«Wenn nicht wir die Briten verjagen, werden es unsere Söhne tun»
April 1973 – mit Parallelen zum gegenwärtigen Weltgeschehen: Wie ich publizistisch die Seiten wechselte und für den «focus» zu schreiben begann, wie ich zum politischen Kommentator wurde und das exklusivste Interview meines Lebens führte. Serie «ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft» von Nicolas Lindt #61
Ich hatte in Nordirland so viel gesehen und erlebt, dass ich Stoff genug hatte, um zurück in der Schweiz gleich mehrere Reportagen verfassen zu können. Doch dem jungen Reporter, dem zu Hause immer mehr Türen offenstanden, genügte es bereits nicht mehr, für eine angesehene Zeitung wie den Tages-Anzeiger zu schreiben. Ich sah mich nicht nur als Reporter, sondern immer entschiedener als linker Reporter, der sich den Grenzen der Mainstreammedien nicht länger fügen wollte. Denn damals waren die Mainstreammedien nicht links, so wie heute, sondern stockbürgerlich oder wie im Falle des Tages-Anzeigers höchstens sozialdemokratisch.
Die in den 60er Jahren entstandene Neue Linke begann deshalb eigene Presseerzeugnisse zu entwickeln, um ihre Weltanschauung unzensuriert verbreiten zu können. Und in der Schweiz war das vor allem der «focus» – nicht zu verwechseln mit dem heute in Deutschland erscheinenden «Focus», der sich allein schon dadurch von seinem linksradikalen Vorgänger unterscheidet, dass er seine Mitarbeiter bezahlt. Beim Schweizer «focus», der einmal pro Monat herauskam, arbeiteten alle gratis.
Das «zeitkritische Magazin», wie es sich nannte, kultivierte die «Gegeninformation». Das Heft brachte all jene Informationen und facts, die in der bürgerlichen Presse nicht geschrieben und nicht gesagt werden durften. Der «focus» war genau, was ich mir wünschte. Denn auch ich hatte schon erlebt, wie allzu kritische Sätze in meinen Berichten gestrichen wurden. Und je mehr ich mich als linksgerichtet verstand, umso linker wollte ich schreiben können.
Kurz vor meiner Abreise Richtung Irland hatte ich mich daher eines Abends an die Josephstrasse hinter dem Bahnhof begeben, wo sich die Redaktion des «focus» befand. In einem verrauchten Büro sassen um einen grossen Tisch herum die rauchenden Redaktoren, und einer von ihnen, mit dem ich Kontakt gehabt hatte, stellte mich dem Kollektiv vor. Man hatte Berichte von mir in der bürgerlichen Presse gelesen und freute sich über den jungen Überläufer, der sein Schreibtalent in den Dienst der Revolution stellen wollte.
So begann ich für den «focus» zu schreiben. Ich finanzierte meine linke Gratisarbeit mit den Reportagen und Musikrezensionen, die ich weiterhin für die Mainstreampresse verfasste, doch mein Herzblut gehörte von nun an dem «focus», wo ich als gerade erst 19-Jähriger ein weiteres Mal der Jüngste unter den Schreibenden war. Von den politisch erfahrenen Redaktoren willkommen geheissen zu werden, erfüllte mich natürlich mit Stolz. Kaum der Schule entronnen, fand ich mich in einer Gruppierung von Erwachsenen wieder, die mit ihrem publizistischen Engagement zum Kampf für den Sozialismus beitragen wollten.
Historisch war mein Einstieg beim «focus» auch deshalb für mich, weil ich schon damals erkannte: Nur eine nicht-kommerzielle, oppositionelle Zeitschrift ermöglicht mir, genau das zu schreiben, was ich für wichtig erachte. Heute, ein halbes Jahrhundert später, bin ich erneut an diesem Punkt angelangt. Wieder bin ich für Medien des Widerstands tätig. Damals waren die Mainstreammedien zu «rechts», heute sind sie zu links. Damals wie heute passte ich nicht in die Raster der grossen Zeitungen. Damals wie heute war ich ein kritischer, in der Tiefe suchender Mensch, der nicht mit angezogener Bremse denken und schreiben konnte. Nur in der Opposition, in der Alternative fand ich deshalb eine weltanschauliche Unterkunft.
Die politischen Kontakte, die ich in Belfast und Derry knüpfte, brauchte ich nicht für den Tages-Anzeiger. Ich brauchte sie für den «focus». Ein Report über Nordirland war mein Einstieg, mein Gesellenstück sozusagen, und ich nahm darin bereits eine sehr sozialistische Haltung ein. Dass die Gewalt der Provisional IRA immer wieder Verletzte und Tote forderte, dass sie geschäftliche Existenzen in den Ruin trieb und die Menschen in Angst und Schrecken versetzte, war nicht mein Thema. Einzustimmen in das Entsetzen über den täglichen Terror, wäre bloss eine Pose gewesen, die nicht zu mir gepasst hätte. Sie passt immer noch nicht zu mir. In Nordirland lernte ich schon als sehr junger Mensch, dass eine Gewaltspirale nie von selber entsteht. Terror hat stets eine Vorgeschichte. Terror bekämpfen zu wollen ist aussichtslos, wenn eine Ungerechtigkeit nicht von Grund auf bekämpft wird. So war es schon damals in Nordirland. Erst als sich die Lage der katholischen Minderheit besserte, hörten die Bombenanschläge auf.
Davon war Ulster noch weit entfernt, als ich im «focus» 1973 über die Unruhen schrieb. Die Gewalt gehörte zum Alltag, ich hatte sie selber erlebt, und ich konnte sie nicht verurteilen, weil sie die einzige Chance der Katholiken war, für ihre Hoffnung auf ein vereinigtes Irland Gehör zu finden. Doch bei aller Bewunderung für das patriotische Heldentum der Provisional IRA übte ich auch Kritik an ihr. Nach den Gesprächen mit Brian und seinen Genossen in Belfast war mir zunehmend klar geworden, dass die Provos als gute Katholiken von einem katholischen vereinigten Irland träumten. Anstelle der Katholiken wären dann die Protestanten benachteiligt worden. Brian dagegen strebte ein sozialistisches Irland an, das mit Gewalt allein nicht erkämpft werden konnte. Viel wichtiger sei die Versöhnung der katholischen und protestantischen Werktätigen. Ich argumentierte deshalb im «focus», dass die Attentate der Provos dem revolutionären Kampf eher schadeten.
«Das Erschiessen einfacher britischer Soldaten kümmert Westminster herzlich wenig, denn die schottischen und walisischen jungen Arbeitslosen werden ohnehin als Kanonenfutter in den Kampf geschickt. Massgebende Offiziere, Wirtschaftsleute und Politiker jedoch bleiben verschont. Und die Bombenanschläge? Zuviel missglückte, zu viele Opfer sind zu beklagen, und britischer Kapitalbesitz wird dabei nicht ernsthaft bedroht. Im Gegenteil: die Provisionals liefern der Armee laufend neue Gründe, die Repression gegen die Bevölkerung zu verschärfen, Unschuldige zu verhaften und die Provinz als Trainingszentrum für die Armee zu missbrauchen.»
Allein schon diese paar Zeilen aus meinem Report für den «focus» bringen zum Ausdruck, wie sich mein Schreiben veränderte. Ich erzählte nicht mehr, was ich erlebte – ich argumentierte. Ich modellierte nicht mehr mit Bildern – ich kommentierte. Ich wurde politisch. Schreiben als Mittel zum Zweck. Schreiben für den Transport der politischen Botschaft.
Höhepunkt meines Berichts für den «focus» war aber ein Interview. Ein ziemlich exklusives Interview. An meinem Abreisetag in Derry begab sich Duncan mit mir zum Bogside Inn, wo er mich diskret einem zweiten Mann übergab, um sich dann von mir zu verabschieden. Sein Comrade, der auf mich schon gewartet hatte, führte mich aus dem Pub ins Freie hinaus. Er forderte mich dazu auf, ihm zu folgen. Wir liefen eine Weile der Strasse entlang durch die Bogside, bogen in eine Seitenstrasse, betraten ein Haus, verliessen es durch den Hinterausgang und erreichten zwischen zwei Hinterhöfen ein weiteres Haus, das sich als eine Art Pub ohne Aushängeschild entpuppte.
Im Schankraum sass in der Ecke vor seinem Guinness ein jüngerer Mann, der sich in nichts unterschied von anderen Männern der Bogside. Er winkte mich zu sich, worauf mein Begleiter grüsste und sich zurückzog. Ich setzte mich zu ihm an den Tisch, mit klopfendem Herzen und voller Erwartung. Denn ich wusste, wen ich da vor mir hatte.
Seinen Namen nannte er nicht. Doch er stellte sich vor als Sprecher der Derry Brigade, und er bat mich freundlich, aber geschäftsmässig, ihm meine Fragen zu stellen. Ich hatte sie vorbereitet, nachdem mir Duncan versprach, ein Interview mit einem IRA-Officer in die Wege zu leiten. Nun sass ich da, mein Kassettengerät im Aufnahmemodus, und interviewte den Mann, einen katholischen Iren, der vielleicht ein Fabrikarbeiter gewesen war, dann vielleicht arbeitslos wurde und sich nun besser als mit dem Schraubenschlüssel mit Waffen und mit dem Töten auskannte.
Die Ecke des Pubs, in welchem das Interview stattfand, sehe ich immer noch vor mir. Ich sehe das helle Tageslicht, das durch die Fenster hereindringt, und ich sehe mich, den jungen, behütet aufgewachsenen und immer noch minderjährigen Schweizer, der noch nie eine Waffe in seiner Hand gehalten und noch nie einen Toten gesehen hatte – ich sehe mich reden mit diesem Menschen, der nicht nur der Sprecher der Provos ist, wie er mir angab, sondern in seiner ganzen Haltung ein Täter und ein Befehlshaber.
«Wie seht ihr eure gegenwärtige Position in den katholischen Vierteln?», fragte ich ihn. «Eine Guerillaarmee», erwiderte der Provisional-Mann, leicht überlegen lächelnd, «kann nur überleben, wenn sie von den Menschen akzeptiert und getragen wird. Das ist in den katholischen Quartieren der Fall. Die Engländer halten die ganze Bogside besetzt und trotzdem sitze ich hier und spreche mit dir. Das könnte ich nicht, wenn die Bevölkerung uns nicht schützen würde. Natürlich können wir keine Sozialarbeit leisten, da wir im Untergrund tätig sind. Unsere Aufgabe beschränkt sich auf die Notwendigkeit, unser Volk zu verteidigen.»
«Dann seid ihr also praktisch nur eine defensive Armee?», hakte ich nach. «Nein, wir kämpfen auch offensiv: Seit uns die britische Armee den Krieg erklärt hat, sind auch wir im Kriegszustand mit ihr und greifen ebenfalls an. Und eines Tages werden wir siegen, denn wie es heisst: Man kann einen Revolutionär töten, aber nicht die Revolution. An die Stelle jedes toten IRA- Freiwilligen tritt ein anderer. Wenn nicht wir die Briten verjagen, werden es unsere Söhne tun.»
So entwickelte sich mein Gespräch mit dem IRA-Mann. Nachdem er meine letzte Frage beantwortet hatte, erhob er sich. Er schüttelte mir die Hand und sagte zum Abschied: «Erzähle den Menschen in deinem Land die Wahrheit!» Es war keine Bitte. Es war ein Auftrag.
Mein Begleiter von vorhin betrat den Raum und brachte mich, wieder auf Umwegen, zurück ins Bogside Inn. Eine Weile, ich erinnere mich, blieb ich noch sitzen im Pub, immer noch aufgewühlt von meiner Begegnung mit dem Provisional-Mann. Dann wanderte ich aus der Stadt hinaus an die Ausfallstrasse. Ich glaube, ich war erleichtert, dass ich beschlossen hatte, Derry und den irischen Norden noch am gleichen Tag zu verlassen. Ich wählte dieselbe Route nach Südirland wie im Sommer davor, mit Elias zusammen. Und wieder führte die Route in Richtung Westen. Nach Galway.
Im Jahr davor hatten wir dort eine Insel besucht, von der ich schon bald danach wusste, dass ich zu ihr zurückkehren würde. Diese Insel war mir ganz wichtig. Denn obwohl ich nun für den «focus» zu schreiben begann, schlug noch immer ein zweites Herz in mir. Oder vielleicht eher: das erste Herz. Mein wildromantischer Teenagertraum von einem Leben in Irland lebte noch immer in mir, und unser Besuch auf dem abgelegenen Eiland im Sommer davor hatte meinem Traum neue Nahrung gegeben.
Diesmal wollte ich die Insel als Reporter besuchen. Doch für den «focus» war mein Abstecher nicht gedacht. Ich reiste für den Tages-Anzeiger dorthin und ich glaube, ich brauchte dieses Erlebnis. Ich brauchte diese ganz andere Welt, die mich dort erwartete, um mich zu erholen von Nordirland. Von der Überdosis an Realität.
In Cleggan nahm ich das Fährboot, das nur bei gutem Wetterverhältnissen auslief. Nach einer Stunde bewegter Fahrt trat das Ziel aus den Nebelschwaden hervor: Inishbofin – die Insel der weissen Kuh.
Nächste Folge am Sonntag 19.11.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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