damit sei ihnen das Verabreichen von Placebos aus ethischen Gründen nicht möglich), dann sind auch die Religionen und alle anderen Heilslehren Lügen gegenüber den Gott Suchenden.
Ich ahne, dass die Placeboforschung imstande sein könnte, den einseitigen Materialismus der Schulmedizin und Pharmazie vom Sockel zu stoßen. Was ich darüber zurzeit in der Wissenschaftspublizistik lese, nicht nur im oben genannten TIME magazine, sieht ganz danach aus. Schade, dass ein Großteil der Esoteriker und Vertreter der »Energiemedizin«-Lehren darin nicht die Chance sehen, den Ruf ihrer Methoden zu rehabilitieren, die ja wirklich phänomenal wirksam sind. So wie Placebos. Und noch stärker sogar, wenn sie in alte religiöse oder andere Heiltraditions-Settings eingebettet sind.
Es könnte eher so sein, dass ein Kind der Schulmedizin selbst – die Placeboforschung – seine Eltern vom Sockel stößt. Oder sagen wir besser: die einseitige Ausrichtung der Eltern. So lange die Vertreter der so genannten Alternativmedizin sich entwürdigt fühlen, wenn man sie dem Placebotest unterwirft, dürften die Kinder der Schulmedizin dieses Wettrennen um Popularität und Anerkennung in der Mitte der Gesellschaft gewinnen.
Wolf Schneider, Jg. 1952, Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie (1971-75). Hrsg. der Zeitschrift connection seit 1985. 2005 Gründung der »Schule der Kommunikation«: www.connection.de. Kontakt: [email protected], Blog: www.schreibkunst.com
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