Öffnet die Kirchen!

Vom Bedürfnis, in die Kirche zu gehen, besonders jetzt, wo kriegerische Zeiten drohen - und es doch nicht zu tun. weil mir die Kirchentüren verschlossen sind. Die Kolumne aus dem Podcast «Fünf Minuten».

Segnas in der Surselva
Die freundliche Kirche mitten im Dorf – Segnas in der Surselva (Foto: N.Lindt)

Wenn am Sonntagmorgen die Kirchenglocken vom Dorf herauf zu läuten beginnen, möchte ich mich an ihnen erfreuen. Ihre mächtig wogende Schwingung über dem Dorf vermittelt uns das Gefühl, dass alles gut und in Ordnung ist. Doch das fröhliche Läuten, das den Raum des Tales erfüllt und von den Hügeln klangvoll zurückhallt – an Sonntagen tut es jedesmal weh.

Denn es ruft mich. Es lockt mich, mit der ganzen Kraft dieser herrlichen Glocken. Aber ich kann ihrem Ruf nicht folgen. Ihr Jubilieren erinnert mich schmerzlich daran, dass mein Bedürfnis unerfüllt bleibt – das Bedürfnis, in die Kirche zu gehen und meine Dankbarkeit für alles, was das Leben mir schenkt, feierlich mit Gleichgesinnten zu teilen. Das würde ich gern. Aber es geht nicht.

Weil die Kirche der Kirche gehört. 

Ich habe nicht zu allen Gotteshäusern dieselbe Empfindung. In Kathedralen mit ihrer übermächtigen Imposanz fühle ich mich verloren. Moderne Kirchenbauten lassen mich kalt. Doch die freundliche Kirche oder Kapelle, die mitten im Dorf steht und die Geschicke der Menschen kennt – wo immer ich ihr begegne, möchte ich sie betreten. Obwohl ich von vornherein weiss, was geschehen wird.

Ich öffne die schwere Pforte und trete ins Halbdunkel ein. Unschlüssig bleibe ich stehen, festgehalten im Zwielicht zwischen dem Licht der Welt und dem dunklen Geheimnis der Ewigkeit. Ich blicke ins Innere, erfasse die Grösse und Würde des Raumes, überfliege die Bänke, sehe die Gläubigen ruhig, mit Bedacht ihre Andacht verrichten – und möchte selber gern etwas tun. Doch es bleibt ein Besichtigen, ein scheues, distanziertes Bewundern. 

Ich habe in Kirchen schon Kerzen entzündet und etwas Geld in die Kasse gelegt. Ich dachte dabei voller Liebe an meine Liebsten, so wie man das macht, beim Entzünden der Kerze in einer Kirche. Doch es änderte nichts. Ich fühlte mich noch immer als Fremder. 

Manchmal, beim Öffnen der Kirchentür, platze ich mitten in einen Gottesdienst. Dann kommt es mir vor, als hätte ich einen Boden betreten, der mir verboten ist. Ich höre die Orgel, den schönen Gesang, die hallenden Worte des Geistlichen. Er spricht über Gott, doch er spricht nicht zu mir. Die Sprache der Kirche schmerzt in den Ohren. Der Pfarrer sagt Worte, die ich nicht spüre. Sie erreichen nur meinen Kopf, aber nicht mich. 

Wieder im Freien, atme ich auf. Die Welt da draussen ist niemandes Eigentum. Sie gehört uns allen. Draussen, am lauschigen Waldrand, auf Berges Höhen, an stillen Ufern, draussen bei Nacht – überall unter dem Himmelszelt finde ich Gott. Überall kann ich Danke sagen und auf die Knie gehen. Ich bin in solchen Momenten allein, allein mit mir selbst und mit der Natur, aber ich fühle mich aufgehoben in ihrem Schoss. Denn auch die Natur ist eine Kirche. Meine Kirche.

Sechs Tage lang komme ich damit aus. Doch der siebte Tag ist der Sonntag. Dann rufen wieder die Glocken, und es zieht mich erneut an den Kraftort im Dorf. Denn da, wo die Kirche steht, ist die Kraft, und die Kraft war schon immer da. Eine Kirche ist ein Ort der Gemeinschaft. Sie hat Bänke für viele Menschen. In der Kirche strömte das Dorf zusammen und dankte dem Herrn für die Frucht auf dem Feld das tägliche Brot und die Bewahrung des Dorfes vor Unglück und Not. So war es einmal. 

Ich möchte das auch. Ich möchte das heute, gerade heute, wo nicht nur das Dorf, sondern die Welt aufs Neue bedroht ist, wo die Gottlosen mit Geschrei auf dem Vormarsch sind und die Köpfe über die Herzen herrschen. Ich möchte meine Besorgnis teilen mit allen, die so besorgt sind wie ich. Ich möchte meine Zuversicht teilen mit allen, die wie ich an das Gute glauben, und ich möchte am Sonntag das Leben feiern, dieses grosse Geschenk, ich möchte es feiern mit Wort und Musik, mit Tanz und Gebet.

Am Sonntag möchte ich nicht allein sein, denn allein bin ich schwach. Am Sonntag möchte ich in die Kirche gehen – in eine Kirche, die Mauern aus Stein hat, aber keine Mauern aus Angst, eine Kirche, die nicht den Eliten dient, sondern Gott, und eine Kirche, die das Göttliche nicht für psychologischen Trost hält, sondern für die Wahrheit. In eine Kirche möchte ich gehen, die nicht katholisch ist und nicht protestantisch, nicht muslimisch und nicht buddhistisch. In ein Gotteshaus möchte ich gehen, das keinen anderen Namen braucht als den heiligen Namen der Liebe. 

Ich bin überzeugt, vielen geht es wie mir. Doch wir, die Suchenden bleiben draussen, solange die Kirchen den Kirchen gehören. 


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Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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