Mobilfunk: Bundesgerichtsentscheide jetzt umsetzen!
Es war ein grosser Sieg für alle, die nahe bei Mobilfunkanlagen wohnen: Das Bundesgericht hat im Jahr 2024 umstrittene Bagatellbewilligungen, Meldeverfahren, BPUK-Empfehlungen und BAFU-Baugesuchs-Empfehlungen abgeschafft! Jetzt sind die Bauaufsichtsbehörden in der Pflicht, jede Mobilfunkantenne in der Schweiz genau zu überprüfen und Massnahmen zu verfügen – auch rückwirkend.
Foto: Nathan Anderson
Foto: Nathan Anderson

Zahlreiche Sender müssen in ihrer Leistung gedrosselt, abgeschaltet, neu ausgeschrieben oder kontrolliert werden. Der Verein Schutz vor Strahlung informierte nun heute Samstag die Medien über einen Appell an die BPUK, die in Kürze neue Empfehlungen veröffentlichen wird.

Im Verlauf des letzten Jahres hat das Bundesgericht verschiedene jahrelang in der Praxis gängige Prozesse und Abläufe in Frage gestellt oder abgeschafft. Einer davon ist das «Bagatellverfahren». Es hatte bisher dazu geführt, dass für Veränderungen an Mobilfunkanlagen keine ordentlichen Baubewilligungsverfahren durchgeführt wurden. Selbst bei Totalumbauten hatten Anwohnende oft kein Recht auf Kontrolle oder Einsprache, und Abnahmemessungen wurden nicht durchgeführt.

Neu sind nun die Anwendung des Korrekturfaktors1 wie auch die Veränderung der Antennendiagramme (2 Änderung der räumlichen Verteilung der Strahlung) baubewilligungspflichtig. Inzwischen scheinen alle an Mobilfunkverfahren beteiligten Parteien dies akzeptiert zu haben: Die Betreiber reichen zahlreiche nachträgliche Baugesuche für die Anwendung des Korrekturfaktors ein. Im Kanton St. Gallen – und vielleicht auch in anderen Kantonen – wurden sie dazu aufgefordert, bis Ende Februar 2025 eine Liste aller Mobilfunkanlagen ohne ordentliche Baubewilligung einzureichen.
Mobilfunkbetreiber setzen sich über Bundesgerichtsentscheide hinweg

Der Verein Schutz vor Strahlung stellt nun aber fest, dass sich die Mobilfunkbetreiber über weitere, nachfolgend aufgelistete Entscheide des Bundesgerichts hinwegsetzen:

  • Das Bundesgericht hielt sinngemäss fest (3), dass der Korrekturfaktor nicht angewendet werden darf, wenn er im Baugesuch nicht deklariert wurde. Trotzdem sind weiterhin rund 3'000 Antennen mit Korrekturfaktor in Betrieb ohne entsprechende Deklaration in den damaligen Baugesuchsunterlagen.
  • Das Bundesgericht schreibt bezüglich der Antenne in Sarnen, die ohne Baubewilligung in Betrieb genommenen wurde (E. 5): «Die Beschwerdegegnerin hat den Betrieb der vorliegend umstrittenen Antennen, deren Antennendiagramm vom ursprünglich baubewilligten abweicht, vorerst antragsgemäss einzustellen.» Das Bundesgericht bestätigt ohne Interessenabwägung die Praxis, dass unrechtmässig in Betrieb genommene Anlagen abgeschaltet werden müssen. Doch die Betreiber schalten die meisten illegal betriebene Antennen nicht ab.
  • Das Bundesgericht verlangt ausdrücklich die Darlegung der konkreten Anwendung des Korrekturfaktors (3). Die Anwohnenden einer Mobilfunkanlage haben ein Recht darauf, die maximal auftretende Strahlung zu erfahren. Gemäss Bundesgericht genüge die Angabe der Anzahl Sub Arrays und des adaptiven Betriebs explizit nicht. Dennoch reichen die Betreiber derzeit immer noch tausende Baugesuchen mit nur diesen Angaben ein, ohne korrekte Deklaration des Korrekturfaktors. Das ist inakzeptabel!

Erste Amtsberichte aus verschiedenen Kantonen zeigen nun überraschend, dass die Kantone trotz des bundesgerichtlichen Entscheids den Gemeinden empfehlen, die Baugesuche ohne Deklaration der Korrekturfaktoren und der maximalen Sendeleistung zu bewilligen. Über dieses Verhalten sind wir sprachlos!

Würde diese Praxis weiterhin toleriert und von allen Kantonen übernommen, wäre mit weitreichenden Konsequenzen zu rechnen. Denn es ist davon auszugehen, dass das Bundesgericht aus Rechtssicherheitsgründen bei seiner Rechtsprechung bleibt. Unabhängig der materiellen Auseinandersetzung mit dem Korrekturfaktor erachtet das Bundesgericht formell korrekte Deklarationen als zwingende Voraussetzung für dessen Bewilligung. Würden trotz Fehlen der korrekten Deklaration weiter Baubewilligungen erteilt, wären diese rechtswidrig. Dies könnte dazu führen, dass im grossen Stil zwischenzeitlich erteilte, nachträgliche Baubewilligungen wieder aufgehoben werden müssten – ein Novum in der Schweizer (Rechts-)Geschichte!

Bei den derzeit illegal umgebauten Antennen bzw. den Antennen mit Korrekturfaktor schreiten die Behörden seit mehr als sechs Monaten nicht ein. Die Gemeinden wissen bis heute nichts davon, dass sie verpflichtet wären, die Abschaltung der betroffenen Anlagen zu verfügen. Sie gehen irrtümlich davon aus, dass alles beim Alten sei. Die Situation könnte sich zuspitzen, wenn die Anwohnenden von ihrem Recht auf Abschaltung der illegal betriebenen Antennen Gebrauch machen.

Bundesgerichtsentscheide jetzt umsetzen!

Der Verein appellierte in einem Offenen Brief vom 5. März an die zuständigen kantonalen Vollzugsbehörden, die Bundesgerichtsentscheide jetzt umzusetzen und ein erneutes Vollzugschaos zu verhindern. Es ist zentral, dass die Baubewilligungsbehörden sofort und praxisbezogen über die Änderungen durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung und die damit verbundenen Konsequenzen informiert werden.
 

Sachgemässe, praxisbezogene Information an die Baubewilligungsbehörden

Voraussetzung für jede Sendebetriebsänderung ist eine rechtskonforme Bewilligung.

  • Liegt keine rechtskonforme Bewilligung vor für den Betrieb oder Umbau einer Anlage oder für Teile davon, ist der nicht bewilligte Sendebetrieb innert 5 Arbeitstagen einzustellen – auch während dem nachträglichen Baubewilligungsverfahren. Dies gilt auch für Antennen, deren letzter unbewilligte Umbau mehrere Jahre zurückliegt.

  • Bei Antennen mit adaptivem Betrieb («Adaptiver Betrieb: Ja») muss die Anwendung des Korrekturfaktors gestoppt werden, weil dessen Anwendung in den Baugesuchsunterlagen ungenügend deklariert wurde oder gar nicht bewilligt ist (evtl. nur gemeldet im Meldeverfahren).

  • Der Betrieb von Sendeantennen, die nur im «Bagatellverfahren» bewilligt wurden, muss eingestellt werden, wenn sie
    o über ein anderes als das ordentlich bewilligte Antennendiagramm verfügen
    o ein grösseres Volumen als ordentlich bewilligt aufweisen

  • Es steht den Mobilfunkbetreibern offen, nachträglich um eine Baubewilligung zu ersuchen.

  • Soll ein Korrekturfaktor auf der adaptiven Antenne zur Anwendung gelangen, ist im Standortdatenblatt dessen konkrete Anwendung darzulegen (u.a. max. Sendeleistung, max. Strahlung)

  • Verantwortlich für die Wiederherstellung der rechtmässigen Zustände sind die Bauaufsichts- bzw. die Baupolizeibehörden. In der Regel sind die Gemeinden zugleich Bauaufsichtsbehörde.

Der Verein Schutz vor Strahlung bittet die Vorsteherinnen und Vorsteher der Behörden, sich beim Bundesamt für Umwelt (BAFU) für neue, überarbeitete Vollzugsempfehlungen und Standortdatenblättern einzusetzen. Darin sollen u.a. die Parameter aufgezeigt werden, die zur Darlegung der konkreten Anwendung des Korrekturfaktors notwendig sind. Optimalerweise erlauben diese Parameter eine schnelle Beurteilung der Baubewilligungspflicht bei geplanten Änderungen (u.a. KAA, ERPmax, max. elektr. Feldstärke Emax).

Weiteres Thema: Verweigerung von Baugesuchen mit zu hohen Dämpfungswerten

Mit der neuen, am 22. November 2024 verabschiedeten Vollzugsempfehlung (4) schafft das BAFU erneut Rechtsunsicherheiten. Zuvor wurde die Richtungsabschwächung auf 15 dB gedeckelt, um (pauschal) Mehrbelastungen zu berücksichtigen, die durch reflektierte Strahlung entstehen. Aufgrund der zunehmenden Ausnutzung von Reflexionen durch adaptive Antennen verlangte das Bundesgericht eine verbesserte Berücksichtigung der Reflexionen bei der Prognose (5). Stattdessen hat der Bund jedoch die Deckelung der Richtungsabschwächung von 15 dB auf 30 dB angehoben und somit faktisch abgeschafft. Reflexionen werden damit nicht mehr berücksichtigt. Die Prognose der Strahlung weicht noch stärker als bisher von Abnahmemess-Ergebnissen ab (bisher in rund 20 % der Fälle Grenzwertüberschreitungen). Zugleich würde die Gesamt-Strahlung massiv höher, ohne dass dies ausgewiesen wird.

Dass eine solche Vollzugsempfehlung vor Bundesgericht nicht standhält, ist klar. Dasselbe trifft auch zu auf die neuen, realitätsfremden Gebäudedämpfungen. Wir möchten ausdrücklich vor zahllosen Verfahren (z.B. Wiedererwägungsverfahren) warnen, die nach der offiziellen Aufhebung der Vollzugsempfehlung von Anwohnenden initiiert werden – sollten die neuen Empfehlungen je zur Anwendung gelangen. Die Situation ist schon heute genug komplex. Deshalb appelliert der Verein Schutz vor Strahlung, neue Rechtsunsicherheiten zu vermeiden, auf die Anwendung der neuen Vollzugsempfehlung zu verzichten und nur die bisher geltenden Dämpfungswerte (6) zuzulassen.

Anmerkungen:

1 Entscheid «Wil» BGE 1C_506/2023 vom 23. April 2024
2 Entscheid «Sarnen» BGE 1C_414/2022 vom 29. August 2024
3 Entscheid «Winterthur» 1C_310/2024 vom 18. Oktober 2024, E. 2.2
4 Änderungen vom 22. November 2024 der Vollzugsempfehlung zur NISV für Mobilfunk- und WLL-Basisstationen,
BUWAL 2002 betreffend die rechnerische Prognose
5 Entscheid «Steffisburg» BGE 1C_100/2023
6 Vollzugsempfehlung für Mobilfunk- und WLL-Basisstationen, BUWAL, 2002, wo maximal 15 dB Richtungsabschwä-
chung gesamthaft und die Gebäudedämpfungen in der Tabelle unter Kap. 2.3.1 vorgesehen sind.
 

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