Die richtigen Worte nützen nichts, wenn die Erfahrung fehlt
Wie ich endlich etwas bewirken wollte und mich als Freiwilliger in der Auffangstation engagierte – und wie ich lernen musste, dass Schreiben und Sozialarbeit Welten voneinander entfernt sind. Aus der Serie «Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft» von Nicolas Lindt #42.
Mein Hunger nach echtem Leben war im letzten Jahr vor dem Schulabschluss so unstillbar geworden, dass alles Jammern im Tagebuch, alles Schreiben und Veröffentlichen nichts nützte. Ich wollte nicht mehr nur schreiben, ich wollte handeln, etwas bewegen, mich engagieren. Doch für eine politische Aktivität war ich noch nicht bereit.
Da las ich zufällig von einer in Zürich neu eröffneten Institution – einer Notschlafstelle. Sie war auf einmal ein Bedürfnis geworden. Denn die wilden Sechziger Jahre, die freie Liebe, die Absage an die Eltern und ihr spiessiges Leben, das alles hatte dazu geführt, dass immer mehr Jugendliche aus den elterlichen Erwartungen ausstiegen, irgendwo strandeten, keine Bleibe, kein Bett mehr hatten oder sogar den Drogen verfielen. Für alle diese Herumstreunenden richtete die Stadt in Zusammenarbeit mit der Kirche im alten Wollishofer Kirchgemeindehaus eine Notschlafmöglichkeit ein – eine Auffangstation. Und die Auffangstation suchte Freiwillige.
Ich hatte mir neben dem Schreiben schon lange gewünscht, gleichaltrigen jungen Leuten in Schwierigkeiten irgendwie helfen zu können. Ich hoffte, auf diese Weise meiner wohlgeordneten Welt am Zürichsee zu entkommen und Jugendliche kennenzulernen, die es nicht so gut wie ich hatten.
Immer noch 17-jährig, musste ich damit rechnen, vom Team der Auffangstation für zu jung, zu unerfahren befunden zu werden. Doch der Leiter des Teams, der bestandene, in sich ruhende Sozialarbeiter, den alle «Bär» nannten, hielt mich wohl für geeignet, gerade Jugendliche in meinem Alter erreichen zu können. Und so begann mein Dienst in der Auffangstation, was mit dem Stundenplan in der Schule vereinbar war, weil die Notschlafstelle nur abends geöffnet hatte.
Wir Freiwilligen – ein Ethnostudent, eine Pädagogikstudentin, eine angehende Lehrerin, eine Sekretärin und ich – wurden zur Unterstützung der Festangestellten gebraucht, die sich aus drei Sozialarbeitern und einer Krankenschwester zusammensetzten. An zwei bis drei Abenden in der Woche hatten wir Dienst. Der Frühdienst begann um 18 Uhr und dauerte bis Mitternacht, die zweite Schicht blieb über Nacht bis zur Schliessung der Notschlafstelle um 10 Uhr. Wie ich soviel Präsenzdienst neben der Schule und neben dem Schreiben bewältigen konnte, ist mir ein Rätsel. Aber die Energie der Jugend ist unerschöpflich, und besonders gefiel mir die Mitarbeit in der Nachtschicht von Samstag auf Sonntag, weil meine etwas einsamen Samstagabende ohne feste Beziehung auf diese Weise abgedeckt waren.
Doch schon bald weckte die für mich ungewohnte Tätigkeit das Bedürfnis in mir, davon zu erzählen. In meinem Bericht für die Zürichsee-Zeitung über die Auffangstation wandte ich mich gleich zu Beginn direkt an einen imaginären Besucher:
«Du steigst ins Tram Nummer 7 und fährst bis zur Haltestelle Post Wollishofen. Dort biegst du in den Kilchbergsteig ein, der dich steil hinauf führt zum alten Kirchgemeindehaus. Ein Schild weist dich rechts um die Ecke. Aus den Erdgeschossfenstern scheint Licht, dann stehst du im Büro der Auffangstation. Vielleicht bist du allein gekommen, jemand hat dir den Tipp gegeben, hier könne man essen und schlafen, reden oder auch schweigen. Deine Personalien werden verlangt, einen Franken kostet die Nacht, du erfährst die wichtigsten Regeln – draussen kein Lärm, jeglicher Drogengenuss verboten, um Mitternacht Lichterlöschen –, dann hast du die Bürokratie hinter dir.»
Auch heute noch gibt es eine städtische Notschlafstelle. Ihre Aufnahmeregeln sind etwas strenger geworden: Die Übernachtenden müssen 18-jährig, also volljährig sein, und sie müssen ihren Wohnsitz in der Stadt Zürich haben. Damals kamen die Besucher von überall her. Der noch minderjährige Peter zum Beispiel, der sich Pete nannte, stammte aus Basel, und seine Geschichte könnte auch die Geschichte eines jungen Menschen von heute sein.
Schon während der Lehre als Automechaniker hatte Pete mit Drogen Bekanntschaft gemacht, worauf er die Lehre abbrach und per Autostopp nach Amsterdam trampte, wo er in «Rauschgiftkreise» geriet. Am meisten sagte ihm LSD zu, da es «den Alltag vergessen lässt und faszinierende Halluzinationen hervorruft». Jeder zweite Besucher der Notschlafstelle hätte das begeistert bestätigen können, aber nicht immer waren die Trips faszinierend. Manchmal führten sie in den «Horror», so auch bei Pete, der eines Tages in ein Amsterdamer Spital gebracht werden musste, nachdem er im Kino unter LSD Platzangst bekommen hatte und ausrastete.
«Ein junger Arzt half ihm dann weiter, und noch im selben Winter trampte Peter nach Südfrankreich, um der Kälte und dem Drogenmilieu zu entkommen. In Nizza lebte er bei einem deutschen Studenten und schlug sich mit dem Strassenverkauf von Schmuck durch.» Als ihm das Geld ausging, hätte er zu den Eltern nach Basel zurückkehren können. Aber das wollte er nicht, weil sie ihn zur Fortsetzung der Lehre verdonnert hätten. Mittellos strandete er deshalb in Zürich, und weil es draussen noch kalt war, kam er in die Auffangstation.
Das alles erzählte mir Pete im Aufenthaltsraum, der noch wenige Jahre vorher dem Konfirmandenunterricht gedient hatte. Jetzt wirkte der holzgetäferte Raum mit der Batikkunst an den Wänden und den ausgesessenen Sofas leicht zweckentfremdet. Das alte Patrizierhaus hatte schon vieles erlebt, aber so viele junge Schicksale, wie sie hier ein- und ausgingen, sicher noch nie. Manchmal waren es wenige Gäste, manchmal mehr, und während die einen, um Haltung bemüht, noch immer so taten, als wären sie nur aus Versehen hier, wirkten die anderen äusserlich so abgebrannt wie im Inneren. Einige unterhielten sich, andere wollten für sich sein, und mindestens einer von ihnen befand sich auf einem Trip, von dem er noch nicht heruntergekommen war.
Manche waren Jugendliche wie Pete, Durchreisende ohne Geld, manche waren Ausgerissene von Zuhause, manche aus Erziehungsheimen getürmt – und die meisten drogenabhängig. Der Zigarettenqualm, der damals so allgegenwärtig war wie der Sauerstoff, trübte das Licht, aber eigentlich, abgesehen von Streitigkeiten und Aggressionen, die es gelegentlich gab, war die Stimmung meistens so friedlich, dass manche gar nicht mehr weggehen wollten.
Dazu trug auch die Stereoanlage bei, die ein Radio- und TV-Geschäft der Auffangstation gespendet hatte. Der Plattenspieler lief praktisch immer, aber da der Stapel an Schallplatten nicht sehr gross war, wurden dauernd die gleichen Songs aufgelegt. Die Platten waren entsprechend verkratzt, und so mischten sich in die Musik die immer wiederkehrenden Kratzer. Eine der Gäste der Notschlafstelle, die nach ihrer Mutter Susanne hiess, aber weil sie die Mutter so hasste, immer nur Sue genannt werden wollte, gehörte zu den Dauergästen der Auffangstation. Ihre Droge, neben dem Kiffen, war die Musik von Neil Young, der gerade sein bis heute bestverkauftes Album «Harvest» veröffentlicht hatte.
Hingebungsvoll hörte Sue diese LP, und am meisten liebte sie «Heart of gold», das Lied, das zur Hymne wurde. Immer, wenn das Stück mir seither begegnet, sehe ich vor mir den Aufenthaltsraum in der Auffangstation, und ich sehe das Mädchen vor mir, das Sue hiess, und ihr junges Leben nicht in den Griff bekam. Alles Ungelöste vergessend, mit geschlossenen Augen sich hin und her wiegend, lauschte sie dem Singsang von «Heart of gold» und liess sich in ihrer Trance vom Toc Toc des Kratzers nicht stören.
Zu meiner Aufgabe gehörte es, mit Pete und Sue und all den anderen jungen Heimatlosen, die bei uns übernachteten, ein Gespräch zu beginnen und mit ihnen herauszufinden, wie sie festen Boden unter den Füssen bekommen konnten. «Abklärung persönlicher Krisensituationen» nannte sich das, und bald schon redete ich an der wöchentlichen Besprechung über unsere Notschlafgäste so professionell und abgeklärt wie die Sozialarbeiter im Team.
Im Unterschied aber zu ihnen, die zum Teil selber persönliche Krisen durchgemacht hatten, war ich noch immer ein unbescholtenes Zürichseekind. Mit den Besuchern der Auffangstation verstand ich mich gut, sie schenkten mir ihr Vertrauen, und viele waren kaum älter als ich. Aber im Grunde hatte ich keine Ahnung von dem, was sie sagten und durchgemacht hatten. Ich nahm keine Drogen, ich war noch nie betrunken gewesen, noch nie von Zuhause ausgerissen und ich hatte noch nie an Selbstmord gedacht.
Dann überraschte ich ein Mädchen, das Corinne hiess, am offenen Fenster im ersten Stock der Auffangstation. Sie sagte, sie werde jetzt springen. Wir hatten am Abend vorher lange geredet, weil Corinne das Leben so sinnlos fand, während ich argumentierte, warum ich das Leben für lebenswert hielt. Ich hatte geglaubt, ich könnte sie überzeugen, indem ich die richtigen Worte fand. Jetzt musste ich einsehen, dass die richtigen Worte nichts nützen, wenn die Erfahrung fehlt. So verzweifelt, dass ich mein Leben hätte hinwerfen wollen, war ich noch nie gewesen. Corinne spürte das.
Auch andere spürten es, mit denen ich sprach. Mehr als einmal sagten sie mir: Du verstehst mich nicht. Corinne sprang dann doch nicht – aus dem ersten Stock zu springen, hätte ohnehin nicht gereicht. Trotzdem ging es ihr immer schlechter, und ein Psychiater, den wir beiziehen mussten, wies sie in eine Klinik ein. Wochen später, kaum war sie entlassen, strandete sie erneut bei uns, und ein diesmal ernsthafter Selbstmordversuch brachte sie zurück in die Klinik. Solche Geschichten erlebten wir dauernd. Wir bemühten uns um eine Lösung, einen Job, eine Bleibe, einen Weg aus der Sucht, aber am Ende standen Menschen wie Corinne doch wieder da, und alles begann von vorn.
Das frustrierte mich. Ich war in die Auffangstation gekommen, um etwas bewirken zu können, doch nur wenige Male konnte ich wirklich helfen. Mit meinem Bericht über die Auffangstation bewirkte ich mehr als mit meinem persönlichen Einsatz, denn nach seinem Erscheinen meldeten sich weitere interessierte Freiwillige.
Ich beendete den Bericht mit den Worten: «Eine zweite Auffangstation mit angeschlossenen Arbeitsplätzen ist bereits im Gespräch. Und auch weitere Projekte sind schon in Planung – unter anderem die Veränderung der Gesellschaft und die Befreiung des Einzelnen.»
Da war sie wieder: die Veränderung der Gesellschaft, mein Thema. Aus den Niederungen der Sozialarbeit, in der ich am falschen Platz war, flüchtete ich zurück in meine weltanschaulichen Höhenflüge. War die Gesellschaft einmal verändert und der Mensch befreit, würde es keine Notschlafstelle mehr brauchen.
*
Als ich vor kurzem in Wollishofen vorbeifuhr, zog es mich ein halbes Jahrhundert danach zurück an den Ort, wo ich hatte erkennen müssen, dass Sozialarbeit bedeutet, sich dem Leben zu stellen und es nicht nur zu betrachten. Das heimatgeschützte alte Kirchgemeindehaus steht immer noch da, und das Erdgeschoss beherbergt heute den Mittagshort für die Schüler. Durch die Fenster blicke ich in den Aufenthaltsraum, der jetzt ein Bistretto ist. Doch es hätte mich nicht gewundert, aus seinem Inneren die vertrauten Takte von «Heart of gold» zu vernehmen.
Jetzt, am späten Nachmittag ist die Haustür geschlossen. Es ist noch immer dieselbe Tür und dasselbe Schloss, vielleicht sogar mit dem Schlüssel, den schon ich in der Hand hielt, wenn mein Nachtdienst beendet war und ich die Türe zu schliessen hatte. Ich musste die letzten Gäste, die noch anwesend waren, dann freundlich bitten, das Haus zu verlassen, und sie schoben sich aus der Tür, widerwillig und elend. Am liebsten hätten sie sich in der Auffangstation verkrochen, aber ich musste schliessen, und ich erinnere mich, wie sehr ich spürte, dass die Welten, in denen wir lebten, verschieden waren: Während die Gäste der Auffangstation, junge Menschen wie ich, nicht wussten wohin, während sie ratlos da draussen standen, vor der verschlossenen Tür, fuhr ich heim, nach Hause zurück zu den Eltern, die mich immer willkommen hiessen.
Die nächste Folge der Serie «Wie ich mich in die Welt verliebte» erscheint am 19. Februar
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist als App erhältlich und auch zu finden auf Spotify, iTunes und Audible. Sie enthält über 400 Beiträge – und von Montag bis Freitag kommt täglich eine neue Folge hinzu.
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