Wir teilen die Ernte
In der «Solidarischen Landwirtschaft» verlieren die Lebensmittel ihren Preis - und erhalten so ihren Wert zurück. Gemeinschaften aus Produzenten und Konsumenten teilen das Risiko, die Verantwortung und die Ernte. Diese schmeckt noch viel besser, wenn man weiss, wo die Karotten, Zucchinis und Tomaten gross geworden sind und wer sie gepflegt hat. Ein Beispiel aus Brandenburg.
Woher kommt unser tägliches Essen, unser Getreide, Milch, Fleisch und Gemüse? Wer da immer noch an einen Bauernhof mit pickenden Hühnern und glücklichen Kühen denkt, sollte neu hinschauen.
Wenn du aus dem Fenster schaust und dort nicht deine Lebensmittel wachsen siehst, dann hast du etwas falsch gemacht. (Bill Mollison, Begründer der Permakultur)
Fast alle Lebensmittel im Handel stammen aus der global organisierten, industriellen Landwirtschaft. Nicht Bauern, sondern Maschinen, Automaten und Billiglohnarbeiter säen, ernten, verarbeiten den grossen Teil unserer Lebensmittel. Ihr Handel wird vom globalen Markt gesteuert. Die bäuerliche, familiengeführte Landwirtschaft der Vielfalt ist eine aussterbende Gattung: Während zur Jahrtausendwende in Deutschland noch rund 472 000 landwirtschaftliche Betriebe durchschnittlich 36 Hektar Fläche wirtschafteten, waren es 2019 nur noch 266 600 Betriebe mit durchschnittlich 62 Hektar. Ein Bauer, der innerhalb des Systems ums wirtschaftliche Überleben kämpft, ist gezwungen, sich von Subventionen und Marktmechanismen dirigieren zu lassen. Und das bedeutet letztlich, zu wachsen, zu intensivieren, sich zu spezialisieren, zu verschulden - mit dem immensen Wasser- und Energieverbrauch, Chemieeinsatz, Tierleid und Umweltschäden. Landwirt zu sein, heisst heute nicht nur, es mit zunehmenden Wetterextremen aufzunehmen, sondern mit der globalen Konkurrenz im Freihandel, mit Lebensmittelspekulation, Dumpingpreisen und veränderten Konsumgewohnheiten. Auch die Umstellung auf biologische Landwirtschaft bringt keinen wirklichen Ausstieg von den Marktzwängen. Wenn wir auch dann noch zuverlässig gesunde Lebensmittel essen wollen, wenn in Tokio oder New York die Börse wankt oder wenn Krisen wie Corona den globalen Transport lahmlegen, wenn wir wollen, dass Landwirte die Landschaft nicht zerstören, sondern pflegen, dann brauchen wir einen Systemwechsel. Der besteht in einer regional verankerten Landwirtschaft, in denen die Verantwortung zwischen Verbrauchern und Produzenten geteilt wird. Mit einem Wort - in Gemeinschaft.
Jungpflanzenanzucht
Die Welt braucht einen Paradigmenwechsel in der landwirtschaftlichen Entwicklung, vom Wachstumszwang zu ‚ökologischer Intensivierung.
Aus dem Bericht der UNO-Konferenz Handel und Entwicklung 2013
Ein Lösungsansatz heisst Solidarische Landwirtschaft: eine mittlerweile weltweite Bewegung, die Konsumenten und Landwirte einer Region zu Kooperativen zusammenbringt. Bei aller Unterschiedlichkeit in Methoden und Organisationsformen gibt es in jeder SoLaWi dasselbe Prinzip: Die Mitglieder bezahlen einen regelmässigen Beitrag und erhalten dafür ihren Anteil an frischen, biologisch erzeugten Lebensmitteln aus dem jahreszeitlichen Angebot des Betriebes. Der finanzielle Beitrag berechnet sich nicht am Wert der erhaltenen Lebensmittel, sondern ist die Umlage der gesamten Betriebskosten einschliesslich der notwendigen Investitionen und der Löhne. Einige Mitglieder verpflichten sich zusätzlich zur freiwilligen Mitarbeit auf dem Feld oder in der Verwaltung. Damit ist der Landwirt befreit von der ständigen Sorge ums finanzielle Überleben und kann sich um seine eigentliche Aufgabe kümmern: Ressourcen-schonend, umweltfreundlich und tiergerecht gesunde und vielfältige Lebensmittel zu erzeugen. In Deutschland sind mittlerweile 366 "SoLaWis" im Netzwerk Solidarische Landwirtschaft eingetragen.
Wie entstand die Bewegung? Es begann in den 60er Jahren in Japan: Die «Teikei», geboren aus der Umweltbewegung, versorgt bis heute Millionen von Japanern mit frischen Lebensmitteln. In den 80er Jahren wurde die Idee von Schweizer biologisch-dynamisch wirtschaftenden Landwirten in den USA aufgegriffen; unter dem Namen CSA (Community Supported Agriculture) wirtschaften dort inzwischen etwa 13.000 Betriebe. Die grösste SoLaWi weltweit existiert in Südkorea: Nach einem Bericht der Zeitschrift Brandeins haben sich dort 2300 landwirtschaftliche Betriebe und rund 644 000 Haushalte zusammengeschlossen und versorgen täglich zwei Millionen Menschen mit regionalen Produkten.
Wir brauchen einen signifikanten Übergang von der konventionellen, von Monokulturen geprägten und stark auf Agrarchemie angewiesenen industriellen Produktion hin zu einem Mosaik nachhaltiger, erneuerbarer Erzeugersysteme, die auf die enorme Produktivität von Kleinbauern setzen und sie verstärken.
(Aus dem Bericht der UNO-Konferenz Handel und Entwicklung 2013)
In Deutschland ist die Solidarische Landwirtschaft im Vergleich zur gesamten Lebensmittelversorgung noch eine kleine Bewegung. Aber sie wächst und schafft Bewusstsein für gesunde, regionale Nahrungsmittelautonomie. Wir haben eine SoLaWi in Brandenburg besucht: Die SoLaWi Fläming im Dorf Lübnitz.
Lebensmittelsicherheit in Brandenburg
In Brandenburg werden nur wenige Lebensmittel produziert: Der Boden ist sandig, die Sommer trocken. Grund genug für eine engagierte junge Frau, vor 17 Jahren nach Möglichkeiten regionalen Anbaus zu suchen. Auf dem Land einer Hofgemeinschaft von 30 Menschen, die ein altes Gutshaus im Brandenburgischen Lübnitz bewohnt, begann Stephanie Wild 2004, Lebensmittel anzubauen und sie im Rahmen der Solidarischen Landwirtschaft mit Bewohnern der Region zu teilen. Dazu gründete sie einen gemeinnützigen Verein, den LandGut Lübnitz e.V.
Stephanie Wild, die inzwischen auch ein Buch über solidarische Landwirtschaft schrieb: «Es ist ein grosser Vorteil, dass die Gemeinschaft uns das Land kostenlos zur Verfügung stellt. Wenn wir den Acker pachten müssten, wäre es finanziell sehr eng.»
Sabine Michel, die verantwortliche Gärtnerin, zeigt uns Hof und Felder. Die 54-jährige Mutter von zwei erwachsenen Kindern führte eine biologisch-dynamische Gärtnerei, bevor sie im März diesen Jahres von der Solawi Fläming eingestellt wurde.
«Ich bin mit Selbstversorgung gross geworden, habe täglich im Garten und auf dem Hof meiner Grossmutter mitgearbeitet und wusste immer, wo unser Essen herkommt. Oft musste ich noch Beeren pflücken oder Unkraut jäten, bevor ich mit den anderen Kindern spielen durfte. Erst heute weiss ich, wie wertvoll diese Erfahrung war.»
Nachdem sie als junge Mutter auf der Agrarhochschule weggemobbt wurde, fand sie erst später zurück zum Gartenbau. «Das Stellenangebot der Solawi war genau, was ich suchte: Ich wollte gemeinschaftlich gärtnern, ausserhalb der wirtschaftlichen Zwänge, in Kooperation mit Natur und Menschen.»
Auch die SoLaWi ist glücklich, sie gefunden zu haben. Stephanie Wild: «Auf Sabine ist Verlass. Der Erfolg einer SoLaWi hängt immer davon ab, ob mindestens ein erfahrener und begeisterungsfähiger Gärtner dabei ist. Der andere Faktor ist, genügend engagierte Mitglieder zu haben. 80 Mitglieder sind die Mindestzahl. Wir haben seit unserem Neustart Anfang des Jahres 55 Mitglieder, die monatlich 100 Euro beitragen. Wir möchten gerne noch etwa 20 weitere aufnehmen, damit wir wirklich nachhaltig arbeiten können.»
Alle Mitglieder können zu jeder Zeit die Anbaufläche besuchen und sehen, wie und wo ihre Lebensmittel gedeihen. Sie können Anteil nehmen an den Herausforderungen der Gärtner, diese unterstützen und das Risiko mittragen - genau das ist Absicht einer SoLaWi.
Hier in Lübnitz besteht die Anbaufläche in einem fünf Hektar grossen Quadrat bunt gemischter Gemüsebeete, das von schütteren Kieferwäldern umringt ist. Wir sehen lange Reihen von Kohlrabi, Rote Beete, Zwiebeln, Zucchini, Kartoffeln und anderen Gemüsesorten, dazwischen Kräuterbeete und am Rande drei Foliengewächshäuser mit Tomaten und Gurken, ein Mist- und ein Strohhaufen zum Düngen, alles gesäumt von Blumen und Kräutern. «Beikräuter sind wichtig für die biologische Gesundheit», erläutert Sabine. «Allerdings in Massen – Jäten und Hacken gehört dennoch zu unseren grossen Aufgaben.»
Stephanie Wild
Besonders das Franzosenkraut macht ihr zu schaffen, das sich bei dem Regenwetter der letzten Tage überall ausbreitet. «Das ist dieses Jahr ganz anders als in den letzten Jahren, wo wir mit der Dürre zu kämpfen hatten, der sandige Boden hält weder Wasser noch Nährstoffe. Gesunder Bodenaufbau ist eine grosse Herausforderung, vor allem wenn man keine eigene Tierhaltung hat.»
Dieser Herausforderung stellt sie sich gerne - und ist froh, dass sie mit ihrem festen Gehalt nicht ausserdem noch wirtschaftliche Sorgen hat. Derzeit bewirtschaftet sie etwas mehr als zwei Hektar intensiv, dazu kommt die Jungpflanzenanzucht. Der Rest des Landes ist mit Gründüngung bewachsen bzw. wird an eine benachbarte Gemeinschaft verpachtet.
Sabine tut die Arbeit nicht allein. Ein Halbzeitgärtner, zwei Mini-Jobs-Helfer und einmal in der Woche eine Reihe von Vereinsmitgliedern helfen bei der Ernte und Pflege. Auch Maschinen kommen zum Einsatz: Es gibt einen kleinen Traktor mit Egge und Fräse.
Sabine: «Trotzdem bleibt es viel Arbeit. Es ist herausfordernd, direkt dort zu leben, wo man arbeitet, da neigt man dazu, nie wirklich abzuschalten. Meine Vorgängerin hatte ein regelrechtes Burnout. Ich will das nicht, deshalb wünsche ich mir sehr, dass wir einen zweiten hauptverantwortlichen Gärtner einstellen.»
Es gibt viele verschiedene Formen von Solawis: das klassische Einzelunternehmen, eine GbR, Genossenschaften, Vereine oder Kapitalgesellschaften. Die meisten der aktuellen Solawis entstehen aus Familienbetrieben. Aber auch Verbraucher oder junge Landwirte haben Solawis gegründet. Die Betriebsgrösse geht von 0,5 bis 450 Hektar, die Zahl der versorgten Privathaushalte liegt zwischen 35 bis 2000. Weitere Information über Solidarische Landwirtschaft: www.solidarische-landwirtschaft.org
Wer bestimmt eigentlich, welches Gemüse angebaut wird? Sabine: «Wir beziehen die Wünsche der Mitglieder mit ein. Aber letztlich entscheiden wir als Gärtner, was auf unserem Boden und bei unserem Klima sinnvoll ist. Das bedeutet, dass wir viele Tomaten, Gurken, Salat und Zucchini anbauen, so wie es die meisten Menschen möchten. Darüber hinaus versuchen wir aber auch, regionale, seltene und alte Gemüsearten anzubauen, die es in keinem Supermarkt gibt, zum Beispiel schwarze Tomaten, gelbe Beete oder Amaranth als Blattgemüse. Zur Not könnten wir auch von anderen Kooperativen zukaufen oder tauschen, wenn uns etwas fehlt.»
Auf eine Bio-Zertifizierung hat die SoLaWi verzichtet. «Zu teuer, zu aufwändig für die kleine Fläche», befindet Sabine. Und es ist auch nicht notwendig. Die Konsumenten kennen die Gärtner und wissen, dass auf diesen Äckern seit vielen Jahren keine Chemie angewendet wurde.
In schlechten Zeiten, etwa bei einer Trockenheit, gab es natürlich auch Ernteausfälle. «Es war mir dann peinlich, dass wir so wenig anzubieten hatten und die Mitglieder nur einen mageren Korb bekamen. Ich habe ihnen das auf der Mitgliederversammlung gesagt und war sehr überrascht, als mich ausnahmslos alle bestärkten. Sie sagten, genau dafür machen wir das doch, um das Risiko des Bauern abzufedern.»
Sabine Michel selbst geht davon aus, dass gesunde, regional und saisonal erzeugte Lebensmittel die Grundlage für ein gutes Leben sind. «Dazu empfehle ich die einfachste Qualitätsprüfung für Lebensmittel, die es gibt: Fühle in dich hinein, wie es dir geht, nachdem du gegessen hast! Bist du müde oder wach, schwer oder leicht? Nach einem Mittagessen mit frischem Gemüse kann ich jedenfalls noch arbeiten und denken, nach "normalen" Mahlzeiten bin ich meistens platt und brauche eine Pause.»
Für die Mitglieder bringt diese Kooperation ein ganz anderes Konsumverhalten mit sich. Jeden Donnerstag besuchen sie eine von vier Abgabestellen und holen ihren Gemüseanteil ab. Das Depot in der Schlossmühle von Bad Belzig ist eine davon. Die Tür ist stets geöffnet, alles geschieht hier auf Vertrauensbasis. Einmal die Woche wird die Ernte gebracht. Auf einem Tisch präsentieren Sabine oder ihre Helfer die Kisten mit dem frisch geerntetem Gemüse, eine Tafel informiert die Mitglieder, wie viel von welchem Gemüse ihnen dieses Mal zusteht.
Eine Kundin
Die erste «Kundin», die kommt, ist Martina Beck, die eine vierköpfige Familie zu versorgen hat. «Es ist eine Erleichterung, nicht wie im Supermarkt lange überlegen zu müssen, was ich heute kochen möchte - ich nehme einfach das, was da ist, das heisst was in dieser Saison reif ist. Ich habe so schon einiges kennengelernt, was ich vorher nicht kannte.»
Was motiviert sie, bei der SoLaWi mitzumachen?
Martina Beck: «Ich will meiner Familie etwas Gesundes auf den Tisch bringen. Und da wir selbst immer wieder mithelfen, bekommen wir auch mit, wie und wo das Gemüse wächst. Es ist also wie unser selbst angebautes Gemüse, das wir hier abholen - und das ist ein unglaublich schönes Gefühl.»
Sie und die 54 weiteren Mitglieder der SoLaWi sind das Rückgrat einer gesunden, vielfältigen, nachhaltigen Landwirtschaft der Zukunft - und damit ein Faktor für regionale Lebensmittelsicherheit.
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Über
Christa Leila Dregger
Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.
Weitere Projekte:
Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth
Terra Nova Begegnungsraum: www.terranova-begegnungsraum.de
Gerne empfehle ich Ihnen meine Podcast-Reihe TERRA NOVA:
terra-nova-podcast-1.podigee.io.
Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei?
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