Steigende Krankenkassenprämien? Es geht auch anders

Viele Menschen in der Schweiz ächzen unter den steigenden Krankenkassenprämien. Die Krankenkasse Turbenthal zeigte 30 Jahre lang, dass es auch anders geht.

Krankenkasse Turbenthal
Tösstalstrasse 147, ehemaliger Sitz der Krankenkasse Turbenthal. Foto: Wikimedia

Noch vor 50 Jahren hatten viele Gemeinden in der Schweiz ihre eigenen (Kranken)kassen. (1) Zeitweise gab es über 1‘000 Kassen, von denen nach Fusionen und Übernahmen heute nicht mehr viele übrige geblieben sind. (2)

Bis 2018 führte Daniel Rüegg in Turbenthal eine dieser 1‘000 kleinen Krankenkassen. Die Krankenkasse Turbenthal wurde 1888 gegründet und in den letzten 34 Jahren von Daniel Rüegg als Präsident und Geschäftsführer geführt, bis er sie auf Geheiss des Verwaltungsgerichtes im Jahre 2018 schliessen musste. Daniel Rüegg hatte die Krankenversicherung mit ca. 400 Versicherten und einem Kostenfaktor zuletzt von monatlich Fr. 260.- Prämie geführt. 

Daniel Ruegg
Daniel Rüegg, Screenshot SRF

Er besass kein Fax, kein Handy, keine digitalen Medien, keine Website. Er arbeitete mit einer Schreibmaschine und einem Telefonanschluss sowie mit Karteikarten. Er musste schliessen, nachdem das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Krankenkasse Turbenthal mehrmals aufgefordert hatte, ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen. Das bedeutete vor allen Dingen, dass er ein elektronisches Datensystem hätten einführen müssen. Eine solche Einführung hätte laut Daniel Rüegg die Verwaltungskosten um 65% ansteigen lassen und ein Ende der günstigen Krankenversicherung bedeutet.

Wie hat Daniel Rüegg gearbeitet? Er kannte alle 400 Versicherten persönlich. Erhielten diese vom Arzt eine Rechnung, zahlten sie diese und forderten hernach bei der Krankenkasse Turbenthal den ihnen zustehenden Betrag ein. Herr Rüegg prüfte die Rechnung und zahlte den gesetzlich geforderten Betrag: die Arztkosten abzüglich die Fr. 300.- Franchise pro Jahr und abzüglich 10% der Arztkosten bis zu einem Kostendeckel von Fr. 1‘000.- pro Jahr. 

Die Versicherten erhielten eine Kopie der Einzahlung. Es oblag in ihrer Verantwortung, die Korrektheit der Daten zu überprüfen. Grundsätzlich legte Daniel Rüegg grossen Wert auf die Eigenverantwortung der Versicherten. Das bedeutete, dass die Rechnung den Versicherten zugeschickt, von denen überprüft, bezahlt und hernach der ihnen zustehende Betrag von der Krankenversicherung bezahlt wurde. Die automatische Übermittlung der Rechnungsdaten an die Krankenversicherung, die Zahlung durch die Krankenversicherung an den Arzt und eine abschliessende Information des Kunden über die durchgeführte Zahlung sowie die Rückforderung der Franchise und des Selbstbehaltes von der Krankenversicherung – so wie es heute in den meisten Fällen üblich ist – steht diesem Prinzip der Eigenverantwortung des Versicherten entgegen. 

Hatte ein Kunde Anspruch auf eine Prämienverbilligung beim Kanton, rechnete Daniel Rüegg dies mit dem Kanton manuell ab, was ohne Probleme möglich war. Daniel Rüegg arbeitete nach dem Solidaritätsprinzip. Dies bedeutete: Jeder Versicherte, ob jung oder alt, zahlte den gleichen Versicherungsbeitrag pro Monat. Dieser lag bis 2018, als er die Krankenkasse schliessen musste, bei Fr. 260.- pro Monat lag. (Und jeder zahlte dieselbe Franchise von Fr. 300.-) 

Er prüfte jede Rechnung selbst und da er selbst in den lokalen Verhältnissen lebte und sich dort auskannte, klärte er im Allgemeinen Unstimmigkeiten persönlich ab. So fiel ihm z.B. auf, wenn bestimmte Rechnungen bei der Spitex stetig kostspieliger wurden. Er suchte sodann mit der Spitex des Ortes das Gespräch, und in den meisten Fällen fand sich eine Lösung, die zur Folge hatte, dass die nachfolgenden Rechnungen kostengünstiger ausfielen. 

Selbstverständlich waren jüngere Menschen weniger oft krank als ältere Menschen. Da das Prinzip seiner Krankenkasse jedoch darin lag, dass ein Versicherter viele Jahre bei der gleichen Versicherung blieb, hatte dies zur Folge, dass der junge Versicherte, möglicherweise einige Jahre lang für die älteren Kranken mitzahlte. Aber wenn er selbst dann älter wurde, zahlte die nächste Generation für ihn mit. Das ist sehr gut aufgegangen. 

Ausserdem fand ein finanzieller Ausgleich zwischen jungen und alten Versicherten bis 1996 über staatliche Ausgleichszahlungen statt. Heute findet der Ausgleich unter den Versicherern statt und bezieht sich auf die Krankheit. Daniel Rüegg war der Meinung, dass Prävention nicht in die Krankenversicherung gehört, sondern privat bezahlt werden muss oder durch den Staat, so wie früher die Schulimpfungen. Präventionskosten übernahm seine Krankenkasse nicht.

Natürlich ist es auch vorgekommen, dass Mitglieder von ihm erwarteten, dass er einen massgeblichen Anteil z.B. an einem Fitnessabo zahlen möge. Er hat dann dem Versicherten vorgerechnet, dass bei einer Prämieneinzahlung von im Jahr Fr. 3‘000.- allein der Fitnessaboanteil Fr. 500.- betragen könnte. Er fragte dann den Kunden, wie dann die Kranken bezahlt werden könnten, z.B. ein Dialysepatient, der unter seinen 400 Versicherten war, dessen Kosten im Jahr Fr. ca. 140‘000.- betrugen. 

Diese vielen persönlichen Gespräche führten dazu, dass die Versicherten das Prinzip dieser Krankenversicherung gut verstanden und auch akzeptierten. Die grossen Versicherungen warfen ihm jeweils vor, er habe ja nur Gesunde in seiner Versicherung. Das traf aber nicht zu. Allgemein z.B. rechnet man auf 2‘000 Versicherte einen Dialysepatienten. Daniel Rüegg hatte unter seinen 400 Versicherten einen Dialysepatienten und konnte diese Behandlung mit seiner kleinen Krankenkasse übernehmen – wie auch andere Behandlungen, auf deren Kostenerstattung durch die Grundversicherung seine Versicherten das Recht hatten. Grosse Profite waren mit diesem Prinzip nicht zu machen. Das war auch nicht ihre Absicht. Die Krankenversicherung war als Verein organisiert und unterschied sich damit grundsätzlich von der Art und Weise, wie heute unsere Krankenversicherungen arbeiten.

Das Prinzip von Daniel Rüegg funktionierte und hätte gerade in heutigen Zeiten neben dem Modell, welches die grossen Krankenversicherungen mit Hilfe der Digitalisierung praktizieren, als Alternativmodell «Nachahmer» finden können. Dies wäre eine Bereicherung für die Bevölkerung. In diesem Fall würde eine echte Wahl für die Versicherten bestehen: Daniel Rüegg löste vieles, was heute den elektronischen Medien übertragen wird, im persönlichen Gespräch und dank seiner persönlichen Beziehungen in der Gemeinde zufriedenstellend und kostengünstig. 

Diese individuelle Beziehungsgestaltung auf dem Hintergrund fundierter Sachkenntnis als Alternativmodell ist durch die Digitalisierung und auch durch künstliche Intelligenz nicht zu ersetzen. Die Bevölkerung darf nicht gezwungen werden, sich auf die Digitalisierung zu verlassen und diese in Anspruch nehmen zu müssen. Sie muss die Wahl haben. Die Menschen müssen die Freiheit haben, sich zu entscheiden zwischen einer Krankenversicherung, die fachkundig, nicht digital, sehr persönlich und beziehungsorientiert arbeitet oder einem grossen Krankenversicherungskomplex, der fachkundig ist und digital betrieben wird, ggf. profitorientiert ist.

Wie Daniel Rüegg bis 2018 seine Krankenkasse Turbenthal über 30 Jahre führte, soll nicht in Vergessenheit geraten, sondern in unserer Gesellschaft wieder die Chance bekommen, sich etablieren zu können. Angesichts der gegenwärtigen grossen Diskussion um Kostensenkungen im Krankenversicherungswesen sollten die Gesetze so angepasst werden, dass die Gründung einer Krankenversicherung wie Daniel Rüegg sie jahrzehntelang erfolgreich und kostengünstig betrieben hat, ermöglicht wird.