Weiter so, Guantanamo! – Die Permanenz der Schande

Es gibt zwei Guantanamo-Präsidenten: George W. Bush, der das Folterlager installieren liess, und Barack Obama, der unfähig ist, es zu schliessen. Die USA scheuen den Bruch mit der Bush-Ära. Zu viele sind verstrickt und fürchten den Blick in den Spiegel, den ihnen traumatisierte Guantanamo-Opfer vorhalten würden. Deutschland indes mauert und agiert nach dem Motto: «So wenige Folteropfer wie möglich aufnehmen». Die Schande ist im Komplizenstaat Deutschland angekommen. (Roland Rottenfußer)

Die Auflösung eines Folterlagers, sollte man meinen, wäre keine allzu schwer zu treffende Entscheidung. Schlichte Menschlichkeit wie auch das Image des eigenen Landes im Ausland sprechen dafür. Man setzt Unschuldige sofort auf freien Fuss, entschädigt sie grosszügig für die erduldeten Leiden (so unzureichend Geldentschädigungen auch sind), überführt die «Schuldigen» in ein gewöhnliches Gefängnis und macht ihnen einen ordentlichen Prozess. Ein hochrangiger Vertreter des Landes entschuldigt sich für die entsetzlichen Verfehlungen unter der Vorgängerregierung und verspricht, alle Täter bis in die höchsten Ränge der Politik zur Verantwortung zu ziehen. Die Traumatisierten bekommen die beste psychologische Betreuung, die verfügbar ist. Restlose Heilung der Seele ist für Folteropfer sowieso nicht möglich. Aber die Befreiten spüren wenigstens, dass die Rechtsnachfolger der Schuldigen tun, was sie können. Sie erfahren etwas wie späte Rechtfertigung und Rehabilitierung.



Wäre eigentlich ganz einfach, oder? Als US-amerikanische Truppen 1945 das Konzentrationslager Dachau befreiten, haben sie da versprochen, das Lager «binnen eines Jahres» aufzulösen? Haben sie die ausgemergelten Gefangenen so lange noch in ihren Zellen gelassen – bewacht durch das alte Wachpersonal? Nein, natürlich wurden die Gefangenen sofort frei gelassen und betreut. Eine Selbstverständlichkeit? Nicht, wenn das Lager Guantanamo heißt. Nicht in den USA der Obama-Ära.



So wird in Guantanamo gefoltert



Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Guantanamo ist kein Vernichtungslager, in dem rund um die Uhr die Schornsteine rauchen. Vergleiche mit Konzentrationslagern der Nazis hinken immer, weil das Ausmass des Grauens dort unvorstellbar war. Und doch: Guantanamo ist ein Lager, in dem Seelen zerstört werden und damit auch menschliche Schicksale: die der Opfer und die der Täter, vom Staat bestellter Folterknechte. Ich muss hier noch einmal ein paar schmerzliche Fakten ins Gedächtnis rufen, nur einen Ausschnitt aus dem Horrorszenario: In Guantanamo werden folgende Foltermethoden praktiziert:


- Waterboarding (scheinbares Ertränken)


- Schlafentzug


- sensorische Deprivation


- Dauerbeschallung mit lauter Musik


- Koranschändung


- Anketten in qualvollen Körperhaltungen


- Entwürdigende Behandlung (Männer müssen Frauenkleider tragen, sich nackt ausziehen, am Hundehalsband auf allen Vieren laufen)


- Wochenlange Dunkelhaft


- Beschmieren mit Exkrementen


- Schläge auf die Hoden


- Zusammenschlagen wegen geringfügiger «Disziplinarvergehen» durch die «Immidiate Reaction Force»


Ich nenne hier nur Vorgänge, die gesichert sind, weil sie von Menschenrechtsorganisationen beschrieben oder von Verantwortlichen selbst zugegeben wurden.



19 Monate nach Barack Obamas Amtsantritt sitzen 180 Gefangene noch immer – ohne Gerichtsurteil. Wie lange dauert ein Tag in einem Gefängnis wie Guantanamo? Wie lange dauert ein Monat? Ein Jahr? Ist die Schliessung eines Folterlagers eine Angelegenheit, bei der man sich Zeit lassen kann? Einige Gefangene berichten, dass die Gewalttaten in Guantanamo seit Obamas Amtsübernahme zugenommen hätten. Als Grund gibt Gefangenen-Anwalt Ahmed Ghappour an, die Wärter wollten vor der befürchteten Schliessung noch «ihren Spass haben». Die Sorge der Folterer um den Verlust ihres Jobs war allerdings verfrüht. Der US-Senat (Demokraten und Republikaner) verweigerte mit 90 zu 6 Stimmen die Gelder für eine Schliessung des Lagers. Wie soll man das verstehen? Rührende Besorgnis um die Interessen der Steuerzahler?



Angst vor dem Blick in den Spiegel



Offenbar fürchten sich die USA vor dem Spiegel, den ihnen entlassene Guantanamo-Häftlinge vorhalten würden: körperliche und seelische Wracks vermutlich, traumatisierte, zerstörte Seelen. Diejenigen, die noch voller Wut sind (wie US-Behörden befürchten), sind wahrscheinlich sogar die Gesünderen, sie sind noch nicht ganz gebrochen. Die Amerikaner, speziell die Republikaner, die den «Keep Terrorists Out of America Act» in den Senat eingebracht haben, wollen diese Menschen nicht sehen. Sie wollen die Saat ihres zerstörerischen Handelns nicht aufgehen sehen – nicht im eigenen Land. Alle, die das System gestützt haben – Politiker, Bürokraten, Gefängnispersonal, Wähler beider Systemparteien, auch die europäischen Verbündeten der USA – sie alle scheuen sich vor dem bitteren Erwachen, das das ganze Ausmass ihrer Schande offenbaren würde.



Hinzu kommt ein ganz banales Eigeninteresse: Bei einem radikalen Systemwechsel, wie er im Übergang zwischen Drittem Reich und Nachkriegsdeutschland stattgefunden hat, müssten die Verantwortlichen eine Strafverfolgung wegen Verfassungsbruch und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fürchten. Diese wäre jedenfalls so in einem Rechtsstaat, der diesen Namen verdient. Deshalb darf es einen Bruch mit der Bush-Ära in den USA (noch) nicht geben. Zu viele waren und sind verstrickt. Und ein Präsident, der das «Land versöhnen» möchte (also die Mörder und Folterer mit ihren Opfern und Gegnern), ist allemal bequemer als ein radikaler Aufklärer im Stil eines Simon Wiesenthal. Ein farbiger Präsident ist im modernen Amerika möglich, nicht aber einer, der es wagen würde, die Werte der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ernst zu nehmen.



Deutschland mauert



Deutschland, angeführt von Innenminister Thomas de Maizière, agiert nach dem beschämenden Motto: «So wenige Folteropfer wie möglich aufnehmen». Und in der Tat: Vielleicht wäre Guantanamo heute schon geschlossen, hätten die «befreundeten Nationen» mehr Kooperationsbereitschaft gezeigt. Das Schlimmste ist: De Maizière handelt in diesem Fall als echter «Volksvertreter»: 51 Prozent der Deutschen wünschen laut einer «Bild»-Umfrage vom Juli nicht, dass Guantanamo-Häftlinge bei uns aufgenommen werden. Nur 39 Prozent würden dies begrüssen. Damit rückt uns der «Geist», der Guantanamo am Leben hält, erschreckend nahe. Dabei weiss jeder, der nur ein bisschen informiert ist, dass die Gefangenen, die zur Entlassung anstehen, sogar von ihren Peinigern für unschuldig gehalten werden.



Stellen Sie sich vor, Sie stehen kurz vor der Entlassung aus einen Folterlager, in dem Sie jahrelang unschuldig einsassen. Sie können weder in Ihr Heimatland zurück noch möchten Sie im Land der Täter leben. Ihre Hoffnung ist, nach unfassbaren Leiden in einem europäischen Land freundlich aufgenommen zu werden. Dann erfahren Sie, dass Sie niemand haben will. Nicht die Politiker der möglichen Gastgeberländer, nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Weil Europa der Terror-Angstkampagne eines Folterregimes glaubt. Anstatt Mitgefühl zu erfahren, werden Sie so zum zweiten Mal zum Opfer gemacht: zum Opfer der Dummheit und Gleichgültigkeit der europäischen Völker und ihrer Vertreter. Es ist eigentlich unvorstellbar. Schon durch die Weigerung, sich ernsthaft von den Verbrechen der Bush- und Obama-Regierung zu distanzieren, ist Deutschland zum Komplizenstaat geworden.



Als Teenie im Foltergefängnis



Omar Khadr war 15, als er nach Guantanamo verschleppt wurde. Er stammte aus einer Familie von kämpferischen Islamisten. Als ich 15 war, erlernte ich von meinem Vater die Liebe zur klassischen Musik. Omar erlernte den Hass auf den Feind und die Notwendigkeit, sich mit der Waffe gegen ihn zur Wehr zu setzen. Er wurde nach einem Gefecht verletzt in Afghanistan aufgefunden. Ihm wurde und wird ein Mord an einem US-amerikanischen Soldaten zur Last gelegt, was bis heute nicht bewiesen ist. Die Morde an einer fünfstelligen Zahl von Afghanen – Soldaten und Zivilisten – durch NATO-Truppen bleiben bis heute ungesühnt (die Angaben über die Zahl der Toten differieren stark). Omar Khadr sass 8 Jahre lang in Guantanamo. Was das bedeutet, habe ich oben anhand einiger «Highlights» anzudeuten versucht. Khadr sieht heute aus wie ein 40-Jähriger, gealtert, verhärmt. Er hat ein Drittel seines Lebens in einem Foltergefängnis verbracht. Niemand hatte es eilig damit, zu klären, ob es für die Vorwürfe gegen ihn überhaupt eine Grundlage gibt. Von milderndem Jugendstrafrecht zu schweigen.



Seit vergangenem Dienstag steht Omar Khadr nun «endlich» vor Gericht. Gefordert wird eine lebenslange Haft. Der Ausgang des Prozesses ist ungewiss. Gewiss ist vorerst nur eines: Das unter der Folter erzwungene Geständnis des Gefangenen darf zur Urteilsfindung herangezogen werden. Obama-Amerika gibt der Folter in den USA damit im Nachhinein die höchsten Weihen und ermutigt diejenigen, die sie fortsetzen wollen. US-Gerichte agieren noch immer auf einem Niveau, das man sonst an Diktaturen beklagt. Und die Welt – geblendet vom Charme des jungen Präsidenten – schaut zu. Nicht nur jeder Mut, auch der natürliche Würgereflex angesichts des unfassbar Ekelerregenden ist Politikern, Medien und Bürgern offenbar abhanden gekommen. Es ist an der Zeit, Klartext zu reden: Es gibt zwei Guantanamo-Präsidenten: George W. Bush und Barack Obama. Der eine hat das Lager installiert, der andere führt es weiter. Selbst wenn gegen Obama, seine Regierung und die beiden Systemparteien der USA sonst nichts einzuwenden wäre – sie müssten sich an dieser Schande messen lassen.



Was ist das für ein Land? Was ist das für eine Welt? Was sind das für Menschen, deren Herzen sich in schon pathologischer Weise verhärtet haben? Der US-Präsident und alle, die an diesen Verbrechen beteiligt waren – und sei es durch Abgabe ihrer Wählerstimme – müssten sich in den Schlaf weinen vor Scham und Entsetzen über das, was geschehen ist. Und dann am nächsten Morgen aufstehen und einen feierlichen Schwur leisten: Nie wieder! Wie es aussieht, haben sich die USA aber ein anderes Motto auf die Fahnen geschrieben: Weiter so!

17. August 2010
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