Nahwärme in Pantoffeldistanz

Eine Volksinitiative will nachhaltige Nachbarschaften aufwerten und die Zubetonierung der Landschaft stoppen. Die Frist für die Unterschriftensammlung läuft bald aus.

Jeden Tag schrumpft die grüne Schweiz und wächst die graue. Jeden Tag wird hier eine Fläche von mehr als acht Fussballfeldern verbaut. Jeden Tag wird Bodenleben zerstört, werden Regenwürmer vertrieben. Jeden Tag fragt sich eine Kuh, wo ihre Weide geblieben ist. Jeden Tag werden Eigenheime in grüne Wiesen gerammt, während in Städten zwischenmenschliche Nähe und Nahwärme verloren geht. Ist doch kein Zustand!
Dachten sich auch die Jungen Grünen und riefen die eidgenössische Volksinitiative «Zersiedelung stoppen – für eine nachhaltige Siedlungsentwicklung» ins Leben. Sie wollen die reichlichen Bauzonen auf heutigem Niveau einfrieren und schwindende Grünflächen schützen. Bund und Kantone sollen verpflichtet werden, verdichtend, innovativ und flächenschonend zu bauen und ökosozial nachhaltige Nachbarschaften zu fördern. Was das ist? Siehe unten.

Mensch und Natur können dabei nur gewinnen. Nachbarschaftliche Nähe fördert das menschliche Wohlergehen – mehr als vieles andere. Hans Widmer, Vordenker von «Neustart Schweiz», hat dafür das schöne Wort «Pantoffeldistanz» geprägt. Formal sind die Zersiedelungsinitiative und Neustart Schweiz zwei verschiedene Paar Pantoffeln, inhaltlich marschieren sie in dieselbe Richtung.
Bei Landwirten und Bäuerinnen stösst die Initiative auf Sympathie, denn Rüben kann man nun mal nicht auf Betonflächen züchten. Auch andernorts komme das Anliegen an, sagt der Co-Präsident der Jungen Grünen Schweiz, Luzian Franzini. Gut 70 Prozent der nötigen Unterschriften sind gesammelt, aber die Frist läuft im Oktober ab.
Für «nachhaltige Nachbarschaften» gibt es bereits einige schöne Beispiele, etwa die Quartiere Hunziker-Areal, Manegg und Sihlbogen in Zürich. Ideal sind ring- oder u-förmige Bauweisen mit begrünten Innenhöfen und Platz für Quartierbeizen oder Läden im Erdgeschoss. Arbeit und Freizeit sind nahe beieinander, die Verkehrswege sind kurz, der Verkehr verringert sich. Solch eine urbane Dorfgemeinschaft lässt Raum für Austausch und Gemeinschaftsaktivitäten, bringt also positive Eigenschaften von Stadt und Land zusammen. Anonyme Agglomerationen können mit nachhaltigen Quartieren belebt und verdichtet werden. Dazu bedarf es jedoch des politischen Willens zur Transformation der heutigen Siedlungsstruktur – und Ihrer Unterschrift.

 
Download des Unterschriftenbogens

Was sind ökologisch und sozial integrierte Nachbarschaften?

• Grössenordnung: sie umfassen zwischen 400 und 800 Bewohner_innen.
• Demographische Zusammensetzung: sie entsprechen ungefähr der allgemeinen Bevölkerungsstruktur.
• Gebäudestruktur: sie umfassen ein kompaktes Siedlungsareal, urban oder suburban; es wird eine Ausnutzungsziffer von mindestens 2 angestrebt, die durchschnittliche Wohnfläche pro Person soll 35 m2 nicht übersteigen
• Organisation: sie sind als rechtliche Person organisiert (Verein, Genossenschaft) und demokratisch strukturiert.
• Wohnformen: Nachbarschaften bieten eine breite Palette von Wohn- und Haushaltformen an, von Einzelzimmern über Familienwohnungen bis zu Wohngemeinschaften; die Privatsphäre wird respektiert.
• Soziales: sie übernehmen einen Teil der sozialen Aufgaben, wie: Haus- und Pflegearbeit, Kinderbetreuung, Unterstützung von gebrechlichen oder alten Menschen, Organisation gesellschaftlicher und kultureller Anlässe.
• Infrastruktur: sie unterhalten an Ort und Stelle eine gemeinsam genutzte Infrastruktur (Mikrozentrum), die die Lagerung, Verarbeitung und Verteilung von Lebensmitteln und Konsumgütern übernimmt und eine gemeinsame Nutzung von Räumen, Gütern und Dienstleistungen erlaubt.
• Verkehr: Nachbarschaften sind an öffentliche Verkehrsmittel angebunden, Privatautos stehen nur als Leihautos für begründete Ausnahmen zur Verfügung.
• Ökologie: sie garantieren einen verringerten Energie– und Materialverbrauch, der höchstens der 2000-Watt- Gesellschaft (optimal: 1000 Watt) bei einer Tonne CO2 bzw. einem ökologischen Fussabdruck von einer Erde entspricht.
• Landwirtschaft: sie sind mit landwirtschaftlichen Betrieben der Region verbunden und beziehen von diesen einen möglichst grossen Teil ihrer Lebensmittel (Vertragslandwirtschaft, Stadt/Landgenossenschaft usw.).
• Einbettung in die Siedlungsstruktur: Nachbarschaften sind in Quartiere oder Landstädte eingebettet, die weitere Dienstleistungen in Fussdistanz anbieten.

Diese kurze Beschreibung nachhaltiger Nachbarschaften stammt aus dem «Buch NUR» von Hans E. Widmer, vielen Lesern als «P.M.» bekannt. In dieser Perle von 46 Seiten beschreibt der Autor in eleganter, präziser Sprache, wie wir schrumpfen können, ohne auf die Nase zu fallen oder neudeutsch, «wie smart growth» aussieht. «Das Buch NUR» ist ein würdiger Ersatz für das vergriffene Buch «Neustart Schweiz» (edition Zeitpunkt, 2008). Download unter www.neustartschweiz.ch


Mehr zum Schwerpunktthema «nah-fern» im Zeitpunkt 144.
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