Kundus – Der Mörder heißt Gehorsam
Kundus, die Bombardierung zweier Tanklastzüge am 4. September, die rund 140 Menschen das Leben kostete, war vermutlich das grösste deutsche Kriegsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch weigern sich Politik, Militär und Medien, eine grundsätzliche Debatte über Sinn und Unsinn des Gehorsams zu führen. (Roland Rottenfußer)
140 Tote. Ungefähr. Die meisten davon Zivilisten. Und die Tatsache, dass man die «Stückzahl» nicht exakt weiß, macht die grauenhafte Tat nicht besser. Für diejenigen, die den Mord an Männern, speziell an Taliban, nicht weiter bemerkenswert finden, füge ich hinzu: Es waren auch Frauen und Kinder dabei. Man stelle sich eine Menschenansammlung vor – etwa in einem voll besetzten Café in einer deutschen Stadt. Frauen, Kinder, Männer, ältere Menschen … Nicht alle davon mögen uns sympathisch sein, aber es sind Menschen – jeder davon mit seinem eigenen Schicksal, seiner Fähigkeit zu lieben, Freude und Schmerz zu empfinden, mit Vorlieben und Abneigungen, Träumen und Zukunftsplänen. Plötzlich schlägt eine Bombe ein. Die meisten werden sofort zerfetzt, andere werden durch die Detonation „nur“ verstümmelt. Sie krümmen sich vor Schmerz und schreien. Einige von ihnen sterben später im Krankenhaus, andere überleben, jedoch ihr Leben lang behindert und entstellt.
Wenn Sie das mit angesehen hätten: Welches Argument würden Sie als Rechtfertigung für die Ermordung dieser Menschen akzeptieren? Würde Sie der Hinweis beruhigen, dass die Bomberpiloten nicht willkürlich, sondern aufgrund eines Befehls gehandelt hätten? Und wäre die Sache für Sie erledigt, wenn Sie wüssten, dass den Angehörigen der Ermordeten vom Verteidigungsminister des Täterlandes finanzielle Entschädigung zugesichert wurden? Wenn es um einen Menschen ginge, der Ihnen nahe steht, durch welche Geldsumme genau würden Sie sich entschädigt fühlen? (Für eine von US-Militärs «aus Versehen» getötete Frau und zwei Kinder bekamen Angehörigen jüngst von der Regierung 20.000 Dollar angeboten.)
«Befehlsnotstand» reloaded. Es ist wirklich unerträglich, dass dergleichen, von Deutschland ausgehend, heute wieder geschieht. Als bedürfe es in einem Land wie Deuschland noch topaktueller Belege für den mörderischen, erniedrigenden Unfug, den blinder Gehorsam darstellt. Die Nürnberger Prozesse waren historisch u.a. deshalb so bedeutsam, weil man die üblichen Rechtfertigungsgründe der Angeklagten («Befehlsnotstand») nicht gelten ließ und auf die individuelle sittliche Entscheidung des Einzelnen verwies. Es konnte doch nicht sein, dass es Tausende von Tätern, jedoch nur einen einzigen Schuldigen gab: Adolf Hitler. Warum also wird eine solche Frage heute nicht mehr gestellt? Ist zu viel Zeit vergangen? Berufen sich unsere «Volksvertreter» nur dann auf die historische Verantwortung der Deutschen, wenn sie dem keine konkreten Taten (oder Unterlassungen) folgen lassen müssen?
Es geht mir hier nicht um Strafen für die Täter – einfach weil ich generell misstrauisch bin gegenüber einer Denkweise, die alle Probleme und Verirrungen des Menschen mit Strafen zu lösen versucht. Die Täter, und zwar Befehlshaber wie Ausführende, müssen durch die Ereignisse in ihrer seelischen Integrität schwer geschädigt worden sein. Falls sie das nicht so empfinden sollten, sind sie erst recht zu bedauern, sie wären dann nämlich innerlich schon vollkommen ausgehöhlt, entmenschlicht. Nicht um Strafen also geht es, und trotzdem: Wenn unsere Gesellschaft nicht in der Lage ist, die Täter wenigstens moralisch zu verurteilen, wäre es nur konsequent, im gleichen Atemzug zu sagen, dass die Nürnberger Urteile Unrechtsurteile waren. Dass für die damals Verurteilten eine nachträgliche Rehabilitierung anstünde. Sie waren doch nur Befehlsempfänger. Oder?
Politiker waschen ihre Hände in Unschuld. Doch «wer aufrecht geht ist in jedem System nur historisch hoch angesehen» (Konstantin Wecker), und wer sich duckt und auf Befehl mordet, muss wohl nur historisch mit einer angemessenen Verurteilung rechnen. Als einen «Fehler» wertet der deutsche Verteidigungsminister zu Guttenberg ohnehin nur das Verhalten der mittleren Ebene der Befehlskette, in diesem Fall Oberst Klein, der die Bombardierung anordnete. Die Ausführenden, die amerikanischen Piloten, die die Bomben abwarfen, standen unter Befehlszwang, sie waren also nicht verantwortlich. Oder? Seltsamerweise übertrafen die deutschen Vorgesetzten diesmal die US-Untergebenen an «Härte», denn die Piloten hatten bis kurz vor dem Angriff noch nachgefragt, ob es nicht schonendere Lösungen gäbe (tief fliegen und die Zivilisten vertreiben z.B.). Pariert haben sie dennoch. Befehl ist eben Befehl.
Und diejenigen, die diesen ganzen irrsinnigen Krieg angeordnet haben, die Bush und Obama, Merkel, Jung und zu Guttenberg – sie gelten nicht als schuldig, weil sie eine solche Eskalation natürlich nicht gewollt haben. In diesem Krieg werden Menschen bewusst einem unerträglichen Dilemma ausgesetzt: Soll ich nicht schießen und dadurch meine eigenen Leute gefährden? Oder soll ich schießen und dabei den Tod Unschuldiger riskieren? Sind nur diejenigen schuldig, die in diesem Dilemma falsch entschieden haben oder auch diejenigen, die es inszeniert haben? Wer als Politiker Menschen auf diese Weise missbraucht, verletzt auf die gröbste nur denkbare Weise das Gebot, Schaden von den Menschen zu wenden, die ihm anvertraut sind.
Die Selbstgerechtigkeit der «Guten». Mir ist keineswegs entgangen, dass die Dimension der Verbrechen im Dritten Reich eine ungleich grössere war. Dem einzelnen Opfer allerdings – oder dem Angehörigen, der ein Kind, einen Sohn, eine Ehefrau verloren hat – hilft es nicht, zu wissen, dass er nur einer von 140 Betroffenen ist, nicht einer von 55 Millionen. Es hilft ihm auch nicht, zu wissen, dass die Mörder nicht im Auftrag einer Diktatur, sondern eines leidlich demokratischen Regimes und in «guter Absicht» handelten. Im Gegenteil. Was sollten die Angehörigen der Opfer denn denken, wenn sie erfahren, dass die Politiker an der Spitze der Befehlskette von «uns», also von der Mehrheit der Bürger des Angreiferlandes gewählt wurden?
Und wie gut sind die deutschen Absichten wirklich? Ich leugne nicht, dass die Taliban Frauen unterdrücken. Aber ich bezweifle entschieden, dass sich westliche Politiker im Geringsten um verschleierte Frauen scheren würden, stünden nicht andere Interessen auf dem Spiel – Öl, Macht, Waffenverkäufe. Das Töten afghanischer Frauen ist auch gewiss keine angemessene Methode, um ihnen Unterdrückung zu ersparen. Und wenn den globalen Führungsmächten Menschenrechte so wichtig wären, müssten sie fast überall auf der Welt einmarschieren – nicht zuletzt in den USA selbst.
Menschen als Gehorchmaschinen. Noch einmal und unabhängig von der Frage nach der Schuld: Diese Menschen könnten heute noch leben, hätte ein Akt des Ungehorsams bewirkt, dass der Massenmord nicht nur aufgeschoben, sondern aufgehoben worden wäre. Trotzdem – und das ist eine Schande für ein Land, das gern an Jubiläumstagen rührselig der Mauertoten und der Ermordung der Geschwister Scholl gedenkt – unterbleibt bis heute eine breite Diskussion über das Prinzip Gehorsam. Hat man solche Angst vor dieser Diskussion? Hat man Angst, die Frage zu stellen, ob es nicht einer Demokratie schlicht unwürdig ist, noch immer junge Männer in umzäunten Ausbildungslagern zu entmenschlichten Gehorchmaschinen zu drillen?
Selbst diejenigen die das Prinzip militärischer Disziplin und die Kriegsgründe im Fall Afghanistan bejahen, müssten doch jetzt einräumen, dass Ungehorsam als legitimes Korrektiv zu absurden Entscheidungen der Oberen immer eine Möglichkeit sein muss. Die Option Ungehorsam müsste Teil jeder staatsbürgerlichen und sogar militärischen Ausbildung sein, und es müsste eine Rechtsprechung geben, die den Ungehorsam in einem Fall wie Kundus eher belohnt als bestraft. Für einen angeblich freiheitlichen Rechtsstaat wirft die Überlegung «Was wäre gewesen, wenn?» peinliche Fragen auf. Nehmen wir an die Bomberpiloten hätten den Befehl verweigert? Welche Strafe genau hätte in den USA darauf gestanden, unschuldige Menschen nicht zu töten? Und welche in Deutschland?
Nie wieder «Nie wieder Krieg». Mit Hilfe welcher menschenunwürdigen Gehirnwäschemethoden bringt man junge Männer dazu, dass sie im Zweifelsfall eher ihre Täterschaft in Kauf nehmen als die möglichen Folgen ihres Ungehorsams? Sollen wir etwa Schritt für Schritt daran gewöhnt werden, dass das einzelne Menschenleben nichts mehr zählt? Beginnen wir uns damit abzufinden, dass sich eine inhumane Parallelwirklichkeit – Krieg genannt – etabliert, in der alles, was wir uns in Jahrzehnten an Feinfühligkeit und ethischen Skrupeln erarbeitet haben, nicht mehr gilt?
Nochmals: Ein «Nein» hätte genügt, und diese Menschen hätten weiterleben können. Nur das zählt, und wer meint, dieser ganz unmittelbare, «naive» Impuls der Empörung müsse hinter dem «höheren Zweck» geostrategischer Erwägungen zurückstehen, hat im gleichen Augenblick einen Teil seiner Menschlichkeit aufgegeben. Wenn es nämlich überhaupt so etwas wie einen positiven Nebeneffekt an dem ganzen entsetzlichen Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs gegeben hat, dann diesen: dass Rassismus, Militarismus, das Führerprinzip und blinder Gehorsam «für immer» als diskreditiert galten. Jedenfalls war das lange Zeit so. Es stellte sich ein «Nie wieder»-Effekt ein, der unserer Weltregion tatsächlich eine längere Epoche relativer Menschlichkeit bescherte. Wir sind dabei, all das aufzugeben und die Opfer der Kriege nochmals zu beleidigen, da ihr Tod nun noch sinnloser erscheint als zuvor.
Hängt die Fahne umgekehrt auf. Im kommenden Sommer wird das Land anlässlich der Fussball-WM wieder in einer schwarz-rot-goldenen Fahnenpracht ertrinken. Politiker und Kommentatoren werden loben, dass Deutschland wieder eine «normale» Nation geworden sind, die zu ihren Symbolen ein fröhlich-bejahendes Verhältnis gefunden hat. Ich könnte diese Fröhlichkeit leichteren Herzens teilen, wenn dieser «Auflockerung» unseres nationalen Selbstgefühls ein tatsächlicher zivilisatorischer Fortschritt entspräche. Im Moment sieht alles nach einem Rückschritt aus. Es ist zwar richtig, falsche Scham fallen zu lassen, sich also nicht noch in der vierten Generation für Ereignisse schuldig zu fühlen, die wir «Jüngeren» nun einmal nicht verursacht haben. Es wäre aber ein großer Fehler, im gleichen Atemzug die richtige Scham zu verweigern, das gerechtfertigte Unbehagen wegen unserer neuen Verwicklungen in Kriegseinsätze.
In dem Antikriegsfilm «Das Tal von Elah» deckt die Hauptfigur, Kriegsveteran Hank Deerfield, einige amerikanische Kriegsverbrechen im Irak auf, in die sein Sohn – Täter und zugleich missbrauchtes Opfer – verwickelt war. Entsetzt hängt der Vater in einer beeindruckenden Schlusssequenz die amerikanische Fahne verkehrt herum an einem Fahnenmast auf. Symbolisch bedeutet dieses Signal (wie wir im Film erfahren): «Wir haben uns verirrt. Wir wissen nicht mehr weiter. Wir brauchen Hilfe.» Ich habe nichts dagegen, dass die deutsche Fahne bei Sportereignissen und zu offiziellen Anlässen weiterhin verwendet wird. Ich bitte die Verantwortlichen nur, sie bis auf weiteres nur noch verkehrt herum aufzuhängen: gold – rot – schwarz.
Alles andere wäre unehrlich. Wir haben uns verirrt.
Wenn Sie das mit angesehen hätten: Welches Argument würden Sie als Rechtfertigung für die Ermordung dieser Menschen akzeptieren? Würde Sie der Hinweis beruhigen, dass die Bomberpiloten nicht willkürlich, sondern aufgrund eines Befehls gehandelt hätten? Und wäre die Sache für Sie erledigt, wenn Sie wüssten, dass den Angehörigen der Ermordeten vom Verteidigungsminister des Täterlandes finanzielle Entschädigung zugesichert wurden? Wenn es um einen Menschen ginge, der Ihnen nahe steht, durch welche Geldsumme genau würden Sie sich entschädigt fühlen? (Für eine von US-Militärs «aus Versehen» getötete Frau und zwei Kinder bekamen Angehörigen jüngst von der Regierung 20.000 Dollar angeboten.)
«Befehlsnotstand» reloaded. Es ist wirklich unerträglich, dass dergleichen, von Deutschland ausgehend, heute wieder geschieht. Als bedürfe es in einem Land wie Deuschland noch topaktueller Belege für den mörderischen, erniedrigenden Unfug, den blinder Gehorsam darstellt. Die Nürnberger Prozesse waren historisch u.a. deshalb so bedeutsam, weil man die üblichen Rechtfertigungsgründe der Angeklagten («Befehlsnotstand») nicht gelten ließ und auf die individuelle sittliche Entscheidung des Einzelnen verwies. Es konnte doch nicht sein, dass es Tausende von Tätern, jedoch nur einen einzigen Schuldigen gab: Adolf Hitler. Warum also wird eine solche Frage heute nicht mehr gestellt? Ist zu viel Zeit vergangen? Berufen sich unsere «Volksvertreter» nur dann auf die historische Verantwortung der Deutschen, wenn sie dem keine konkreten Taten (oder Unterlassungen) folgen lassen müssen?
Es geht mir hier nicht um Strafen für die Täter – einfach weil ich generell misstrauisch bin gegenüber einer Denkweise, die alle Probleme und Verirrungen des Menschen mit Strafen zu lösen versucht. Die Täter, und zwar Befehlshaber wie Ausführende, müssen durch die Ereignisse in ihrer seelischen Integrität schwer geschädigt worden sein. Falls sie das nicht so empfinden sollten, sind sie erst recht zu bedauern, sie wären dann nämlich innerlich schon vollkommen ausgehöhlt, entmenschlicht. Nicht um Strafen also geht es, und trotzdem: Wenn unsere Gesellschaft nicht in der Lage ist, die Täter wenigstens moralisch zu verurteilen, wäre es nur konsequent, im gleichen Atemzug zu sagen, dass die Nürnberger Urteile Unrechtsurteile waren. Dass für die damals Verurteilten eine nachträgliche Rehabilitierung anstünde. Sie waren doch nur Befehlsempfänger. Oder?
Politiker waschen ihre Hände in Unschuld. Doch «wer aufrecht geht ist in jedem System nur historisch hoch angesehen» (Konstantin Wecker), und wer sich duckt und auf Befehl mordet, muss wohl nur historisch mit einer angemessenen Verurteilung rechnen. Als einen «Fehler» wertet der deutsche Verteidigungsminister zu Guttenberg ohnehin nur das Verhalten der mittleren Ebene der Befehlskette, in diesem Fall Oberst Klein, der die Bombardierung anordnete. Die Ausführenden, die amerikanischen Piloten, die die Bomben abwarfen, standen unter Befehlszwang, sie waren also nicht verantwortlich. Oder? Seltsamerweise übertrafen die deutschen Vorgesetzten diesmal die US-Untergebenen an «Härte», denn die Piloten hatten bis kurz vor dem Angriff noch nachgefragt, ob es nicht schonendere Lösungen gäbe (tief fliegen und die Zivilisten vertreiben z.B.). Pariert haben sie dennoch. Befehl ist eben Befehl.
Und diejenigen, die diesen ganzen irrsinnigen Krieg angeordnet haben, die Bush und Obama, Merkel, Jung und zu Guttenberg – sie gelten nicht als schuldig, weil sie eine solche Eskalation natürlich nicht gewollt haben. In diesem Krieg werden Menschen bewusst einem unerträglichen Dilemma ausgesetzt: Soll ich nicht schießen und dadurch meine eigenen Leute gefährden? Oder soll ich schießen und dabei den Tod Unschuldiger riskieren? Sind nur diejenigen schuldig, die in diesem Dilemma falsch entschieden haben oder auch diejenigen, die es inszeniert haben? Wer als Politiker Menschen auf diese Weise missbraucht, verletzt auf die gröbste nur denkbare Weise das Gebot, Schaden von den Menschen zu wenden, die ihm anvertraut sind.
Die Selbstgerechtigkeit der «Guten». Mir ist keineswegs entgangen, dass die Dimension der Verbrechen im Dritten Reich eine ungleich grössere war. Dem einzelnen Opfer allerdings – oder dem Angehörigen, der ein Kind, einen Sohn, eine Ehefrau verloren hat – hilft es nicht, zu wissen, dass er nur einer von 140 Betroffenen ist, nicht einer von 55 Millionen. Es hilft ihm auch nicht, zu wissen, dass die Mörder nicht im Auftrag einer Diktatur, sondern eines leidlich demokratischen Regimes und in «guter Absicht» handelten. Im Gegenteil. Was sollten die Angehörigen der Opfer denn denken, wenn sie erfahren, dass die Politiker an der Spitze der Befehlskette von «uns», also von der Mehrheit der Bürger des Angreiferlandes gewählt wurden?
Und wie gut sind die deutschen Absichten wirklich? Ich leugne nicht, dass die Taliban Frauen unterdrücken. Aber ich bezweifle entschieden, dass sich westliche Politiker im Geringsten um verschleierte Frauen scheren würden, stünden nicht andere Interessen auf dem Spiel – Öl, Macht, Waffenverkäufe. Das Töten afghanischer Frauen ist auch gewiss keine angemessene Methode, um ihnen Unterdrückung zu ersparen. Und wenn den globalen Führungsmächten Menschenrechte so wichtig wären, müssten sie fast überall auf der Welt einmarschieren – nicht zuletzt in den USA selbst.
Menschen als Gehorchmaschinen. Noch einmal und unabhängig von der Frage nach der Schuld: Diese Menschen könnten heute noch leben, hätte ein Akt des Ungehorsams bewirkt, dass der Massenmord nicht nur aufgeschoben, sondern aufgehoben worden wäre. Trotzdem – und das ist eine Schande für ein Land, das gern an Jubiläumstagen rührselig der Mauertoten und der Ermordung der Geschwister Scholl gedenkt – unterbleibt bis heute eine breite Diskussion über das Prinzip Gehorsam. Hat man solche Angst vor dieser Diskussion? Hat man Angst, die Frage zu stellen, ob es nicht einer Demokratie schlicht unwürdig ist, noch immer junge Männer in umzäunten Ausbildungslagern zu entmenschlichten Gehorchmaschinen zu drillen?
Selbst diejenigen die das Prinzip militärischer Disziplin und die Kriegsgründe im Fall Afghanistan bejahen, müssten doch jetzt einräumen, dass Ungehorsam als legitimes Korrektiv zu absurden Entscheidungen der Oberen immer eine Möglichkeit sein muss. Die Option Ungehorsam müsste Teil jeder staatsbürgerlichen und sogar militärischen Ausbildung sein, und es müsste eine Rechtsprechung geben, die den Ungehorsam in einem Fall wie Kundus eher belohnt als bestraft. Für einen angeblich freiheitlichen Rechtsstaat wirft die Überlegung «Was wäre gewesen, wenn?» peinliche Fragen auf. Nehmen wir an die Bomberpiloten hätten den Befehl verweigert? Welche Strafe genau hätte in den USA darauf gestanden, unschuldige Menschen nicht zu töten? Und welche in Deutschland?
Nie wieder «Nie wieder Krieg». Mit Hilfe welcher menschenunwürdigen Gehirnwäschemethoden bringt man junge Männer dazu, dass sie im Zweifelsfall eher ihre Täterschaft in Kauf nehmen als die möglichen Folgen ihres Ungehorsams? Sollen wir etwa Schritt für Schritt daran gewöhnt werden, dass das einzelne Menschenleben nichts mehr zählt? Beginnen wir uns damit abzufinden, dass sich eine inhumane Parallelwirklichkeit – Krieg genannt – etabliert, in der alles, was wir uns in Jahrzehnten an Feinfühligkeit und ethischen Skrupeln erarbeitet haben, nicht mehr gilt?
Nochmals: Ein «Nein» hätte genügt, und diese Menschen hätten weiterleben können. Nur das zählt, und wer meint, dieser ganz unmittelbare, «naive» Impuls der Empörung müsse hinter dem «höheren Zweck» geostrategischer Erwägungen zurückstehen, hat im gleichen Augenblick einen Teil seiner Menschlichkeit aufgegeben. Wenn es nämlich überhaupt so etwas wie einen positiven Nebeneffekt an dem ganzen entsetzlichen Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs gegeben hat, dann diesen: dass Rassismus, Militarismus, das Führerprinzip und blinder Gehorsam «für immer» als diskreditiert galten. Jedenfalls war das lange Zeit so. Es stellte sich ein «Nie wieder»-Effekt ein, der unserer Weltregion tatsächlich eine längere Epoche relativer Menschlichkeit bescherte. Wir sind dabei, all das aufzugeben und die Opfer der Kriege nochmals zu beleidigen, da ihr Tod nun noch sinnloser erscheint als zuvor.
Hängt die Fahne umgekehrt auf. Im kommenden Sommer wird das Land anlässlich der Fussball-WM wieder in einer schwarz-rot-goldenen Fahnenpracht ertrinken. Politiker und Kommentatoren werden loben, dass Deutschland wieder eine «normale» Nation geworden sind, die zu ihren Symbolen ein fröhlich-bejahendes Verhältnis gefunden hat. Ich könnte diese Fröhlichkeit leichteren Herzens teilen, wenn dieser «Auflockerung» unseres nationalen Selbstgefühls ein tatsächlicher zivilisatorischer Fortschritt entspräche. Im Moment sieht alles nach einem Rückschritt aus. Es ist zwar richtig, falsche Scham fallen zu lassen, sich also nicht noch in der vierten Generation für Ereignisse schuldig zu fühlen, die wir «Jüngeren» nun einmal nicht verursacht haben. Es wäre aber ein großer Fehler, im gleichen Atemzug die richtige Scham zu verweigern, das gerechtfertigte Unbehagen wegen unserer neuen Verwicklungen in Kriegseinsätze.
In dem Antikriegsfilm «Das Tal von Elah» deckt die Hauptfigur, Kriegsveteran Hank Deerfield, einige amerikanische Kriegsverbrechen im Irak auf, in die sein Sohn – Täter und zugleich missbrauchtes Opfer – verwickelt war. Entsetzt hängt der Vater in einer beeindruckenden Schlusssequenz die amerikanische Fahne verkehrt herum an einem Fahnenmast auf. Symbolisch bedeutet dieses Signal (wie wir im Film erfahren): «Wir haben uns verirrt. Wir wissen nicht mehr weiter. Wir brauchen Hilfe.» Ich habe nichts dagegen, dass die deutsche Fahne bei Sportereignissen und zu offiziellen Anlässen weiterhin verwendet wird. Ich bitte die Verantwortlichen nur, sie bis auf weiteres nur noch verkehrt herum aufzuhängen: gold – rot – schwarz.
Alles andere wäre unehrlich. Wir haben uns verirrt.
16. Dezember 2009
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