«Aufstand für den Frieden» in Berlin: Der Anfang einer neuen, grossen Friedensbewegung?

Wird die schon lange begrabene Friedensbewegung auferstehen? Werden die zersplitterten Positionen sich finden und sich über ihren viele unterschiedlichen Positionen hinweg auf eine Kernforderung einigen, z.B.: Waffenstillstand – Verhandlungen?

Aufstand im Schneeregen - Foto: Georg Barthels

Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht hatten nach Berlin gerufen, und recht viele waren gekommen – trotz eisigen Schneeregens. (Wie viele, darüber gibt es wie immer unterschiedliche Angaben – nach meinem Gefühl deutlich mehr als die in den Medien genannten 13.000 – aber wohl auch deutlich weniger als die von den Veranstaltern genannten 50.000.)

Durch Unter den Linden zum Brandenburger Tor zu gehen, glich einem Spalierlauf durch unversöhnliche Gegenpositionen: Da ist zunächst ein gelb-blaues Lager mit Ukrainern und Ukrainerinnen, die die Friedenskundgebung als Angriff werten, als fehlende Solidarität und Putin-Nähe.

PanzerSie haben einen auf die russische Botschaft gerichteten, im Krieg zerstörten russischen Schrottpanzer als «Kunstwerk» aufgebaut. Viele Fahnen, Fanfotos von Selenski und Slogans wie: «Fuck Putin!» «Fragt doch die Ukrainer, was sie wollen!» Oder: «Putin wird von selbst nicht aufhören.»

Etwas weiter dann diverse sozialistische und Antifa-Splittergruppen mit Slogans gegen das Willkommensein von «Rechten» auf einer Friedensdemonstration. (Nachdem AfD-Politiker das Manifest unterschrieben hatten, hatte Alice Schwarzer gesagt, alle seien willkommen, die für den Frieden sind.)

Im Vorbeigehen hören wir erbitterte Diskussionen: Eine Frau mit dem Schild «Schon wieder schiessen deutsche Waffen auf Russen» wird von einem aufgebrachten Mann angeschrieen: «Und was ist mit den russischen Waffen?» Die Frau sagt, ja, sie sei auch gegen russische Waffen. Doch der Mann hört ihr nicht zu, er brüllt in schneller Reihenfolge diverse Jahreszahlen, die ich nicht zuordnen kann. Frieden, so scheint es hier, oder auch nur ein gegenseitiges Zuhören, ist nicht einfach. 

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Und so beginnt auch die Kundgebung (unter diesem Link gibt es die Videoaufzeichnung): Die Polizei lässt die Bedingungen für die Genehmigung verlesen. Es dürften keine militärische Abzeichen Russlands getragen werden – gut, geschenkt. Was haben militärische Abzeichen auch auf einer Friedenskundgebung zu suchen! Weiter dürften keine Landkarten der Ukraine gezeigt werden, auf denen der Donbass nicht Teil wäre – und so der Eindruck erweckt würde, der «russische Angriffskrieg auf die Ukraine» sei gerechtfertigt. Der Rest geht in Pfiffen und Rufen unter. Richtig so: denn hier nimmt sich die Polizei nun das Recht, freie Meinungsäusserung zu beschränken. 

Der Krieg ist nicht erst ein Jahr alt, sondern er begann vor 9 Jahren.

Und doch erleben wir bei der Kundgebung – eingezwängt zwischen verschiedensten Menschen, Fahnen und Slogans – ein Gefühl von Aufbruch. Schwarzer/Wagenknecht schaffen es meiner Meinung, durch die Auswahl ihrer Redner und durch ihre eigenen Beiträge ein erstes Gefühl von Zusammenhalt zu schmieden. Bequem ist das nicht – in den 80ern war es unkomplizierter, sich zu verständigen und Frieden zu fordern. Aber – so wächst an diesem Tag eine leise Hoffnung – vielleicht ist es doch möglich, sich über all die Unterschiede hinweg wenigstens auf dieses Ziel zu einigen: Waffenstillstand – Verhandlungen!

Es beginnt mit US-Ökonom Jeffrey Sachs in einer Videoübertragung mit einer klaren Botschaft: Der Krieg ist nicht erst ein Jahr alt, sondern 9 Jahre. Er habe 2014 mit dem Putsch gegen den früheren Präsidenten der Ukraine Wiktor Janukowytsch begonnen, der mit Hilfe des Westens abgesetzt wurde, weil er den Nato-Beitritt der Ukraine verhindern wollte. Sachs – der den Überfall Russlands auf die Ukraine ebenfalls deutlich verurteilt – stellte aber auch klar, dass die NATO und vor allem die USA der eigentliche Aggressor ist. Putins rote Linie sei die NATO-Osterweiterung gewesen. 

Der nukleare Winter wäre – und das möchte ich vor allem den Grünen sagen – das endgültige Aus für das Klima.

Hans-Peter Waldrich, ein Urgestein der deutschen Friedensbewegung, erinnert an die Erfolge der internationalen Friedensbewegung in den 80ern, die mit zum Ende des Kalten Krieges beigetragen hätten. Warum sollte das nicht wieder gelingen? Er fürchtet, dass wir kollektiv vergessen haben, wie endgültig ein Atomkrieg wäre. «Vielleicht hat die deutsche Aussenministerin deshalb vor Kurzem die Atombunker in Helsinki so bewundert? Weil sie einen Atomkrieg für gewinnbar hält? Aber wer in einem Atombunker überlebt, wird verhungern, wenn er herauskommt. Der nukleare Winter wäre – und das möchte ich vor allem den Grünen sagen – das endgültige Aus für das Klima.»

Jeder weitere Tag ohne Verhandlungen produziert Leichenberge auf beiden Seiten.

Erich Vad, Ex-Brigadegeneral der deutschen Bundeswehr und militärischer Berater von Angela Merkel, gab eine ernüchternde Einschätzung für alle, die glauben, die Ukraine könne den Krieg gewinnen: «Russland ist militärisch nicht zu besiegen. Eine Schlacht kann gewonnen werden, aber nicht der Krieg. Keine Waffenlieferung könnte das verändern. In der Ukraine haben wir einen Abnutzungskrieg – was das heisst, wissen wir aus dem Ersten Weltkrieg. Jeder weitere Tag ohne Verhandlungen produziert Leichenberge auf beiden Seiten.» Es sei unverantwortlich, die Ukrainer in dem Glauben zu lassen, sie könnten den Krieg gewinnen.

Pazifismus ist in Deutschland ein Schimpfwort geworden - ausgerechnet bei den Grünen.

Nach aktuellen Umfragen sind 51% aller Deutschen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine – und nur 36% dafür. In Ostdeutschland ist dieses Verhältnis noch viel deutlicher. 

«Wir fühlen uns von der deutschen Regierung nicht vertreten», betont deshalb Sahra Wagenknecht in ihrer tatsächlich mitreissenden Ansprache. Kein Zweifel, hier spricht eine Ikone mit der notwendigen volksnahen, deutlichen und emotionalen Sprache, die Menschenmassen erreichen kann – aber ihre Gegner auf die Palme bringt. (Auch abzulesen am direkt nach der Kundgebung veröffentlichten Faktenchecker der ARD – zwar kann er Wagenknechts Haupt-Argumente nicht entkräften, reitet aber dafür ausgiebig auf Nebenargumenten herum, die umstritten, daher nicht ausreichend belegt seien.)

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Wagenknecht befürchtet, dass Annelena Baerbock, die auf der diplomatischen Bühne «wie ein Elefant durch den Porzellanladen» stapfe, «aus Versehen» einen Atomkrieg auslösen könne. Jedes Mal, wenn die deutsche Aussenministerin genannt wird, reagiert die Menschenmenge lautstark mit minutenlangem: «Baerbock muss weg.» 

Pazifismus sei in Deutschland ein Schimpfwort geworden – und dieses werde ausgerechnet von der ehemals pazifistischen Partei der Grünen so benutzt. Petra Kelly würde sich schämen, sagt Wagenknecht. 

«Ich bin in den 80ern mit der Angst vor einem Atompilz über Berlin aufgewachsen.» Diese Angst habe sie heute wieder. Immer mehr Waffen zu liefern, ohne sich über ein Ziel im Klaren zu sein, würde die Atomgefahr täglich steigern. «Die Uhr steht auf 90 Sekunden vor 12. Merken das die Politiker nicht?»

Statt dessen schliesse Biden langfristige Verträge mit der Waffenindustrie. «Wie lang soll der Krieg denn seiner Meinung nach noch dauern? Mit wie vielen Opfern für die Ukraine?»

Sie verwahrt sich gegen die Kritik, den russischen Angriff zu verteidigen oder zu rechtfertigen. Schon im Manifest, das mittlerweile über 665.000 Unterschriften hat. ist von der «von Russland brutal überfallenen ukrainische Bevölkerung» die Rede. 

Ebenso wehrt sie sich gegen die Angriffe, die in der Presse gegen sie und Alice Schwarzer geführt werden, sie seien «rechtsoffen». «Neonazis und Reichsbürger haben auf der Friedenskundgebung selbstverständlich nichts zu suchen.»

Wenn sie weiterkämpfen, werden sie ja doch irgendwann aufhören und verhandeln müssen. Warum also nicht jetzt?

Auch Alice Schwarzer findet die Kritik absurd: «Sahra und ich waren immer für soziale Gerechtigkeit und Frieden – das war bisher links.» Die Feministin schlägt vor, statt der Etiketten auf das zu schauen, was jemand tut. 

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Ich bin überrascht, wie humorvoll, gelassen und sympathisch ich Alice Schwarzer finde – bisher fand ich sie immer sehr hart, polarisierend und angreifend in ihrer Haltung; meiner Meinung nach stand sie immer für einen männer-hassenden Feminismus. Davon ist jetzt nichts zu spüren. Sie sagt: «Abnutzungskrieg – was das heisst! Das Wort sollte das neue Unwort des Jahres werden! Was wird da abgenutzt? Waffen – das freut die Waffenindustrie. Aber vor allem Menschen! Ich verstehe das nicht: Wenn sie weiterkämpfen, werden sie ja doch irgendwann aufhören und verhandeln müssen. Warum also nicht jetzt? Warum sollte eine grosse, breit aufgestellte, internationale Bewegung, die Verhandlungen fordert, keinen Erfolg haben?»

Ja, warum nicht. Wenn uns die Dringlichkeit der jetzigen Situation nicht eint – was sonst!

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26. Februar 2023
von:

Über

Christa Leila Dregger

Submitted by cld on Sa, 09/17/2022 - 12:37

Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.

Weitere Projekte:

Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth

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Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei? 

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