Lehrjahre, Sklavenjahre

Erstaunlich, dass nicht mehr Jugendliche gewalttätig werden

Gewalttäter, Amokläufer, Vergewaltiger, oberflächliche Markenkids, angepasste Technikfreaks ohne politisches Bewusstsein? Um das Image des Jugendlichen steht es im Moment nicht zum besten. Beinahe möchte man ein Zitat des bayerischen Komikers Karl Valentin heranziehen, der in einem Sketch sagte: «Schämen Sie sich, dass Sie noch so jung sind!» Umso wichtiger ist es, hier einiges gerade zu rücken.
Sicher, Jugendliche mit viel Taschengeld mobben die Ärmeren auf dem Schulhof, weil diese sich keine «angesagten» Markenklamotten leisten können. Schlimm. Aber noch schlimmer ist es doch, dass Erwachsene die Welt zu einem riesigen Pausenplatz gemacht haben, auf dem Marken, Statussymbole und Geld mehr zählen als Charakter – und wo nicht mehr gearbeitet werden kann.
Sicher, Jugendliche begeistern sich für Killer-Computerspiele. Weit gefährlicher als die virtuelle Gewalt in den Kinderzimmern ist allerdings die tatsächliche Gewalt, die von Erwachsenen «draussen» an den sich häufenden Kriegsschauplätzen dieser Welt ausgeübt wird. Auf einen jugendlichen Amokläufer kommen tausende von Erwachsenen, die töten. Die Abendnachrichten übertreffen mit ihrer Frequenz an schockierenden Bildern jeden Gruselfilm, in denen man zwischendurch noch durchatmen kann. Die Regierenden selbst sind Amokläufer, und die Mehrheit der Bevölkerung verharrt in einer seltsamen Duldungsstarre.
Bertold Brecht sagte: «Der reissende Fluss wird gewalttätig genannt. Aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.» Der Druck, der sich auf dem Pausenplatz oder auf dem Schulweg entlädt, wenn etwa Jugendbanden Schwächere schikanieren, Schutzgeld erpressen und ihnen Turnschuhe «abziehen», ist irgendwann einmal auf die jugendlichen Täter selbst ausgeübt worden. Beim Militär und in Gefängnissen kennt man solche Schikanen der Stärkeren und Älteren gegen die Schwächeren und Jüngeren schon lange. «Djedowschtschina» heisst in Russland die berüchtigte Schreckensherrschaft der alten Soldaten gegen die Jungspunde.
Wenn wir in Schulen nun verstärkt «Djedowschtschina» erleben, dann müssen wir uns fragen, ob die Lernanstalten Gefängnissen und Kasernen nicht immer ähnlicher werden. Was sich da entlädt, ist dem wachsenden, unmenschlichen Leistungsdruck an unseren Schulen geschuldet. Und der unterschwelligen Wut einer Generation, die spürt, dass sie nur ausgebildet werden, um sie zu benutzen. Imitieren jugendliche Erpresserbanden nicht einfach die mafiösen Strukturen unseres Wirtschaftslebens – nach dem Motto: «Ich nehme mir, was ich kriegen kann, wann immer ich die Macht habe, es dir zu nehmen»?
Auf dem kürzlichen Pazifismus-Forum in Tübingen zitierte eine Mutter ihren Sohn mit den Worten: «Mami, ich bin ein Kind meiner Zeit». Welche Kinder also können wir erwarten, wenn wir uns die Zeit anschauen, in der wir leben? Auf dem Kongress, der Prominente mit Eltern und Schülern zu einer Diskussionsrunde über Gewalt zusammenbrachte, sagte eine andere Mutter: «Dieses Schulsystem ist eine Zeitbombe.» Und eine dritte: «Früher konnte man auch mit schlechteren Noten noch hoffen, einen vernünftigen Job zu bekommen. Heute bekommen sie gesagt: Mit einem Notenschnitt unter 2,0 habt ihr auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr.»
Was aber passiert mit den «Chancenlosen»? Der Amokläufer von Emsdetten, der vor wenigen Wochen eine deutsche Schule in Angst und Schrecken versetzte, gab zu Protokoll: «Die Schule hat mich zu einem Verlierer gemacht.»
Tatsächlich «produzieren» wir Eltern mehr Jugendliche als die Wirtschaft für «verwertbar» hält. Würden allerdings nur noch so wenige Kinder zur Welt kommen, wie es menschenwürdige Jobs in der Wirtschaft gibt, dann wären Politiker die ersten, die unseren «Egoismus» anprangerten. Wer soll schliesslich die Schulden bezahlen, die wir über Generationen angehäuft haben. Etwas wir selber?
Jungen Menschen wird heute unverhohlen zu verstehen gegeben, dass sie benutzt werden sollen. Von ihnen wird nicht die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Regeln (oder gar Mitbestimmung darüber) erwartet, sondern ausschliesslich deren gehorsame Befolgung. «Lehrjahre sind keine Herrenjahre» heisst ein wohlfeiler Altherrenspruch. Dass es allerdings Sklavenjahre sein müssen, davon war nicht die Rede. Firmen setzen Jugendliche und junge Menschen mit Vorliebe für unbezahlte so genannte Praktika ein. Die deutsche Dienstleistungsgewerkschaft VER.DI rechnete vor, dass 68 Prozent der Praktikanten, die während oder nach dem Studium in einem Betrieb arbeiten, keinen müden Euro dafür bekommen. Dies ist, wohlgemerkt, weniger als der Sklave Tom in Harriet Beecher-Stowes berühmtem Roman «Onkel Toms Hütte» bekommen hat, denn der bekam wenigstens Unterkunft und Verpflegung. Der Roman hat, nebenbei bemerkt, massgeblich zur Abschaffung der Sklaverei in den USA beigetragen.
Nicht umsonst heisst es in der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» der UNO von 1948: «Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert.» Nirgendwo ist die Rede davon, dass Menschsein erst mit 25 beginnt. Sklaverei ist längst nicht mehr eine bedauerliche Ausnahmeerscheinung, die es nur in einigen Bananenrepubliken gibt. Vorübergehende, also an einen bestimmten Lebensabschnitt geknüpfte Sklaverei avanciert auch in unseren Breiten zum Normalfall.
Die Bereitschaft, sich für einen bestimmten Zeitraum ausbeuten zu lassen, wird für Berufsanfänger zur unverzichtbaren Voraussetzung jeder auch noch so geringen «Karrierechance». Im selben Masse wie die Attraktivität der erreichbaren Jobs sinkt, steigt der Druck auf Jugendliche, selbst für den miesesten Job immer noch mehr an Hingabe und Entschlusskraft einzusetzen. Bewerbungsratgeber lehren junge Menschen die Vermarktung der «Ware Ich» auf einem zunehmend enger werdenden Markt. Angesichts eines solchen «Lebens in Lüge» (Vaclav Havel) ziehen sich gerade die sensibleren Naturen zurück und geben auf. Diese Jugendlichen strahlen eine verschwommene, melancholische Lebensmüdigkeit aus, kaum dass ihr Leben begonnen hat.
Warum eine Chance nutzen, die man realistischerweise gar nicht mehr hat? Viele besorgte Eltern werfen ihren Kindern vor, sich in eine virtuelle Welt zu flüchten. Dabei ist die Eltern- und Grosseltern-Generation gerade dabei, real einen Alptraum zu erschaffen, der jedes Gothic Game um Längen schlägt. Jugendliche werden zu Offline-Flüchtlingen im Online-Exil. Real herrschen Regeln, die niemand mehr wirklich durchschaut und die nicht einmal die fair finden können, die sie aufgestellt haben. Gemeinschaft, «Community», gibt es für Heranwachsende ohnehin fast nur noch in virtuellen Multi-User-
Spielen wie «Second Life» oder «World of Warcraft» – oder in Neonazi-Gruppen. Letztere haben nämlich ein erstaunlich gutes Gefühl dafür, wie sie entwurzelte junge Menschen einfangen können. Sie bieten Zusammenhalt, Struktur, Identität, Lagerfeuer, Lieder, Jahreszeitenfeste – und sogar den anderswo völlig fehlenden Geist der Rebellion. Von links oder aus der Mitte der Gesellschaft heraus wird dergleichen kaum ge-
boten.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sagt: «Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden.» Fällt Ihnen etwas auf? Nirgendwo ist das Verbot enthalten, jemanden wegen seines Alters zu benachteiligen. Gewiss war das von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nicht so gemeint, aber zunehmend macht sich unter Regierenden eine verhängnisvolle Mentalität breit: Sie versuchen die Rechte von jungen Menschen so weit einzuschränken, wie es durch Überdehnung des Menschenwürde-Begriffs irgendwie möglich ist.
«Ageismus» ist ein Begriff, der für die Diskriminierung von Älteren erfunden worden ist. Man sollte ihn aber – in Anlehnung an «Sexismus» und «Rassismus» – auch dann anwenden, wenn Menschen wegen ihres Jungseins benachteiligt werden. Bis zu ihrem 25. Lebensjahr bekommen junge Erwachsene, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, z.B. in Deutschland kein Wohngeld, sofern sie die Möglichkeit haben, bei ihren Eltern zu wohnen. Das klingt vernünftig, zumindest wenn Eltern genug Platz haben und das Verhältnis zwischen den Generationen harmonisch ist. In Wahrheit bedeutet es aber, dass die unter 25-Jährigen Bürger mit eingeschränkten Rechten sind. Gegen die ageistische Regelung der Merkel-Regierung regt sich – im Gegensatz zu einem vergleichbaren Vorfall in Frankreich – bis jetzt kaum Widerstand. Ist es nicht eigentlich erstaunlich, dass so wenige Jugendlich den Weg der Gewalt wählen?
Welche Rolle spielen wir Eltern in diesem Zusammenhang? Wollen wir für unsere Kinder nicht mehr sein als der verlängerte Arm des Wirtschaftssystems im eigenen Haus? Sind wir bereit, unsere Kinder als verwertbares Material für die Wirtschaft zu verkaufen – so wie die Müllerstochter im Märchen ihr Ungeborenes an ein bösartiges Rumpelstilzchen verhökerte? Kinder, die spüren, dass Eltern nicht ehrlich und nicht mit ihnen solidarisch sind, laufen Gefahr, krank in ihrer Seele zu werden. Sie verlieren die Achtung: vor ihren Eltern, vor dem System, das sie repräsentieren, und schliesslich vor sich selbst.
Reinhard Mey singt in einem seiner wichtigsten Lieder: «Die Kinder schützen vor allen Gefahren ist doch meine verdammte Vaterpflicht. Und das heisst auch: sie vor euch zu bewahren. Nein meine Söhne geb’ ich nicht!» Darauf kommt es an: Den Kindern beizustehen, anstatt ihnen – wie 68er-Eltern es manchmal tun – vorzuwerfen, dass sie nicht mit 15 oder 16 die Speerspitze der Revolution sind. Der Vater in Reinhard Meys Lied geht lieber in die Illegalität als seine Söhne dem Militärdienst zu opfern, den er verabscheut. Damit gibt er seinen Kindern nicht nur Rückendeckung, sondern auch ein Vorbild für Mut und Widerstandsgeist.
«Wie sollen wir denn gegen das System aufbegehren, wenn nicht einmal ihr es tut? Ihr habt doch viel mehr Macht als wir!» So könnte ein Jugendlicher angesichts einer Elterngeneration von recht müden «Rebellen» argumentieren. Natürlich geht es nicht darum, Widerstandsgeist als Selbstzweck zu stimulieren. Wo unser Kind aber in einen gerechten Kampf verwickelt ist, muss unser Platz auf seiner Seite sein, nicht auf der seiner Unterdrücker. Es ist nicht immer mög-lich zu gewinnen. Dann müssen wir eben Vorbilder darin sein, in Würde eine Niederlage einzustecken und niemals aufzugeben. Wir müssen vor die Lehrer und Meister unserer Kinder, vor die Beamten in den Ämtern hintreten und ihnen sagen: «Wir überlassen unsere Kinder nicht diesem System von Angst, Druck und Drill für die Bedürfnisse der Wirtschaft. Nicht unsere Kinder sind verkehrt, sondern das, was ihr von ihnen verlangt, ist krank. Nein, meine Söhne, meine Töchter geb’ ich nicht.»
25. April 2007
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