Neues vom Wichsen

Selbstbefriedigung ist keine Schande, sondern eine sinnvolle Form komplementärer Sexualität. (Roland Rottenfußer. Mehr rund um's Thema «selber machen!» können Sie im neuen «Zeitpunkt» nachlesen.)

«Wichser!» Mit diesem Schimpfwort wird oft ein verachtenswertes Individuum bedacht – als Synonym für «Arschloch». Selbst eine Filmparodie betitelte so die Inkarnation des Bösen: «Der Wixxer». Doch wenn jemand mit dem Finger auf seine Mitmenschen zeigst, weisen drei Finger auf ihn selbst zurück. 90 Prozent der Männer und 86 Prozent der Frauen befriedigen sich laut einer Studie der Universität Bonn regelmässig selbst. Die Statistik umfasst auch viele Menschen in sexuell aktiven Partnerschaften. Eine Statistik darüber, wie viele Mensche «es» noch nie getan haben, ist mir nicht bekannt. Wahrscheinlich geht ihre Zahl gegen null. Wozu also die Heimlichtuerei, die Scham, die Schuldprojektion auf andere «Wichser»?




In der Vergangenheit nahm die Dämonisierung der «Onanie» groteske Formen an. Onan, eine Figur aus der Genesis, sollte die Frau seines Bruders schwängern. Jedoch: «Wenn er einging zu seines Bruders Weib, liess er's auf die Erde fallen und verderbte es, auf dass er seinem Bruder nicht Samen gäbe.» Also ein Coitus Interruptus. Gott aber missfiel das. Zur Strafe tötete er Onan. Der Umgang der Kirche mit jeder Form von Lust, die nicht der Fortpflanzung dient, ist seither verklemmt. In der Erklärung «Persona Humana» der Kongregation der Glaubenslehre wird Selbststimulation als «in sich schwere ordnungswidrige Handlung» bezeichnet. Das von John Marten 1712 verfasste Werk «Onanie oder die abscheuliche Sünde der Selbstbeschmutzung» gab den Startschuss für viele ähnliche Diskriminierungen. Wissenschaftler dichteten der Onanie noch bis ins späte 19. Jh. allerlei Folgekrankheiten an: Gehirnerweichung, Rückenmarksschwund oder gar Krebs.




In unseren «aufgeklärten» Zeiten sieht man natürlich alles lockerer. In bestimmten Kreisen gibt man eher den Gebrauch der Peitsche als harmlose Formen der Selbststimulation zu. Der Grund ist einfach: So lange man mit einer anderen Person Sex hat, egal wie bizarr der ist, gilt man als «ganzer Kerl». Wer es selbst im stillen Kämmerlein treibt, hat offenbar keine/n «abgekriegt», ist also in der sexuellen Hochleistungsgesellschaft ein Versager. Auch der Vorwurf der Verschwendung von Körperflüssigkeiten wird erhoben. Mit demselben Stimulationsaufwand hätte man doch besser eine andere Person «befriedigt». Dahinter steht die Vorstellung, mit dem Genuss des Orgasmus verbinde sich für den Einzelnen eine «Bringschuld». Früher bestand diese schlicht in der Arterhaltung; heute wird erwartet, dass man innerhalb einer hoch sexualisierten Spassgesellschaft funktioniert.




Die meisten Vorurteile halten einer Überprüfung aber nicht stand. 1. Auch Menschen in glücklichen Partnerschaften besorgen es sich selbst, es handelt sich also nicht um «Verlierersexualität». 2. Der Mensch verfügt nicht über eine begrenzte Anzahl von «Schüssen». Durch regelmässige Anregung bleibt man länger sexuell aktiv. 3. Der «Wichser» ist nicht unbedingt ein schlechterer Liebhaber, zumal er seinen Körper gut kennt. 4. Befriedigender Sex mit einem Partner ist allemal schöner, so dass man nicht befürchten muss, der Paarungsdrang könne je aussterben. 5. Speziell Männer haben meist nicht «Sex mit sich selbst», sondern in der Fantasie mit anderen Partner/innen. Es handelt sich also nicht um narzisstische Perversion. Vielmehr scheint es, als spielten lebensfreundliche Menschen einfach gern auf der Klaviatur ihres Körpers. Sie nutzen (neben anderen) auch diese Lustquelle. Schädlich sind nur Suchttendenzen und die Vernachlässigung von Partnern, die gern Sex hätten. Auch sollte Selbstbefriedigung nicht auf der Angst vor der Begegnung mit anderen beruhen. Interneterotik etwa verführt zur Medienverwahrlosung und zur Weltflucht.




Selbstbefriedigung hat auch viele nützliche Aspekte, abgesehen davon, dass sie nicht schadet. Sie befreit von einem «Druck», der sonst oft zu falscher Partnerwahl führt. Viele gehen geradezu wahnwitzigen Kompromisse ein, nur um einen Orgasmus erleben zu können. Männer, die mit ihrer Sexualität nicht umgehen können, neigen dazu, Frauen zu belästigen, Geld für sexuelle Dienstleistungen zu verschwenden – oder Schlimmeres. Selbstbefriedigung kann ein Akt des Mitgefühls sein gegenüber einer Natur, die oft im Widerspruch zu den eigenen ethischen Richtlinien steht. Sie kann helfen, Durststrecken zu überbrücken (Jugend, Alter, Alleinsein), einen kranken Partner in Ruhe zu lassen, Untreue zu vermeiden und sich selbst als sexuelles Wesen besser kennen zu lernen.




«Befriedigung» im Sinn von innerem Frieden ist nicht alles. Auch Durststrecken und aufregende Begegnungen mit Fremden haben ihre Berechtigung in bestimmten Lebensphasen. Nur: Darüber, wie viele Orgasmen wir haben, sollte nicht nur der Zufall unserer sexuellen Attraktivität oder unser Geschick beim «Aufreissen» potenzieller Partner entscheiden. Es liegt in unserer Hand.



06. März 2012
von: