«Nicht erwähnenswert» – das Weisse Album der Beatles
Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #6
«Wird es den Beatles gelingen, den Erfolg ihrer letzten LP‹ ‹Sgt Peppers Lonely Hearts Club Band› zu übertreffen? Das fragte sich bestimmt jeder Popfan und wartete gespannt auf eine neue LP von ihnen, die endlich in Form ihres Doppelalbums erschienen ist.»
Natürlich wollte auch ich in meinem Popcorner über das Weisse Album berichten, denn ich liebte die Beatles noch immer. Sie waren das Gegengewicht zu den Rolling Stones, und manchmal brauchte ich das. Das verruchte Image der Stones, ihre Drogengeschichten und ihre unmoralischen Liedertexte irritierten mich in meiner geordneten Welt am Zürichsee. Wenn Mick Jagger unverblümt ‹Let’s spend the night together› sang, war das spannend und provozierend. Aber für den noch nicht einmal 15jährigen auch verwirrend.
Die Beatles dagegen liessen meine fragilen Teenagergefühle unangetastet. Die Beatles waren die Guten. Sie hatten – ein Jahr vorher bereits – in der ersten weltweit übertragenen TV-Sendung «All you need is love» intoniert, während die Stones dafür sorgten, dass im Zürcher Hallenstadion die Stühle zu Bruch gingen. Auch die Beatles experimentierten mit Drogen, doch für Skandale sorgten sie nicht und mit einem Fuss im Gefängnis standen sie auch nicht. Stattdessen lieferten sie in unvergleichlicher Fülle, was seit ihrer ersten Single ‹Love me do› sechs Jahre zuvor ihr Standard geworden war: Jede Komposition ein Treffer. Vollendete Melodien und Arrangements. Kein Ton, der nicht stimmte.
«Was erwartet uns auf den beiden Platten, die in einem einfachen weissen Umschlag zum Kauf angeboten werden?» begann ich etwas schulmeisterlich meine Beurteilung. «Typischer Beatles-Sound: melodiöse, ins Ohr gehende Stücke, vergnügte oder gagreiche Nummern wechseln ab mit harten Rhythmen, und auch der Rock macht sich bemerkbar, wie schon der erste Song ‹Back in the USSR› beweist.»
Der Rock, der sich «bemerkbar» macht, zeigt, dass meine Wortwahl damals noch Entwicklungspotential hatte. Sodann vermittelte ich meinen Lesern einen Überblick über die 30 Titel:
«Besonders bemerkenswert sind: ‹Ob la di Ob la da› mit einer fröhlichen Melodie; ‹Bungalow Bill› ebenso gut und zum Mitsingen animierend; ‹Don‘t pass me by› mit Ringo als Sänger; das besonders wilde Rock n› Roll Stück ‹Birthday›; ‹Yer Blues›, eine anspruchsvolle Blues Nummer; ‹Honey Pie› in der Art von ‹When I›m sixty four› aus der Sgt.Pepper-LP; und zuletzt ‹Goodnight›, das mich in seiner klangvoll-schwermütigen Art an die Musik eines älteren amerikanischen Spielfilms erinnert.»
Obwohl ich noch einige weitere «bemerkenswerte» Stücke namentlich nannte, fällt mir erst heute auf, welche Songs ich nicht für nennenswert hielt. ‹Happiness is a warm gun›, ‹Rocky Racoon›, ‹Helter skelter›, die Balladen ‹Blackbird›, ‹Julia› und ‹I will› – und das einmalig schöne ‹While my guitar gently weeps› von George Harrison, das heute zusammen mit ‹Blackbird› zu den 10 meistgehörten Beatles-Songs zählt.
Wie konnte ich ausserdem ‹Revolution› unerwähnt lassen, denke ich heute, das im Text eine so eindrückliche Antwort auf den Dogmatismus der 68er Linken gab?
You say you want a revolution
Well, you know
We all want to change the world
You say you’ll change the constitution
Well, you know
You better free your mind instead
Ich war noch zu jung, um die politische Sprengkraft des Liedes ermessen zu können. Doch wer konnte das damals schon? 1968 war niemand bereit, das Prophetische in John Lennons Komposition zu erfassen. «Du willst die Gesellschaft ändern? Befreie zuerst deinen Geist!» Von einer solchen Botschaft mochte die Protestbewegung nichts wissen. Und sowieso – bei den Beatles ging es um die Musik. Die Texte waren weniger wichtig.
Mit ihrem ganzen bisherigen Werk, das musste auch ich anerkennen, galt die Band als die unbestrittene Nummer 1. Doch John, Paul, George und Ringo waren noch nicht die Ikonen, die sie später geworden sind, und ihre Stücke besassen noch keine Unsterblichkeit. Nur so kann ich mir heute erklären, mit wieviel jugendlicher Respektlosigkeit ich über das Weisse Album berichtete. Am Ende meiner Besprechung schrieb ich:
«Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Beatles auf diesem Album nicht viel Neues oder gar Revolutionäres geschaffen haben, wie das bei Sgt. Pepper der Fall war. Die vielen Nummern auf einer einzigen LP zusammenzufassen wäre vielleicht sogar besser herausgekommen, denn zum Beispiel das achtminütige ‹Revolution 9› bietet ausser Geschwätz und technischen Gags überhaupt nichts, wirkt offensichtlich platzfüllend und einige andere Stücke sind gar nicht erwähnenswert.»
Ziemlich unverfroren von mir, finde ich heute, manche der Songs als nicht erwähnenswert zu bezeichnen und mich zur Behauptung emporzuschwingen, die Beschränkung auf ein einziges Album wäre vielleicht sogar besser gewesen! – Interessanterweise jedoch befand ich mich mit meiner Behauptung in bester Gesellschaft. George Martin, der Produzent der Beatles, vertrat im Grunde dieselbe Ansicht. Er riet den Beatles – wie er Jahre später erzählt hat –, sich auf die wirklich guten Stücke zu konzentrieren und kein Doppelalbum herauszubringen.
Zum Glück hörte die Band weder auf mich noch auf ihn. Wenn ich mir heute vorstelle, die Beatles hätten die Hälfte der Songs gestrichen – dann hätte die Welt auf einige wunderbare Kompositionen verzichten müssen.
The Beatles - «All you need is love»
The Rolling Stones - «Let‘s spend the night together»
The Beatles - «While my guitar gently weeps»
The Beatles - «Revolution»
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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