Fratton (77) war ursprünglich Lehrer an der Sekundarstufe mit Schwerpunkt auf den naturwissenschaftlichen Fächern. Nach neun Jahren Praxiserfahrung an staatlichen Schulen in der Schweiz waren ihm die Schwachpunkte des «Lernens im Gleichschritt» bewusst. Traditioneller Unterricht – so hatte er es erfahren - war oft eine Stresssituation für Lehrer und Schüler. «Der gleiche Stoff soll in der gleichen Zeit, mit dem gleichen Lehrer, mit den gleichen Lehrmitteln, mit den gleichen Zielen gleich gut erreicht werden», erklärt er.
1980 gründete er sein erstes «Lernhaus» in Romanshorn am Bodensee. Weitere 13 Lernhäuser folgten im Lauf der Jahre. Auch in Deutschland ist man für sein Reformmodell aufgeschlossen, beispielsweise an der Alemannenschule in Wutöschingen in Baden-Württemberg. Die Lernhäuser bieten seit 45 Jahren Bildung von der Basisstufe über die Sekundarstufe bis hin zu Berufsausbildungen und Matura. Teile seines Schulkonzepts wurden ausserdem mittlerweile auf viele schweizerischen und deutsche Schulen übertragen.
Zeitpunkt: Was missfiel Ihnen an der staatlichen Schule?
Peter Fratton: 45 Minuten lang nimmt der Schüler in der traditionell geführten Schule neuen Lernstoff auf, dann kommt die nächste Lektion in einem anderen Fach. So können bis zu acht Einheiten aufeinander folgen, ohne dass eine Verarbeitungsphase hilft, den Stoff zu verankern. Dafür sind dann die Hausaufgaben da. Aber die macht der Schüler isoliert zuhause, ihm fehlt der Austausch mit anderen über den Lernstoff. Bevor ich das erste Lernhaus gründete, ging ich der Frage nach, wie könnte man Lernen für Lehrer und Schüler entspannter gestalten? Ich wollte auf alle Fälle etwas ändern, aber meine Kollegen zogen nicht mit. Ich lernte Ruth Cohn (1912 – 2010), die bekannte Psychoanalytikerin und Begründerin der Themenzentrierten Interaktion (TZI), kennen und diskutierte diese Fragen mit ihr.
Wir legten dabei sehr viel Wert auf die Umgebung an den Schulen und berücksichtigten dabei Mensch, Architektur und Organisation. Uns war klar, dass in einer Umgebung das geschieht, was ihr angemessen ist. Wenn etwas geschieht, was ich nicht möchte, muss ich etwas an der Umgebung ändern. «Vandalensichere»Einrichtungen etwa – können den Vandalismus geradezu herausfordern. Die gestaltete Umgebung muss verletzlich sein. Beispielsweise wurden in einer staatlichen Schule in den Sport-Umkleideräumen robuste Haartrockner angebracht, die angeblich nicht zerstörbar waren. Aber die Schüler schafften es dennoch, sie kaputt zu machen. Ich riet dem Rektor ganz normale «schwache» Haushaltshaartrockner auszulegen. Und siehe da, es funktionierte wesentlich besser.

Dieser Beitrag stammt aus dem neuen Zeitpunkt:
BILDUNG - FÜR WELCHE ZUKUNFT?
Das Magazin ist ab sofort erhältlich. Mehr Informationen hier.
Zeitpunkt: Und wie gestaltet sich das Lernen an den Lernhäusern?
Peter Fratton: Die Schüler kommen um 9 Uhr. Man trifft sich erst einmal gemeinsam und bespricht die Tagesgestaltung. In der Regel gibt es fünf Lernangebote von den Lehrern bzw. «Lernbegleitern», die die Schüler freiwillig annehmen können oder auch nicht. Meist ist etwas für jeden dabei. Die Schüler, wir bezeichnen sie als «Lernpartner», können aber auch selbstständig an ihrem individuellen Lernprogramm weiterarbeiten. Anhand ihres «Kompetenzrasters», das sich am Lehrplan orientiert, können sie sich an Einzelarbeitsplätzen im Lernatelier ihre eigenen Ziele zu den allgemeinen Kompetenzen setzen. Dabei berät sie auf Anfrage ein Lernbegleiter, mit dem sie unter vier Augen ihre Fragen besprechen können. Es gibt aber auch den «Marktplatz», auf dem sich die Schüler treffen können und Peer-to-Peer-Lernen stattfinden kann. Die Gleichaltrigkeit in den Klassen der Normalschule sehe ich als problematisch an. Es ist förderlich, wenn Schüler unterschiedlichen Alters Themen bearbeiten. - In den Schulen auf dem Lande hatte man früher alle Schüler in einem Raum. So hörten die Kleinen bei den Grossen zu und umgekehrt. Und sie lernten voneinander. Das weckte Neugierde am Lernen, an bestimmten Lerninhalten. - Der Nachmittag im Lernhaus hat eine Clubstruktur. Man bewirbt sich jeweils für ein halbes Jahr für einen solchen Club, in dem künstlerische, naturwissenschaftliche oder eigene Projekte realisiert werden.
Die Räume in den Lernhäusern sind architektonisch auf die innovativen Lernformen abgestimmt. Es gibt einen Inputraum, Lernateliers, den Marktplatz, Coachingräume, die Mensa und einen Raum der Stille.
Zeitpunkt: Gibt es bestimmte einheitliche Regeln an allen Lernhäusern?
Peter Fratton: Ja, uns sind folgende vier Punkte wichtig: Wir fordern einen respektvollen Umgang mit Menschen und Materialien. Autonomes Lernen ist für uns eine wichtige Grundlage. Unsere Umgebung gestalten wir zusammen. Bei allem, was wir tun, sind wir ins Gelingen verliebt. Dieser vierte Punkt ist durch den Philosophen Ernst Bloch inspiriert. Er sagte: Man muss ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Scheitern.
Alle Menschen, die in den Lernhäusern arbeiten und leben, müssen sich verpflichten, diese vier Regeln einzuhalten, auch die Eltern. Die Eltern erhalten bei uns Elternkurse, damit sie verstehen, wie das Lernen im Lernhaus abläuft. Eltern können auch als Lesepaten oder Talentbegleiter an der Schule mitwirken. Übrigens können die Schüler auch früher am Morgen in die Schule kommen oder am Wochenende in der Schule arbeiten. Sie haben einen Schulschlüssel.
Wir verstehen uns als«lernende Organisation» und passen uns an die Gegebenheiten an, So wollen wir auch sehen, wie die Künstliche Intelligenz für das autonome Lernen genutzt werden kann.
Zeitpunkt: Wie haben sich die Lernhäuser bewährt?
Peter Fratton: Unsere Häuser haben sich mittlerweile etabliert. Anfangs war es schwer, eine staatliche Bewilligung für diese neuen Schulen zu bekommen. Es hiess, wir überforderten mit diesem Konzept die Schüler. Hier sind die Eltern gefragt, die ihr Kind gut kennen und einschätzen können, ob ein Lernhaus für ihr Kind in Frage kommt. Das muss individuell entschieden werden.
Bei den externen Maturaprüfungen haben wir eine gute Quote. Ein Haken ist das Schulgeld von 20 000 Franken jährlich, das die Eltern alleine aufbringen müssen. Leider gibt es weder Stipendien noch Steuerabzüge für das Schulgeld. Bildungsgutscheine wurden ja leider in der Schweiz per Volksabstimmung abgelehnt. Wir waren als Aktiengesellschaft aufgestellt, und sobald man ein Jahr an unseren Schulen gearbeitet hatte, konnte man Aktien zum Vorzugspreis erwerben. Das Interesse an unseren Lernhäusern ist gross. In Sankt Gallen beispielsweise haben sie eine Warteliste, und in der staatlichen Alemannenschule in Wutöschingen müssen jedes Jahr Interessenten abgewiesen werden.
Das Gespräch führte Christine Born.