Wo Niederweningen genau liegt
Wie ich unseren Geografieprofessor zu Reformen bewegen wollte. Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #28
Während ich bereits meine ersten Buchrezensionen verfasste, war ich als Schüler den Launen und Forderungen der Lehrer weiterhin ausgeliefert. Ich zählte inzwischen jeden einzelnen Tag bis zur Entlassung aus dem Korsett der höheren Bildung. Es hätte mir aber nicht entsprochen, einfach nur dagegen zu sein. Angefeuert von der 68er-Kritik an der herrschenden Pädagogik, stellte auch ich den Schulunterricht, den wir genossen, in Frage. Mit einigen Lehrern war ich zufrieden – andere aber versuchte ich mit reformatorischem Eifer dazu zu bewegen, ihre Stunden etwas weniger langweilig zu gestalten.
Der erste, den ich aufs Korn nahm, war der Geografielehrer, ein Herr Professor im wissenschaftlichen weissen Kittel, der sich jedesmal darüber mokierte, wenn ein Schüler beim Betrachten einer geografischen Karte westlich mit «links» oder östlich mit «rechts« beschrieb. «Rechts?» fragte dann der Professor herausfordernd, «wo ist denn rechts, wo, mein Lieber?» Doch die Freude an Geografie konnte er uns nicht beibringen. Deshalb schrieb ich ihm einen Brief:
«Sehr geehrter Herr Professor Merian
Obwohl wir im Geographieunterricht noch mittendrin stehen und also noch nicht viel zu sagen hätten, möchte ich Ihnen hier meine Ansicht über einen Teil Ihres Unterrichts mitteilen. Ich meine vor allem das Auswendiglernen. Besonders jetzt, wo wir die Schweiz durchnehmen, müssen wir auswendig können, wo exakt sich ein Ort auf der Karte befindet. Beim Kanton Zürich müssen wir sogar kleine Dörfer wie zum Beispiel Niederweningen auf den halben Zentimeter genau einzeichnen können.»
Auf der Karte, die uns Professor Merian an der Prüfung vorlegte, waren nur die Flüsse und Seen des Kantons eingezeichnet. Eine präzisere Orientierungshilfe hatten wir nicht.
«Um es direkt auszudrücken: Mir scheint dieses doch recht pedantische Auswendiglernen eine ziemliche Schikane des Schülers zu sein, auch wenn das vielleicht nicht beabsichtigt wird. Dadurch, dass wir all diese Orte so exakt einzeichnen müssen, lernen wir unser Land noch nicht kennen. Das geschieht auf andere Weise, indem Sie uns Näheres über diese Orte erzählen und mit uns Exkursionen machen. Wo ein Dorf wie Niederweningen genau liegt, werde ich später vergessen haben, und es würde mir sowieso nichts mehr nützen.»
«Um aber nicht nur zu kritisieren», fuhr ich fort, «möchte ich einige Vorschläge machen.» Ziemlich unverfroren schlug ich unserem Lehrer vor, die Liste der Orte, die wir auswendig können mussten, zu kürzen. Ausserdem fand ich, dass die ungefähre Ortung genügen müsse: «Zum Beispiel für Romanshorn: gelegen am Bodensee, oder das Klettgau: Hügellandschaft im Kanton Schaffhausen.»
Die Zeit, die wir durch weniger Auswendig lernen einsparen würden, könnte nützlicher eingesetzt werden: «Jeder Schüler erhält die Aufgabe, über ein geografisch interessantes Gebiet das Wichtige nachzulesen und in einem kleinen Aufsatz oder Vortrag zusammenzufassen.»
«Ich hoffe», schloss ich meinen Brief mit der gebotenen versöhnlichen Taktik, «dass Sie mir meine Kritik nicht übelnehmen, auch wenn ich etwas stark ins Zeug gefahren bin. Vor allem möchte ich Ihnen für den interessanten Geographieunterricht danken, den sie uns bieten. In der Hoffnung auf Ihr Verständnis verbleibe ich mit freundlichen Grüssen Ihr Schüler Nicolas Lindt«
Wie Professor Merian auf den Brief reagierte, geht aus meinen Tagebucheinträgen nicht hervor. Schriftlich hat er mir bestimmt nicht geantwortet, sonst hätte ich seine Erwiderung aufbewahrt. Meine Kritik freute ihn aber bestimmt nicht. Die Kompetenz eines gymnasialen Professors als Schüler in Frage zu stellen, war damals ein Affront, der zwar nicht bestraft werden konnte, meine Noten im Fach Geografie jedoch ernsthaft gefährdete.
Knappe zwei Jahrzehnte später, als ich mit meiner Familie nach Stäfa zog und an einem der ersten Tage aus dem Fenster zum Nachbarhaus hinausblickte, sah ich dort einen älteren Herrn auf der Terrasse sitzen, der mir bekannt vorkam. An einem der nächsten Tage sah ich ihn wieder auf der Terrasse. Unter Zuhilfenahme eines Feldstechers erkannte ich ihn. Es war unser Geografieprofessor. Ich winkte ihm zu, bis er mich sah und eilte dann hinüber zu ihm, um an der Türe zu läuten. Als er öffnete und ich mich ihm vorstellte, hatte ich tatsächlich den Eindruck, er erinnere sich an mich. Er lud mich zu einer Tasse Kaffee ein, und ich erzählte dem mittlerweile pensionierten Professor, was aus seinem einstigen Schüler geworden war.
Da erwähnte er zu meinem Erstaunen den Brief, den ich ihm seinerzeit schrieb. Er hatte ihn nicht vergessen, denn es war wohl der einzige kritische Brief, den er von einem Schüler jemals erhalten hatte. Und er gab offen zu, dass ihm meine Kritik nicht gefallen habe. Dazu lächelte er so nachsichtig und zugleich tadelnd, wie er damals gelächelt hatte, wenn ein Schüler westlich mit «links« oder östlich mit «rechts« beschrieb.
Dann wechselte er das Thema, und ich getraute mich nicht, noch einmal darauf zurückzukommen. Wo Niederweningen genau liegt, weiss ich aber schon lange nicht mehr. Dass ich es damals auswendig konnte, hat mir tatsächlich nichts genützt.
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von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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