Die Zukunft des menschlichen Bewusstseins

Schon immer haben Propheten vom Kommen eines «Neuen Menschen» geträumt. Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, seine eigene Überwindung durch ein «Höheres» herbeizuphantasieren. Sicher ist, dass sich das kollektive Bewusstsein der Menschheit weiterentwickelt. Gibt es seriöse Methoden, um die Evolution des Geistes in der näheren Zukunft vorherzusehen? (Roland Rottenfußer)

Friedrich Nietzsches „Zarathustra“ hatte die Zukunft klar vor Augen: „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.“ Dieser „Übermensch“ – kraftmeierisch und von keinem ethischen Skrupel angekränkelt – erscheint heute wie eine Vorausdeutung auf den kapitalistischen Homo oeconomicus. Leider sind Gier und Egoismus eher allzumenschlich als übermenschlich. Als Kontrast schuf Nietzsche eine zweite Vision, die vom „letzten Menschen“. Der ist eine klägliche Verkümmerungsform, die nach Glück und Bequemlichkeit strebt, Leiden zu vermeiden sucht, für jedes Wehwehchen eine Pille bereithält und die Gleichheit aller Menschen fordert. Welche der beiden Visionen wird sich erfüllen?



Nicht wenige andere Denker haben den Menschen als „werdenden Gott“ betrachtet. Die Theosophen ebenso wie der Sufi-Mystiker Gurdjieff oder der indische Guru Sri Aurobindo, der voraussah, ein „supramentales Bewusstsein“ werde zu den Menschen herabsteigen. Sicher ist, dass sich Bewusstsein in längeren Zeitzyklen entwickelt – und zwar in Richtung auf höhere Komplexität. Es ist nicht wahrscheinlich, dass dieser Prozess ausgerechnet heute endet. Die Phase von 2011 bis 2013 (oder darüber hinaus) könnte sich durchaus als Schwellenzeit erweisen. Daher dürfen wir Mutmaßungen darüber anstellen, in welche Richtung die Evolution fortschreiten wird. Wie wird der Mensch der Zukunft denken, fühlen und handeln?



Wenn wir uns vom künftigen Menschen ein Bild machen wollen, haben wir mehrere Möglichkeiten:



1. Wir bedienen der Fantasie und Intuition. Oder wir nehmen medial „empfangene“ Bücher zur Grundlage.



2. Wir verlängern die heute sichtbaren Entwicklungslinien einfach weiter in die Zukunft. Wir können z.B. die zunehmende Durchdringung des Alltags durch Computer aufs Korn nehmen und uns eine dekadente, entkörperte, komplett von Technik abhängige Menschheit vorstellen. Im Disney-Trickfilm „Wall-E“ bewegen sich übergewichtige Menschen nur noch auf schwebenden Sesseln und lassen sich alle Wünsche per Knopfdruck von Maschinen erfüllen.



3. Wir identifizieren lebende Menschen, die wir für weit entwickelt halten, und betrachten sie als Vorläufer des Kommenden. Wir nehmen an, dass die Masse der Menschen den Pionieren folgen und dass deren Bewusstseinsniveau irgendwann Gemeingut sein wird. Galilei war z.B. ein Vorläufer des rational-naturwissenschaflichen Weltverständnisses. Seinerzeit wurde er von der Kirche angefeindet, heute denken die meisten Menschen im Westen wie er, wissen z.B., dass die Erde nicht Zentrum des Universums ist. Aus praktischen Gründen werde ich im Folgenden hauptsächlich den dritten Weg beschreiten. Es gibt sehr unterschiedliche Ansichten darüber, wer als Pionier zu verstehen ist und wie das Bewusstsein des Zukunftsmenschen beschaffen sein wird.



Theorie 1: Eine Menschheit aus „Vulkaniern“. Die Emotionen werden abflachen, die technische Intelligenz wird dagegen explodieren. Es findet eine zunehmende Entmaterialisierung statt: von der Schreibmaschine zum Computer, zum Touchscreen, zum sprach- und schließlich gedankengesteuerten Computer. Pioniere: Hektische Nerds wie Marc Zuckerberg (Facebook-Gründer).



Theorie 2: Zunehmende übersinnliche Kräfte.


Indigo-Kinder entwickeln fantastische Fähigkeiten, etwa eine Zeitung mit den Füßen zu lesen. Stärker wird auch die Fähigkeit, sich seine Realität magisch selbst zu „kreieren“. Als Pioniere setzten sich meist Autoren des „Positiven Denkens“ in Szene. 



Theorie 3: Erleuchtung für alle


Erleuchtung, bisher nur wenigen spirituellen Meistern vorbehalten, könnte zum Allgemeingut werden. Andrew Cohen, Herausgeber der Zeitschrift „EnlightenNext“, nennt sein Konzept „Evolutionäre Erleuchtung“ und sieht eine umfassende Transformation des Bewusstseins voraus. Pioniere wären Gurus und Satsanglehrer.



Theorie 4: Globales Verantwortungsbewusstsein


Immer mehr Menschen werden sich bewusst, dass wir als Erdbewohner zusammengehören und unseren Lebensraum bewahren müssen. Das Mitgefühl, die Identifikation mit „Allem“ und das Verantwortungsgefühl steigen. Pioniere sind z.B. Alternative Nobelpreisträger wie Hans-Peter Dürr oder Vandana Shiva.



Um eine Idee vom „Menschen der Zukunft“ zu bekommen, ist es hilfreich, sich existierende Stufenmodelle der Bewusstseinsevolution anzuschauen und hier besonders die fortgeschrittenen Stufen zu beachten.



Hingabe und Einverständnis



Ein interessantes System entwickelt Wilfried Nelles, der als Therapeut mit Bert Hellingers „Familienstellen“ arbeitet, in seinem Buch „Das Leben hat keinen Rückwärtsgang“ (2009). Sein Schnelldurchlauf durch die Bewusstseinsevolution lässt den Menschen bei der unbewussten Einheit mit der Natur starten und führt ihn zunächst – über familiäre, religiöse und nationale Bindungen – zur größtmöglichen Vereinzelung. Der moderne Mensch löst sich aus Zwängen und Verbindlichkeiten, sagt „ich will“, verlässt sich im Lebensvollzug auf seine eigenen Kräfte und bei ethischen Entscheidungen auf sein Gewissen. Interessant sind für uns nun die höheren Stufen. Diese zielen aus der Vereinzelung wieder zurück in die Einheit. Zunächst stellt sich Sensibilität für die Bedürfnisse anderer ein, solidarisches Empfinden, „ökologisches Bewusstsein“. Man kann die vierte Stufe nach Nelles gut mit der Geistesart eines „typischen 68ers“ oder Hippies beschreiben. Auch neue Formen undogmatischer Spiritualität tauchen auf.



Wenn wir zu noch höheren Stufen fortschreiten, erwartet uns eine Überraschung. Nicht den Willensheros, der sein Schicksal selbst kreiert, finden wir hier, sondern pure Hingabe. „Was bedeutet es nun, auf Stufe 5 zu Hause zu sein? Es heißt vor allem, dass man sein Wollen gänzlich aufgegeben hat. (…) Der Wille ist jetzt ganz in den Dienst von dem gestellt, was sich in mir und durch mich manifestiert, in die Welt kommen will.“ Stufe 6 ist dann geprägt durch ein ausgeprägtes „Zeugenbewusstsein“. Wir identifizieren uns nicht mehr mit den Dramen des Ego und erlangen innere Freiheit, indem wir dem Geschehen zuschauen und zustimmen. „Das Bewusstsein der sechsten Stufe ist in Einklang gekommen mit dem Bewusstsein schlechthin, wie es sich in den Erscheinungen (…) der Welt ausdrückt.“ Dieses Bewusstsein ähnelt, analog zum Lebenszyklus des Einzelmenschen, dem Alter. Und es kann nur auf ein Ziel zufließen: den Tod (des Egos). Auf dieser Stufe ist nicht mehr nur „Einklang“, sondern Identität mit dem kosmischen Ganzen gegeben.



Planet der Erleuchteten



Übrigens wurde das Modell „Von der Einheit zur Vereinzelung, von der Vereinzelung zurück zur Einheit“ in ähnlicher Weise schon von dem großen Theologen Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) entworfen. Pioniere des Zukunftsmenschen nach Wilfried Nelles sind zunächst Künstler, die sich zum „Kanal“ für ein Werk machen, das durch sie kommen will. Dann auch große Dienende und Liebende, Mystiker und Erleuchtete. Die Vorstellung, dass ihnen die Zukunft gehört, wirkt zunächst anziehender als die Vision eines Planeten der Computer-Nerds. Nelles Modell hat aber den Nachteil, dass es in sich abgeschlossen wirkt. Es bleibt kaum Raum für das ganz Neue, Unerwartete.



Differenzierter und „ergebnisoffener“ ist das Modell „Spiral Dynamics“, das 1996 von Don Beck begründet und von Ken Wilber weiter entwickelt wurde. Es umfasst 9 Stufen der Bewusstseinsevolution, die (willkürlich) mit Farben bezeichnet werden: blau, orange, grün usw. Jede Stufe erscheint als Reaktion auf die Schattenseiten der vorhergehenden. Spiral Dynamics wurde 2011 von Werner Küstenmacher, Marion Küstenmacher und Tilmann Haberer noch einmal in populärer Form zusammengefasst: „Gott 9.0“. Ich stütze mich im Weiteren vor allem auf dieses Buch.



Spiral Dynamics: Farbenlehre des Bewusstseins



Wir überspringen hier die archaischen Bewusstseinsstufen („magisch“, „mythisch“), von denen heute lebende Menschen kaum noch betroffen sind. Den „Mainstream“ dominieren vor allem drei Stufen: „Blau“ sind z.B. erzkonservative US-Amerikaner. Sie pochen auf Recht und Ordnung, schaffen sich Nationen mit starken Zentralregierungen und halten eine Glaubensvorstellung für wahr, weil sie in einem Heiligen Buch verankert ist. „Orange“ ist jene Geistesart, die im Zeitalter Galileis ihren Anfang nahm: Aufklärung, Vernunft und Fortschritt, aber auch Individualismus und die Macht des Gewissens gehören zu dieser Stufe. Als Schattenseiten zeigten sich bald die Ausbeutung der Natur, Werteverlust und gar technokratischer Kapitalismus. Darauf reagierend entstanden die Emanzipationsbewegungen der Arbeiter und Frauen sowie die Umweltbewegung („grün“). Sensibilität, Innerlichkeit und Solidarität gewannen an Bedeutung.



Stellen wir uns also Menschen vor, die zu Anti-Atomdemos gehen, im Bioladen einkaufen und einen Yoga-Kurs besuchen. Sind über dieses Bewusstseinsniveau hinaus überhaupt noch Steigerungen denkbar? Beck und Wilber meinten: „ja“ und entwarfen eine weitere, die „gelbe“ Stufe. Eine „gelbe“ Person kennzeichnet zunächst ein Grundgefühl von Einsamkeit. Ihr geht es auf die Nerven, in Schamanengruppen im Kreis zu tanzen oder auf Demos im Chor „Hoch die internationale Solidarität!“ zu brüllen. Der „Gelbe“ braucht viel Zeit für sich allein und er denkt über allerlei nach: z.B. darüber, ob die Feindbilder der „Grünen“ für ihn überhaupt noch gelten. „Blaue“ Spießer oder „orange“ Technokraten, selbst „purpurne“ Indianer: alle sind für ihn o.k. – auf  ihre Weise.



Zukunftsmenschen: Vernetzte Überflieger



„Gelb“ sieht und würdigt alle Stufen, die davor existierten und entzieht sich so den Aufgeregtheiten von Klassen- und Meinungskämpfen. „Gelb“ denkt „integral“ (im Sinne von integrierend), „systemisch“ und „synthetisch“. Diese Menschen sind individualistischer als „grüne“, sie überwinden Distanz jedoch, indem sie sich vernetzen – unverbindlich und in Freiheit. Ken Wilber setzte mit „Gelb“ zunächst seiner eigenen Wesensart als philosophischer „Überflieger“ ein Denkmal. Wenn man Pioniere sucht, kann man außerdem an die Internet-Generation denken, die auf vielen Kanälen kommuniziert, offen ist, jedoch auch „festlegungsscheu“. 



Auf der nächsten Stufe, „Türkis“, werden die Ausführungen des Buchs „Gott 9.0“ arg spekulativ, denn kaum eine heute lebende Person vermag solche Geisteshöhen zu erklimmen: Alle Menschen sind demnach „Zellen in diesem einen großen göttlichen Organismus, und nicht nur die Menschen: Auch Tiere, Pflanzen und sogar die unbelebte Natur gehörten dazu.“ Intuition und Instinkt werden wichtiger, paranormale Fähigkeiten verstärken sich, was an die „Indigokinder“ erinnert. Auch Gipfelerlebnisse und spirituelle Erfahrungen, in denen „das personale Ich verschwindet“ treten gehäuft auf. Sich darüber hinaus Entwicklung vorzustellen, fällt schwer. Darum ist die vorerst letzte Stufe des Systems, „Koralle“, auch rein fiktiv und nicht genau umrissen.



Nicht am Gras ziehen, damit es wächst!



Insgesamt ist „Spiral Dynamics“ ein beachtenswertes und plausibles Modell der Bewusstseinsevolution. Die große Erzählung schwächelt jedoch in der Endphase. Die Stufen sind dort nicht mehr so klar konturiert und erscheinen wie eine Ansammlung von Eigenschaften, die den Begründern des Weltbilds fortschrittlich schienen. Man könnte „Gelb“ und „Türkis“ auch als eine Stufe interpretieren. Oder als Varianten der Stufen „Orange“ (technikbegeisterte Individualisten) und „Grün“ (solidarischer Weltbeglückungswunsch mit mystischem Touch). Gerade das Bild von „Gelb“ scheint stark durch Ken Wilbers persönliche Aversion gegen die amerikanischen „Babyboomers“ (68er) und ihre Werte geprägt zu sein. Wie auch die Quantenphysik zeigt, ist die Zukunft im Prinzip ergebnisoffen und kein bloße Verlängerung der Vergangenheit. Somit sind Vorhersagen so gut wie unmöglich. Das Neue ist weniger durch Vergangenes prädestiniert, sondern tritt aus der Zukunft her kommend aktiv in die Existenz.



Auch das bewusste Heranzüchten erwünschter Eigenschaften des Zukunftsmenschen, wie es Peter Sloderdijk 1999 in „Regeln für den Menschenpark“ vorgeschlagen hat, sollten wir lieber bleiben lassen. Die Evolution entzieht sich hartnäckig allen „Umerziehungsversuchen“ durch den begrenzten menschlichen Verstand. Das Gras wächst nicht schneller, wenn wir an ihm ziehen. Wilfried Nelles vergleicht die Evolution mit einem Fluss, dessen Bestimmung es ist, im Ozean zu münden. Wir sollten jedoch nicht zu viel Ehrgeiz entwickeln, möglichst schnell dort hin zu gelangen. „Es würde bedeuten, sein Flusssein zu verleugnen und all die großartigen Landschaften zu verpassen, die er auf dem Weg zum Meer zu durchfließen – und durch sein Fließen mitzugestalten – hat.“




Buchtipps:


Küstenmacher/Haberer/Küstenmacher: Gott 9.0 – wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird. Gütersloher Verlagshaus, 320 Seiten, Euro 22,99



Wilfried Nelles: Das Leben hat keinen Rückwärtsgang. Die Evolution des Bewusstseins, spirituelles Wachstum und das Familienstellen. Innenwelt Verlag, 295 Seiten, Euro 16,80