Wie die Evolution wirklich verlief
Nach über zwanzig Jahren liegt ein Werk der revolutionären Mikrobiologin Lynn Margulis wieder auf Deutsch vor: «Der symbiotische Planet oder: Wie die Evolution wirklich verlief».
Nicht-wissenschaftlichen Lesern ein Buch über die «serielle primäre Endo-Symbiontentheorie» zu empfehlen, mag merkwürdig erscheinen. Die meisten werden davon noch nie gehört haben und können nur raten, dass es wohl irgend etwas mit «Symbiose» zu tun haben könnte, mit dem Zusammenleben ungleichartiger Lebewesen. Das hat es und ist damit ein gesellschaftspolitisch interessantes Thema. Denn die erste wissenschaftliche Arbeit zu diesem Thema wurde von zwölf wissenschaftlichen Verlagen wegen ihres «revolutionären Inhalts» abgelehnt – und sie enttarnt Darwins Evolutionstheorie von Mutation und Selektion im Kampf ums Dasein als Halbwahrheit.
Die erste grosse Forschungsarbeit der 28-jährigen Lynn Sagan, verheiratet mit dem Astronomen Carl Sagan und Mutter zweier Kinder, wurde 1966 von den Fachverlagen abgelehnt, weil ihre Entdeckungen der herrschenden Lehrmeinung der Biologie und Evolutionsforschung zuwiderliefen. Diese Lehrmeinung – dass sich die Vielfalt der Lebewesen auf diesem Planeten durch zufällige genetische Mutationen entwickelte, von denen sich dann die fittesten im Kampf ums Dasein durchgesetzt haben – steht zwar noch heute in jedem Schulbuch, erschüttert wurde sie aber von der Arbeit «Über den Ursprung sich durch Mitose teilender Zellen» («Origin of Mitosing Cells»).
Das war kühn angesichts des Darwin-Klassikers «Über den Ursprung der Arten», denn da alle Spezies aus Zellen bestehen, wollte hier jemand an den wirklichen Ursprung des Lebens zurückgehen, in die Zeit vor 1,6 Milliarden Jahren. Und «revolutionär» war die These der Autorin: dass sich mehrzellige Lebewesen – die Vorfahren aller Pilze, Pflanzen und Tiere – nicht aufgrund von Mutationen und Selektionen entwickelt haben, sondern durch Kooperation und Symbiose. Auf Kooperation aus Kreisen der Evolutionsbiologie konnte eine Wissenschaftlerin mit einer solchen These nicht setzen – nicht nur, weil sie unbekannt und weiblich war, sondern weil sie an einem grundlegenden Paradigma des Darwinismus rüttelte: dem Kampf ums Dasein als einzigem Motor der Evolution.
Doch die orthodoxe Fachwissenschaft hatte ihre Rechnung ohne diese Kämpferin gemacht, die nach ihrem zweiten Ehemann jetzt Lynn Margulis hiess und nicht nur zwei weitere Kinder bekam, sondern auch unermüdlich weiter forschte und Bestätigung über Bestätigung für ihre These fand. So zählt die «serielle primäre Endo-Symbiontentheorie» zwar heute zum Standardwissen der Biologie, die Revolution aber, die die 2011 verstorbene Lynn Margulis im Sinn hatte, ist noch lange nicht am Ziel.
Auf Augenhöhe mit Darwin
«Endo» heisst «innen». Das Neuartige an Margulis’ Theorie war: die in der Biologie seit langem bekannten Formen des Zusammenlebens verschiedener Lebewesen ins Innere der Zelle zu verlegen – und zwar nicht als Ausnahme, sondern als Regel (seriell), nicht zufällig in irgendwelchen Nischen entstehend, sondern ursprünglich (primär). Bereits in den 1920er-Jahren hatten russische Geo- und Mikro-Biologen in diese Richtung geforscht, jetzt aber konnte mittels Gen-Analysen sehr viel genauer ermittelt werden, wie vor 1000 Millionen Jahren aus den ersten Einzellern und Bakterien mehrzellige Lebewesen entstanden. Margulis konnte zeigen, dass die kleinen Organe der Zellen – die Mitochondrien der atmenden Tiere und die Chloroplasten der Photosynthese treibenden Pflanzen – einst freilebende Bakterien waren, die von Einzellern nicht «gefressen», sondern «eingebaut» wurden. Die Bakterien behielten ihre eigene DNA, gaben nur kleine Teile davon an die Wirtszellen ab, und fortan entwickelten sich die beiden eigenständigen Lebewesen in dieser Endosymbiose.
Diese Entdeckung und die darauf aufbauende Endo-Symbiontentheorie lag nicht nur auf Augenhöhe mit der Theorie von Wallace und Darwin über die Entstehung der Arten, sondern stellte deren «Motoren» der Mutation und Selektion mit der Symbiose einen noch grundlegenderen Antrieb voran. Das war zwar ein massiver Angriff auf das herrschende darwinistische Muster, aber auch ein Glücksfall. Denn etwa zur selben Zeit, als Lynn Margulis damit an die Öffentlichkeit trat und vom akademischen Establishment scharfen Gegenwind bekam, hatte die NASA einige Forscher beauftragt, ernsthaft über die Möglichkeiten von Leben auf anderen Planeten nachzudenken. Einer von ihnen war der britische Astrophysiker und Erfinder James Lovelock, dessen Electron Capture Detector (ECD) es ermöglichte, die atmosphärische Gaschemie des Planeten zu messen. Über die Frage, warum etwa die Atmosphäre von Mars und Venus ganz aus CO2 und nur aus Spuren anderer Gase besteht, die der Erde aber aus einem komplexen Gemisch von CO2, Sauerstoff und weiteren Gasen, rätselten er und seine Kollegen seit Jahren. Wie kann eine grösstenteils von Wasser bedeckte Steinkugel ständig dieses wohltemperierte, subtile Gemisch unverträglicher Gase, das wir zum Atmen brauchen, aufrechterhalten, wie verhindert sie ein Umkippen in das tödliche Kohlendioxid-Einerlei ihrer Nachbarn Mars und Venus? Die Antwort kam, als James Lovelock 1970 Lynn Margulis traf, «die erste Biologin, die ein Gefühl für den Organismus hatte. Lynn eröffnete mir die Welt der natürlichen Mikroorganismen.»
Kein Mythos, sondern strenge Naturwissenschaft: Gaia
Damit hatte er das Steuerungs- und Rückkopplungssystem der Atmosphäre gefunden, und mit Lynn Margulis entwickelte er jetzt die Hypothese, das es sich bei der Erde mit ihrer Biosphäre und Atmosphäre um ein sich selbst regulierendes Gesamtsystem handelt. Lovelocks Nachbar im südenglischen Cornwall, der Literaturnobelpreisträger William Golding, schlug dafür den Namen «Gaia» vor. Als Lovelock und Margulis mit der «grossen» Gaia-Theorie Mitte der 1970er-Jahre an die Öffentlichkeit traten, ernteten sie von der Gemeinde der Wissenschaftler noch mehr Hohn und Spott als zuvor Margulis mit ihrer «kleinen» Endosymbiose. Selbst Wohlmeinende mochten Gaia allenfalls als eine schöne Metapher, nicht aber als beweisbares Modell gelten lassen, und Kritiker taten es von vornherein als Anti-Wissenschaft ab. Doch Lovelock und Margulis hatten zwei sehr entfernte wissenschaftliche Welten – die planetarische, atmosphärische Gas-Chemie am Himmel und die Biologie der Mikroben und Bakterien am Boden – miteinander vereint und eine neue geo-physiologische Perspektive auf die Frage eröffnet, was die Erde und Atmosphäre eigentlich sind, nämlich keine Fertigprodukte, sondern biologische Konstruktionen, an deren Stabilität seit 3,5 Milliarden Jahren gebaut wird – von den Mikroorganismen.
In «Der symbiotische Planet» erzählt Lynn Margulis zwei Geschichten: ihren persönlichen Weg als Wissenschaftlerin durch die Bildungsinstitutionen und das Ringen um die Anerkennung ihrer revolutionären Theorie auf der einen und die Geschichte der Evolution des Lebens auf unserem Planeten in seiner «ganzen symbiogenetischen Pracht» auf der anderen Seite. Wir lernen nicht nur eine aussergewöhnliche Forscherin kennen, die die Tunnel-Existenz von Wissenschaftlern möglichst vermied, sondern auch eine andere Biologie. Gleichzeitig hat Lynn Margulis aber immer gegen eine mythisch-religiöse Verbrämung von Gaia plädiert: «Ich kann es nicht nachdrücklich genug betonen: Gaia ist kein einzelnes Lebewesen. Meine Gaia ist keine unscharfe, malerische Vorstellung von einer Mutter Erde, die uns ernährt. Die Gaia-Hypothese ist strenge Naturwissenschaft.» Das ist sie in der Tat, wie das Buch zeigt – und das bleibt sie auch, wenn Lynn Margulis sich als «Anti-Darwinistin» bezeichnet, was ihr in Amerika Beifall von der falschen Seite, von den «Kreationisten» einbrachte. Doch die Evolutionslehre à la Margulis braucht keinen lieben Gott als intelligenten Designer des Lebens, sie hat Mikroben und Bakterien. Sie braucht auch keine magisch mit Bewusstsein aufgeladenen Moleküle wie die «egoistischen Gene», die einer der Hauptwidersacher ihrer Theorie, der Neo-Darwinist Richard Dawkins, erfunden hat – Margulis hat die Symbiogenese, in der sich die Lebewesen nicht egoistisch im Kampf, sondern kooperativ in Win-win-Situationen entwickeln. Sie bezweifelt nicht die Darwin‘sche Lehre, sie hält sie nur für unvollständig und für ungeeignet, die Evolution des Lebens zu erklären. Und sie hat mit «Gaia» den Denkrahmen geschaffen, der angesichts der Klimaerwärmung notwendiger denn je ist, um den Erhalt des Lebens auf diesem Planeten zu sichern. Dafür gilt es mit Lynn Margulis im Schlamm zu wühlen und das Wimmeln der Wesen in den Blick zu nehmen. Denn am Ende, so Peter Berz in seinem Nachwort zu diesem Buch, «werden uns wohl nur die Einzeller aus dem Schlamassel holen.»
Lynn Margulis: Der symbiotische Planet oder: Wie die Evolution wirklich verlief, Westend Verlag,
208 S., CHF 30/EUR 20.–
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können