Wie wär's mit Internet-Fasten?

Zwei junge Bhutaner ergründeten das mögliche Bruttosozialglück in der Schweiz. Ein Gespräch mit ihnen führte Ute Scheub

Die beiden jungen Bhutaner sitzen in einem Zürcher Hinterhof, lachen, machen Witze und vermitteln einen sehr entspannten und reflektierten Eindruck. Die 29-jährige Wesel Dema und der 28-jährige Drona D. Chetri sind so etwas wie Glücksarbeiter: Sie engagieren sich für das Bruttosozialglück – in dem kleinen Himalayastaat und weltweit. Auf Einladung einer Schweizer Organisation sind sie drei Wochen in Italien und der Schweiz, um zu verstehen, wie der Westen «tickt» und ihre Arbeit besser auf ihre internationalen Gäste ausrichten zu können.

Das kleine Königreich im Himalaya ist weltweit das einzige Land, das die Erhöhung des Bruttosozialglücks in seine Verfassung eingeschrieben hat – deshalb wird es inzwischen überlaufen von Glückssuchenden aus aller Welt. Eine «Glücksbehörde» misst mittels umfangreicher Befragung aller rund 800 000 Bewohner, ob diese zufrieden sind mit ihrem Leben, ihrer Gemeinschaft, ihrer Gesundheit, den Schulen, der Regierung. Die 29-jährige Wesel Dema ist die Programmverantwortliche einer vor zweieinhalb Jahren gegründeten NGO, dem «Gross National Happiness Centre», das Interessierten aus dem In- und Ausland in Workshops vermittelt, wie man im Alltag mehr Bruttosozialglück erreichen kann – etwa mittels Meditation und Achtsamkeitsübungen. Ihr 28-jähriger Kollege Drona D. Chetri, ein studierter Agrarökologe, kooperiert mit der indischen Saatgutinitiative von Vandana Shiva, um Bhutans Landwirtschaft bis 2020 zu
100 Prozent auf Ökolandbau umzustellen.
Was fällt ihnen auf in der Schweiz? Wie könnten die Menschen hier ihr Bruttosozialglück steigern? Den beiden Bhutanern ist bewusst, dass die Schweizer laut Glücksforschung zu den zufriedensten Menschen der Welt gehören. Die Natur sei schön, alles sei sehr sauber, die Leute seien wohlhabend, die Arbeit-Freizeit-Balance sei ausgeglichen, sagen sie. Aber im Konzept des Bruttosozialglücks, wie es auch in ihrem Zentrum gelehrt wird, seien drei Gleichgewichte entscheidend: zwischen Mensch und Natur, zwischen Menschen untereinander und das zum eigenen Selbst; und vielen westlichen Menschen fehle es offenbar an intakten Beziehungen.

In der Öffentlichkeit seien die Leute nur mit sich selbst und dem Smartphone beschäftigt, haben sie beobachtet. Mit der Familie zusammensein oder mit Freunden und in Gemeinschaften, «sharing and talking», sagt Drona, das sei doch eines der wichtigsten Elemente der Lebenszufriedenheit. Doch hier habe er den Eindruck, dass die Leute «tausend Freunde auf Facebook und real niemanden haben». Auch die familiären Beziehungen seien offenbar nicht besonders intakt. Dass ältere Menschen in Altersheime abgeschoben würden, könne er nicht verstehen. So etwas würde er seinen Eltern niemals antun.
Alle wollten hier immer «on top» sein, ergänzt Wesel. «Die Menschen verdienen so viel Geld – aber für was?«, fragt Drona. «Alle rennen immerzu. Wenn sie den Zug verpassen, denken sie, die Welt bricht zusammen. Sie haben keine Zeit und ernähren sich von krankmachendem Junkfood, und später müssen sie ihr ganzes Geld für ärztliche Versorgung und Altersheime ausgeben.»
In ihrem Zentrum gingen sie anders mit dem Alltag um, berichtet Wesel. «Wir beginnen jeden Morgen mit Meditation und einem kurzen Gebet.» Sie übten sich in Achtsamkeit – gegenüber der Arbeit, dem Essen, dem Körper, der Natur, der Gemeinschaft. Es sei wichtig, den eigenen Körper zu lieben, ihm etwa einen Kurzschlaf nach dem Essen zu gönnen. Das würden sie auch ihren internationalen Gästen vermitteln, mit denen sie sich in kleinen Gruppen in schöne ruhige Orte zurückzögen. «Wir geben ihnen die Möglichkeit, in Gemeinschaft zu leben. Und wenn man Leuten diese Chance gibt, lieben sie es, zu teilen, auch ihre Emotionen. Manchmal weinen sie sogar.»

Selbstkontrolle zu lernen, auch vor dem Computer, sei ebenfalls sehr wichtig, findet Wesel. Hierzulande würde das Leben zu sehr von Technologie bestimmt, ergänzt Drona. «Auf der Strasse hört man vor allem technische Geräusche – die Leute unterhalten sich kaum», ist ihm aufgefallen.
Wie wäre es denn, schlägt Wesel vor, wenn die Schweiz einfach mal ein «Internet-Fasten» einführen würde? Am besten einen Monat lang. Aber zur Not würde auch eine Stunde reichen. «Und hinterher sollten alle gemeinsam darüber reden, was passiert ist.»

Mehr Informationen auf: www.gnhcentrebhutan.org

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29. September 2016
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