«Wenn Grundrechte ausgehebelt werden, müssen wir unglaublich aufpassen»
Kämpferischer Poet auf der Suche nach einer Welt, die es noch nicht gibt: Konstantin Wecker ist einer der bedeutendsten Liedermacher Deutschlands und kämpft seit 40 Jahren für eine bessere Welt. Für den Zeitpunkt führte Lis Eymann ein Gespräch mit dem feinsinnigen Künstler, der an die Kraft jedes einzelnen Menschen glaubt und seine Utopie an eine herrschaftsfreie Welt nicht hergibt.
Lis Eymann: Sie waren im Juni in Baden-Baden wieder mal live on stage in einem Autokino zu sehen und zu hören. Wie war das für Sie, nach der Corona-Zwangspause wieder aufzutreten, und dabei ohne direkten Publikumskontakt?
Konstantin Wecker: Na ja...es gab in einer gewissen Weise doch einen Publikumskontakt, da es Gott sei Dank schönes Wetter war und das Publikum im Auto das Fenster aufmachen konnte. So hat man auch etwas Beifall gehört. In den ersten Reihen hat man auch ein paar Leute gesehen. Also es war zwar befremdlich, gar keine Frage. Aber es war endlich wieder mal ein Kontakt mit Leuten und ich habe von Anfang an gesagt, ich sing nicht für die Autos, sondern für die Menschen, die in den Autos sitzen. Es war sogar sehr lustig zum Teil, es wurden dann Lichthupen und sogar die Warnblinkanlangen angemacht. Es war völlig neu natürlich und immer noch nicht das, was man sich unter einem Konzert in den letzten 40 Jahren oder 50 Jahren in meinem Fall vorgestellt hat. Aber es war ein Anfang.
Ein Lied dem man bei Ihren Auftritten immer wieder begegnet ist «Willy». Dieses Lied haben Sie nun für die Coronazeit neu interpretiert und rufen da quasi zum Widerstand auf. Wo sehen Sie aktuell die grössten Bedrohungen für uns Menschen?
Es wird wenig Rücksicht genommen auf die Armen, auf die Alleinstehenden, auf die Geflüchteten.
Also es gibt eine Bedrohung, aber es gibt auch eine Chance. Das ist mir in diesem Lied auch sehr wichtig. Ich möchte jetzt mal von der Chance reden. Vielleicht sehen die Leute in diesen Zeiten endlich mal, dass sie einer jahrzehntelangen neoliberalen Diktatur aufgesessen sind. Vielleicht erkennen jetzt viele, dass es notwendig ist, grundsätzlich etwas zu ändern an diesem Wirtschaftssystem. Man sieht ja ganz deutlich, wer jetzt schon wieder wirklich Vorrang hat. Das sind die grossen Konzerne wie Audi, Lufthansa. Es sind immer die gleichen. Es sind die Konzerne und es wird wenig Rücksicht genommen auf die Armen, auf die Alleinstehenden, auf die Geflüchteten. Dieses Thema gibt es ja überhaupt nicht mehr zur Zeit. Das ist ein so wichtiges Thema. Ich kenne Menschen, die in Lesbos immer noch arbeiten und von katastrophalen Zuständen sprechen. Deutschland war nicht mal in der Lage – als es darum ging – 150 Flüchtlingskinder aufzunehmen. Nicht mal das haben wir geschafft. Da gibt es schon sehr viel was man erkennen kann jetzt an der Zeit.
Die Gefahr besteht, wenn man Grundrechte einschränkt. Und es müssen zum Teil welche eingeschränkt werden – ich bin überhaupt kein Verschwörungstheoretiker. Mir ist es völlig klar, dass es eine Pandemie ist, gar keine Frage, und dass wir alles tun müssen, um andere zu schützen und uns zu schützen. Aber wenn Grundrechte ausgehebelt werden, dann müssen wir unglaublich aufpassen, dass sie danach wieder eingesetzt werden. Ich bin ein alter 68er, ich weiss noch sehr gut, wie die Notstandsgesetze eingeführt wurden in Deutschland und nie mehr ausgehebelt wurden, es wurde nie mehr rückgängig gemacht. Das ist mit so vielen Gesetzen passiert.
Sie kämpfen bereits wieder an vorderster Front und tun dies seit 40 Jahren – für eine bessere Welt. Diese wird aber nach meinem Empfinden tendenziell eher schlechter. An was fehlt es uns Menschen denn dringendst?
Das Hauptproblem in den letzten tausenden von Jahren war das Patriarchat. Es ist eine Herrschaft der Männer, die sich bis heute durchgezogen hat, und was hat das Patriarchat gebracht?
Ich glaube am dringendsten fehlt das Verständnis – und jetzt gerade wieder – für wirkliche Demokratie. Wie ich es nenne: für eine herrschaftsfreie Welt. Das ist meine Utopie, für die ich weiterkämpfen werde. Ich bin auch der Meinung, dass Utopien notwendig sind. Wir müssen sie in unserem Herzen bewahren. Die Utopie einer gleichberechtigten Welt etwa. Es ist ziemlich offensichtlich geworden – wer das immer noch nicht gesehen hat, ist einfach nicht bereit es sehen zu wollen –, dass das Hauptproblem in den letzten tausenden von Jahren das Patriarchat war. Es ist eine Herrschaft der Männer, die sich bis heute durchgezogen hat, und was hat das Patriarchat gebracht? Kriege, Kriege, Kriege und Vernichtung der Umwelt und der Natur. Und vor allem keine wirkliche Gleichberechtigung. Aber es gibt tolle Bewegungen. Wenn ich überlege, in Südamerika! Die Frauen stehen mittlerweile auf. Und diese Bewegung jetzt gegen Rassimus in Amerika ist eine ganz grosse Chance.
Oder fridays for future – was ist das auch für eine unglaublich wichtige Bewegung. Und es ist auch eine Bewegung der Jugend und es ist auch eine Bewegung der Frauen, ja, als wirklich gleichberechtige Menschen. Ich glaube schon, es tut sich was.
Ich hatte gestern ein Gespräch mit einem Arzt über Corona, der sagte: Wenn wir gewohnt wären selber zu denken, hätten diese Massnahmen nie so rigoros durchgeführt werden können. Das fand ich eine bemerkenswerte Aussage...
Das ist richtig, ich habe am Anfang in meinem «Willy 2020» auch gesagt: Wir haben Veranstaltungen abgesagt, wir haben Partys abgesagt, es muss auch nicht immer Party sein, keine Frage, und das haben wir gemacht aus eigener Verantwortlichkeit gegenüber anderen und uns gegenüber – und nicht wegen Herrn Söder, wegen Herrn Kurz oder wegen Herrn Macron, die ich alle übrigens nie gewählt hätte (lacht leise).
Das erste Konzert in Baden-Baden nach der Corona-Zwangspause hatte den Titel "Kultur macht Mut". Müsste man das nicht umschreiben und sagen: „Kultur braucht Mut?“ Denn Sie lehnen sich mit ihrer klaren Haltung und Ihren unverblümten Statements auch ziemlich zum Fenster hinaus.
Ich hoffe, dass in meinen Texten und Liedern mein Publikum sich selbst entdeckt und dadurch Mut zu sich selbst bekommt.
Ja, ich bin der Meinung, dass die grosse Chance der Kultur immer schon gewesen ist, dass sie dem Einzelnen und der Einzelnen Mut machen kann, zu sich selbst zu stehen. Man kann durch die Kultur, durch die Poesie – ich sage auch in einem anderen Text: Poesie ist Widerstand – sich entdecken. Es ist nicht wichtig den Poeten zu entdecken. So sehr ich Rilke auch liebe. Aber mich interessiert die Person Rilke viel weniger als seine Gedichte, denn in seinen Gedichten kann ich mich wiederentdecken. Und so hoffe ich, dass in meinen Texten und in meinen Liedern mein Publikum sich selbst entdeckt und dadurch wieder Mut zu sich selbst bekommt.
Es gibt viele Menschen, die denken: Ich bin klein und unbedeutsam... Was haben Sie denn für ein Gefühl, was der einzelne Mensch überhaupt bewirken kann?
Nur (betont) die einzelnen Menschen können etwas bewirken. Weil sonst bräuchten wir wieder einen Führer und Armeen, sonst bräuchten wir wieder alles das, was wir eigentlich nicht mehr brauchen. Natürlich muss man sich zusammentun. Aber auf eine liebevolle Weise und nicht, weil man einen Führer braucht und einen Anführer. Ich bin ein bekennender Anarchist. Und was heisst Anarchie? Das ist eine Ordnung ohne Herrschaft. Aber es ist eine Ordnung, natürlich. Und es ist in etwa so wie der Arzt zu Ihnen gesagt hat: Wenn man lernen würde, selbst zu denken und zu sich selbst zu stehen, dann könnte man diese Ordnung auf gemeinschaftliche, liebevolle Weise aufbauen und bräuchte eigentlich nicht mal Gesetze dazu.
Es bräuchte dazu mehr eigenständige, geistige Aktivität des einzelnen Menschen, denke ich. Ohne sich eben Führern anzuschliessen. Weder in der Politik noch in der Kirche. Sie sagten einmal: «Alle Religion haben versagt. Wenn ich sage: ich bin Jude, Moslem oder Christ ist das eigentlich schon eine Kriegserklärung.» Wie haben Sie das gemeint?
Es gibt keine einzig wahre Religion.
Das ist ein Zitat von Krishnamurti (Anmerkung: indischer Philosoph und Theosoph), und ich finde es sehr wichtig. Wenn ich so darauf bestehe, dass ich ein Christ bin, dann bestehe ich im Endeffekt auch darauf, dass das Christentum die einzig wahre Religion ist. Es gibt keine einzig wahre Religion. Ich habe sehr viel Verständnis für Religionen und für Spiritualität. Aber auch hier brauchen wir keine Dogmen und auch hier brauchen wir keine Ungleichheit. Ich glaube, die Gleichberechtigung ist das Entscheidende, was wir jetzt langsam als menschliche Wesen lernen müssen. Jeder ist einem anderen gegenüber gleichberechtigt.
Sie selbst sind Atheist. Sie sind aus der Kirche ausgetreten. In Ihrem Buch «Mönch und Krieger» haben Sie geschrieben: «Wenn ich Gott nicht verstehen kann, kann ich doch wenigstens versuchen, Gott zu sein. Nicht um Macht auszuüben, eine neue Kirche zu bauen, nicht weil ich glaube, ich sei der Einzige, der Gott sein kann. Sondern weil ich spüre, dass wir es alle längst schon sind.» Ist das wiederum ein Aufruf an den einzelnen Menschen, ein Aufruf an eine individuelle Spiritualität?
Ja natürlich. Ich würde auch nicht sagen, dass ich Atheist bin. Weil ein Atheismus ist schon wieder ein -ismus. Das ist schon wieder eine Festlegung basierend auf einem Gedankenmodell. Ich finde, das alles viel zu spannend ist, was in uns passiert… Ich muss das vielleicht anders erklären: Ich schreibe seit meinem zwölften Lebensjahr Gedichte und habe durch meine Gedichte Sachen gelernt, die ich durchs Denken nie erfahren hätte. Ich will damit nicht gegen das Denken sprechen. Aber ich will damit sagen, dass es, wie Horatio so schön in Hamlet sagt, sehr viel mehr Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, als es unsere Schulweisheit sich erträumen lässt.
Meine Gedichte waren eigentlich immer klüger als ich.
Ich habe über meine Gedichte etwas auch über mich selbst erfahren. Um mich zu erklären, ich schreibe ein Gedicht im Sinne von: Mir passieren die Gedichte, ich denke sie mir nicht aus, ich habe sie noch nie ausgedacht. Das kann man meines Erachtens auch gar nicht, so wie man sich Melodien auch nicht ausdenken kann. Ich schreibe ein Gedicht und plötzlich lese ich in dem Gedicht etwas, was ich vorher noch nie so gedacht habe. Und ich sage auf der Bühne gerne scherzhaft: Meine Gedichte waren eigentlich immer klüger als ich (lacht leise). Das ist auch nicht mein Verdienst. Das ist ein unglaubliches Glück, dass ich durch die Inspiration manchmal zu Sätzen komme, die mich dann selbst überraschen.
Sie erzählten einmal, dass der Maulbeerbaum in Italien Sie inspiriert…dass da «es» schreibt und nicht Sie. (Anmerk: Konstantin Wecker hat in den letzten 30 Jahren die meisten seiner Lieder und Gedichte in seiner zweiten Heimat Italien unter einem Maulbeerbaum geschrieben)
Ja... der Maulbeerbaum... ganz genau... der all meine Gedichte geschrieben hat... schon bevor ich ihn kannte... (lacht)
Sie sind nach wie vor auf der Suche nach einer Welt, die es noch nicht gibt. Welche Welt wünschen Sie sich denn?
Eine herrschaftsfreie Welt, in der Menschen selbstverantwortlich und liebevoll miteinander auskommen. Und ich kann es jetzt im Moment nicht wörtlich zitieren, aber ich muss immer wieder an Erich Fromm denken, der ein grosser Lehrmeister für mich war. Auch schon als sehr junger Mann, als ich Psychologie studiert habe. Fromm sagte mal: «Hoffen heisst auch, an etwas zu glauben, auch wenn man sich sicher ist, dass man es zu seinen Lebzeiten nicht verwirklicht bekommen kann.» Und das ist sehr wichtig.
Kultur hat in den letzten Jahrtausenden die Welt immer wieder verändert und sie davor bewahrt, noch schlimmer zu werden.
Mir ist klar, dass ich diese Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft zu meinen Lebzeiten nicht erleben werde. Aber ich werde trotzdem dafür arbeiten. Und vielleicht noch einen ganz wichtigen Zusatz, mein Freund, der Liedermacher Hannes Wader, und ich waren ein paar mal gemeinsam auf Tour. Da kam immer wieder die gleiche Frage: «Ja, jetzt singt ihr seit 40 Jahren für eine bessere Welt und schaut euch doch mal die Welt an. Ihr habt doch überhaupt nichts erreicht?» Dann sagte Hannes: «Die Frage müsste man umgekehrt stellen: Wie sähe die Welt aus, wenn es diese vielen Mosaiksteinchen, zu denen wir gehören, nicht geben würde.» Zu denen Sie – Frau Eymann – gehören mit ihrem Journalismus, zu denen viele Menschen gehören, die völlig unbekannt sind und die Flüchtlingsarbeit machen und wie auch immer… ganz viele engagierte Menschen. Wie sähe die Welt aus, wenn es die alle nicht gäbe. So muss man die Frage stellen. Und ich glaube, Kultur hat in den letzten Jahrtausenden die Welt wirklich immer wieder verändert und sie davor bewahrt, noch schlimmer zu werden.
Hinter den Schlagzeilen – ein Magazin für Kultur & Rebellion, gegründet von Konstatin Wecker
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