Schon im Jahr 1996 sah ich mich als Erster Vorsitzender des Universitätszentrums für Friedensforschung (UZF) veranlasst, einen Beitrag zu schreiben mit dem Titel: «Österreichs Neutralität ist gefährdet». (1) Mein Engagement für die Neutralität wurde vom Rechtsphilosophen René Marcic (2) wachgerufen, als dieser im Jahr 1968 in der Furche einen zeitlos bedeutsamen Beitrag unter dem Titel «Zehn Thesen zu unserer Neutralität» (3) schrieb.
Was ist Neutralität?
Was ist das Wesen der politisch-militärischen Institution der Immerwährenden Neutralität und welche Bedeutung hat dies für Österreich? Das Wort «neutral» leitet sich vom lateinischen Wort «neuter/neutrum» ab, zu deutsch «keiner/ keines von beiden». Gemeint ist im politisch-völkerrechtlichen Sinn die strikt unparteiische Haltung eines Staates gegenüber Staaten, die sich im Kriegszustand befinden. Im Kriegsfall garantiert ein neutraler Staat beiden Kriegsparteien, keinen der beiden kämpfenden Staaten in einer Weise zu bevorzugen bzw. zu benachteiligen, durch welche die Siegeschancen erhöht oder geschmälert werden könnten, ohne sich dabei um die völkerrechtliche oder eine sonstige Gerechtigkeitsfrage zu kümmern. (2)
In der Enzyklopaedia Britannica las man damals, als das Neutralitätsgesetz beschlossen wurde, folgende Definition der Neutralität, die auch heute noch gültig ist: Neutralität ist «der rechtliche Status eines Staates, der daraus entsteht, dass er sich jeder Teilnahme an einem Krieg zwischen anderen Staaten enthält, in den Beziehungen zwischen den kriegführenden Staaten dauernd unparteiisch ist und diese Nichtteilnahme und Unparteilichkeit von den Kriegführenden anerkannt wird.» Jede Parteilichkeit, ungeachtet der Schuld am Kriegsausbruch, ist zu vermeiden. Trifft diese Beschreibung heute – speziell in Bezug auf den Ukrainekrieg – auf Österreich zu? Konkret: Wird Österreichs Unparteilichkeit von beiden Kriegsparteien anerkannt?
Beim Konflikt zwischen Israel und der Hamas bzw. Iran scheint mir derzeit die Unabhängigkeit Österreichs im neutralitätsrechtlichen Sinn eher gegeben, beim Ukrainekrieg habe ich schwere Bedenken. Es handelt sich manchmal um eine Gratwanderung, aber sobald diese nicht gelingt, entsteht der Eindruck, die Neutralität werde ein bisschen wie ein folkloristisches Accessoire angesehen, das lediglich wegen der Volksmeinung noch nicht beseitigt werde.
Wie das Ansehen der Neutralität wuchs
Was heute nicht genug geschätzt wird, ist der Anstoss des Roten Kreuzes für die Förderung des Neutralitätsgedankens. Das Rote Kreuz entstand, nachdem der Rotkreuz-Gründer, der Schweizer Henri Dunant (1828-1910) nach der Schlacht von Solferino (1859) Hilfsaktionen für verletzte Soldaten beider Kriegsparteien organisierte, nachdem er als Christ nicht ignorieren konnte, dass die Armeen nach dem Sardinisch-Österreichischen Krieg die oft schwer Verletzten einfach neben den Leichen am Schlachtfeld liegen gelassen hatten. Er leistete und organisierte Hilfe, gemeinsam mit Frauen aus den Nachbardörfern von Solferino, die er dazu anspornte. Man verband, pflegte und versorgte Verwundete beider Seiten. «Fratelli tutti» (alle sind Brüder/Geschwister) war der Leitspruch.
Danach bewarb er die Gründung einer Organisation, die solche Hilfen auch künftig leisten sollte, woraus das Rote Kreuz (4) hervorging und ebenfalls unparteiisch agieren sollte. Zwar entbrannte anfänglich um die Neutralität der Hilfe für Soldaten beider Kriegsparteien ein interner Streit innerhalb des Roten Kreuzes, der aber überwunden werden konnte. Davor galt die Neutralität eher als Feigheit oder Schwäche, teils als Kompromisslösung bei Streitfragen zwischen Grossmächten bzw. auch als eine Art Bestrafung («Neutralisierung») durch andere Staaten, was sich später langsam änderte.
Die Schweizer Neutralität (5), die 1815 am Wiener Kongress nach dem Sturz Napoleons beschlossen worden war, wurde allmählich Vorbild für andere Staaten. Nicht zufällig war es wieder ein Schweizer, der Philosoph Karl Jaspers, der erklärte: «Die Verantwortung der Neutralität [ist:] der Menschheit zu dienen durch Bewahrung eines Ortes, an dem in allem Kampf die Kämpfenden sich noch treffen können zum Gespräch; das gewaltlos Menschliche sichtbar und rein zu erhalten; dem Gedanken der Hilfe statt des Kampfes mit gleichen Opfern wie der Kämpfende zu erfüllen.» (6) Heute wird Neutralität allgemein als wichtiger Dienst am Weltfrieden anerkannt.
Das österreichische Neutralitätsgesetz, seine Bedeutung und Vorgeschichte
Wie entstand die Neutralität Österreichs? Eine gewisse Neutralität als Modell für Österreich vertrat erstmals der letzte Ministerpräsident der «österreichischen Reichshälfte» der Donaumonarchie, der Pazifist Heinrich Lammasch (1853-1920). Nach dem Ende der Monarchie wurde der Staat «Deutsch-Österreich» gegründet und Hans Kelsen (7) wies nun den Weg: «Deutsch-Österreich hat niemandem den Krieg erklärt, es ist ... vom ersten Augenblick seiner Existenz neutral oder quasi-neutral.» Mit «quasi-neutral» bezeichnet man den de-facto-Status eines Staates ohne vertragliche internationale Bindung. Österreich wurde im Vertrag von St. Germain «als quasi-neutral bezeichnet ... Der internationale Status ... Österreich[s] war [zwar] vertraglich formuliert, [wurde] aber aus ... [bestimmten] Gründen nicht als «dauernde Neutralität» bezeichnet ...» (8)
Nach dem Zweiten Weltkrieg spielten neben Juristen die Politiker Leopold Figl, Julius Raab und Bruno Kreisky in der Vorgeschichte des Neutralitätsbeschlusses eine bedeutende Rolle. Bruno Kreiskys Rolle wird oft unterschätzt: Kreisky fuhr eigens in die Schweiz, um dort möglichst genaue Informationen über die Schweizer Neutralität von Fachleuten einzuholen, damit er besser argumentieren konnte, was das vorgeschlagene «Schweizer Modell» der Neutralität konkret bedeutet. (9)
Das österreichische Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität vom 26. Oktober 1955 ist ein sehr knappes, aber gewichtiges Gesetz, von dessen kurzem Text vor allem Art. I wichtig ist:
Artikel I.:
(1) Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach aussen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen.
(2) Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.»
(Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs, in: BGBl. Nr. 211/1955 am 28. Okt. 1955. (Hvhbg. EB))
Demnach deklarierte Österreich die immerwährende Neutralität «zum Zweck der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach aussen» und sicherte den Signatarstaaten die Geltung dieses Gesetzes «in aller Zukunft» zu. Rudolf Kirchschläger (der spätere Bundespräsident), betonte, dass die immerwährende Neutralität gebieterisch nach Unabhängigkeit verlangt. (10)
Das internationale Völkerrecht besagt, dass ein Verfassungs-Gesetz, wie Österreich es beschloss, an sich gar nicht notwendig wäre, damit ein Staat der übrigen Staatenwelt seine künftige Neutralität in gültiger und vertraglich verpflichtender Form bekannt macht; es genügt eine an die Staaten verbreitete Erklärung. Das Neutralitäts-Verfassungsgesetz 1955 war eine «Fleissaufgabe» Österreichs! Zu dieser österreichischen Besonderheit kommt noch hinzu, dass der Nationalrat im Jahr 1965 den 26. Oktober, an dem das Neutralitäts-BVG beschlossen wurde, mit einem einstimmigen Beschluss zum Nationalfeiertag erhob. Damit wurde die Verpflichtung zur Neutralität in aller Zukunft nach aussen bekräftigt und staatsintern extra feierlich abgesichert. Die immerwährende Neutralität gilt laut internationalen Völkerrecht, dem auch die EU verpflichtet ist, auch ohne ausdrücklicher Betonung als zeitlich unbegrenzt; also dürfte die EU keinen Staat zum Abrücken von seinen Neutralitätspflichten drängen.
Neutralität und Sicherheit
In der Zeit des Kalten Krieges, als dieser immer wieder in einen heissen Krieg, ja womöglich in einen Atomkrieg auszuarten drohte, leistete Österreich mit seiner Neutralität der internationalen Staatengemeinschaft und dem Weltfrieden einen unschätzbaren Dienst, von dem alle Staaten profitierten und woraufhin das Ansehen Österreichs in der Welt bis heute relativ hoch ist. So blieb die durch die Neutralität hervorgerufene Sicherheit nicht bloss auf Österreich beschränkt, sondern sie war ein guter Dienst, welcher der Sicherheit aller Staaten nützte, die möglicherweise in einen Krieg hineingezogen bzw. durch die ggf. nuklearen Schäden schwerstens beeinträchtigt worden wären.
Die Sicherheit eines Staates hängt m. E. primär nicht davon ab, ob ein Staat bessere Waffen besitzt als die anderen, weil dieser Wettlauf kein Ende kennt und die Erfahrung zeigt, dass die Kriegsgefahr mit der Zunahme der Rüstung nicht sinkt, sondern steigt. Immanuel Kant mahnte: «Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Leute macht, als er deren hinwegnimmt» (11), und er sah die gerüsteten Heere der Staaten als eine dauerhafte Bedrohung anderer Staaten, woraufhin kein sicherer Friede hergestellt werden könne, sondern im Gegenteil jederzeit ein Krieg ausbrechen könnte. Daher riet dieser weitsichtige Philosoph der Weltgemeinschaft: «Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören.» (12)
Die Sicherheit eines Staates hängt letztlich auch nicht davon ab, dass es hochgerüstete Militärbündnisse gibt, deren Mitgliedstaaten sich im Kriegsfall gegenseitige Unterstützung zusagen. Vielmehr wächst durch Bündnisse erst recht die Gefahr der Eskalation von anfänglich kleinen Kriegen zu einem grossen Flächenbrand. Dies erlebten Europa und die Welt ab dem Jahr 1914, als der Konflikt zwischen Österreich und Serbien infolge der Ermordung des Thronfolgers in Sarajevo dazu führte, dass beide Seiten von deren jeweiligen Verbündeten militärisch «unterstützt» wurden, und so eskalierte der zunächst begrenzte Krieg zum Ersten Weltkrieg. Lernt die Menschheit nicht aus der Geschichte?
Immerwährend neutral in der EU?
Zwei ehemals neutrale Staaten der EU (Schweden und Finnland) (13) scheinen inzwischen dem Druck der Spannung zwischen EU (bzw. NATO) und Russland nicht standgehalten zu haben. Soll etwa Österreich folgen? Erweist sich die EU und die Neutralität als unvereinbar?
Am 17. Juli 1989 überreichte der österreichische Aussenminister Alois Mock in Brüssel seinem französischen Amtskollegen Roland Dumas, damals Präsident des Rates der EG, das Beitrittsansuchen Österreichs ausdrücklich mit dem Neutralitätsvorbehalt. Zwei Jahre später rechtfertigte sich Alois Mock am 16. Juli 1991, der Beitritt zur EG sei alternativlos gewesen, da Österreich ohnehin bereits wirtschaftlich und sicherheitspolitisch von der europäischen Staatenwelt abhängig geworden sei (14), aber Österreich sollte als Mitglied der EG auch mitbestimmen können. Doch die erhoffte Mitbestimmung eines kleinen Staates kann auch eine Illusion sein, wie ein kleiner Fisch in einem Teich inmitten grosser Fische träumen mag, er werde von den grossen Fischen als gleichberechtigt respektiert und nicht bloss als Beute betrachtet.
Vor dem EU-Beitritt vertrat ich die wissenschaftliche Meinung, der Beitritt des neutralen Österreich könnte zu einer Aushöhlung der Neutralität führen. Bis heute gilt nämlich die Regel, dass zwar der Beitritt eines Neutralen zu einer Wirtschafts- und Zollunion bedingt möglich sei (15), aber nicht zu einem Staatenbündnis, welches auch militärische Kooperation einschliesst. Rudolf Kirchschläger hebt z. T. mit gesperrten Buchstaben hervor: «Die immerwährende Neutralität [Österreichs] verlangt gebieterisch nach Unabhängigkeit ... ja sie hat diese ... zur unabdingbaren Voraussetzung ....» (16)
Ministerialsekretär Willibald Pahr (*1930), der später Aussenminister war, sagte in besonderer Klarheit:«Immerwährende Neutralität ohne staatliche Unabhängigkeit ist sowohl vom Wortlaut des Neutralitätsgesetzes als auch vom Standpunkt des historischen Sinnes und der historischen Bedeutung der immerwährenden Neutralität nicht möglich.»(17)
In meiner am 22. Juli 1994 dem Verfassungsgerichtshof überreichten Anfechtungsschrift (18) zum EU-Beitritt Österreichs argumentierte ich u. a. mit der schwierigen Vereinbarkeit dieses Beitritts mit dem Status Österreichs als immerwährend neutraler Staat. Ich schrieb z.B.: «Auch der mit dem vorgesehenen Beitrittsgesetz gegebenen Tendenz zur Aufweichung der Neutralität kommt in diesem Zusammenhang eine Bedeutung zu, besonders durch die zur Verpflichtung erhobene Teilnahme an der GASP ... [D]er Verfassungsausschuss des Nationalrates berichtete, dass eine ‚Aufhebung des BVG über die Neutralität ... durch einen EU-Beitritt Österreichs nicht erforderlich‘ sei». Ich argumentierte, dass vielmehr «gerade durch diesen Hinweis die Unzulänglichkeit der gesetzlichen Grundlage [bezüglich der] Vereinbarkeit des vorgesehenen Beitrittsgesetzes mit dem Status der Neutralität offengelegt [wurde].» Meine Anfechtung wurde abgelehnt. (19) Immerhin sagte mir aber der damals verantwortliche Präsident des VfGH, Ludwig Adamovich (1932-2024), später privat, mit einem besseren Rechtsanwalt hätte meine Anfechtung durchaus Chancen gehabt.
Neutralität oder NATO?
René Marcic trug in einer Vorlesung zur Neutralität wörtlich vor: «Selbst wenn ein Heer von Teufeln gegen ein Heer von Engeln kämpfen sollte, muss der neutrale Staat seine Neutralität strikt aufrecht erhalten!» (20) Während der Neutrale auch das Verbindende und die Friedenschance betonen soll, zeichnet die NATO als Militärbündnis gerne schwarz-weiss. Tatsache ist, dass es in der Geschichte stets von der parteilichen Perspektive abhing, wo «Engel» bzw. «Teufel» lokalisiert wurden. Marcic machte mit markanten Worten klar, was genau der Auftrag eines neutralen Staates sei: Nur bei möglichst streng neutralem Verhalten, namentlich des Unterlassens von allem, wodurch eine Hebung oder Minderung der Siegeschancen eines der beider Kriegsparteien verbunden sein könnte, kann der Friede vermittelt werden.
Nachdem im Jahr 1995 Bundespräsident Thomas Klestil forderte, dass man über die Neutralität «frei von Tabus und Mythen» diskutieren sollte, wurde er vielfach kritisiert, vor allem von seinem Amtsnachfolger, dem damaligen Nationalratspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Heinz Fischer. (21) Dieser sprach bald darauf an der Universität Wien über die Bedeutung der Neutralität Österreichs. (22)
Doch das Pendel der Politik schlug abermals gegen die Neutralität aus: Der Standard veröffentlichte schon vor zwei Jahren eine Analyse: «Österreich soll neutral bleiben – oder doch in die Nato?» (23) Auch heute verlangen manche mehr Annäherung an die NATO.
In allen Konfliktfällen, auch beim Ukrainekrieg, wäre es gut, den völkerrechtlichen Begriff der Aggression durch eine unabhängige Kriegsursachenforschung zu ergänzen. Damit kann die polare Haltung der Kriegsparteien und indirekt auch der NATO, der EU und der westlichen Welt durch eine vermittelnde Position erweitert werden. Da der Ukrainekrieg u. a. von den bevölkerungsreichsten Staaten China und Indien, aber auch z.B. vom EU-Beitrittskandidaten Serbien (24) anders als in der NATO beurteilt wird, sollte insbesondere der Neutrale die Bandbreite der Sichtweisen bei seinen aussenpolitisch relevanten Aktionen mitberücksichtigen. Das völkerrechtliche Institut der «dauernden Neutralität» ist ja eine Verpflichtung vor der gesamten internationalen Staatenwelt, sogar in Friedenszeiten seine Unabhängigkeit im Rahmen der Zeitumstände so gut wie möglich aufrecht zu erhalten. Dies betrifft freilich vor allem Staatsorgane aller Ebenen, Privatpersonen sind davon nicht betroffen.
Die «immerwährende Neutralität» ist nur schwer aufhebbar
Wenn ein völkerrechtlich neutraler Staat seine Verpflichtungen verletzt, bleibt er dennoch weiterhin zur Neutralität verpflichtet, aber er handelt wie eine Privatperson, die ein Gesetz verletzt und nichts desto weniger diesem Gesetz unterworfen bleibt. In Falle eines Angriffs auf Österreich fiele gegebenenfalls die sonst übliche völkerrechtliche Chance weg, dass die UNO andere Staaten zur Unterstützung eines militärisch angegriffenen neutralen Staates auffordert.
Die dauernde Neutralität ist eine völkerrechtliche Verpflichtung auf unbestimmte Zeit und kann nur im einvernehmlichen Verhandlungsweg annulliert werden. Doch das Abrücken von der Neutralität könnte von manchen Staaten als Affront oder gar feindseliger Akt aufgepasst werden, eventuell mit tragischen Folgen. International beglaubigt wäre die Annullierung der Neutralität, wenn alle Signatarstaaten zustimmen; darüber hinaus wäre in einer Demokratie ein Ausstieg aus der Neutralität wohl kaum ohne klarer Willenskundgebung der Bevölkerung (Volksabstimmung) möglich.
Nochmals: Neutralität oder NATO?
Manche bemängeln, dass schon die Grundvoraussetzung der Neutralität, nämlich die Unabhängigkeit der Republik, durch den Beitritt zur EU (und deren Nähe zur NATO) aufgehoben worden sei. René Marcic schrieb: «Die Eigenart eines immerwährend neutralen Staates erweist sich in der Staatenwelt der Gegenwart darin, dass er ausgerechnet in einer Zeit der allgemeinen, allmählichen ‚Souveränitätsdämmerung‘ seine Souveränität besonders ‚eifersüchtig‘ hüten muss.» (25)
Ich möchte heute nicht kategorisch bestreiten, dass eine (lockere?) Anbindung Österreichs an die Europäische Union Vorteile haben könne, aber diese ist nur so lange mit der Neutralität vereinbar, als Österreich trotzdem seine Selbständigkeit aufrecht erhält, um nicht nur militärisch, sondern auch im Schnittbereich zwischen Militär und Wirtschaft seine friedensfördernde Aufgabe als Neutraler heute und in aller Zukunft zu erfüllen. Der Staat Österreich hat vor der internationalen Welt die Aufgabe, ein glaubwürdiger Boden zu Vermittlung zwischen verfeindeten Staaten auch in Kriegen zu sein, mit dem Ziel der Wiederherstellung eines optimal-friedlichen Zusammenlebens bzw. auch um bestehende Spannungen zwischen verfeindeten Staaten als mögliche Vorstufe von Kriegen abzubauen. Der neutrale Staat soll gerade heute dafür eintreten, dass die Staaten gemeinsam die Aufgabe auf sich nehmen, in Frieden und Gerechtigkeit miteinander zu kooperieren und im Einvernehmen mit der Natur den kommenden Generationen eine lebenswerte Welt zu übergeben. Diese Aufgabe zu erfüllen, wäre edler, als im Streit um die besten Wirtschaftswerte mitmischen zu wollen, was heute ohnehin bald illusorisch wird.
Ist die Neutralität obsolet?
Abschliessend streife ich die Frage, ob die Neutralität heute nicht (wie manchmal behauptet) überhaupt obsolet sei. Bereits zuvor führte ich aus, dass die Aktualität der Neutralität bleibt, so lange es irgendwo auf der Welt Kriege, Konflikte und Spannungen gibt, insbesondere aber um die Gefahr von Kriegen in Europa abzuwenden. Man könnte m. E. eher behaupten, die NATO sei obsolet, denn sie hatte ihre Legitimation in der Zeit der Bedrohung durch die Sowjetunion und deren Verbündete, aber deren Nachfolgestaaten (samt Russland) sind ideologisch vom Ziel der «Weltrevolution» abgerückt und der Warschauer Pakt wurde 1991 aufgelöst.
Die Vereinigten Staaten übernahmen danach – oft gemeinsam mit der NATO – längere Zeit die Rolle der «Weltpolizei», um die Weltordnung aufrecht zu erhalten, doch stellte sich diese Rolle nachträglich nicht immer als positiv heraus. Hingegen wird die Neutralität (deren friedensvermittelnde Tätigkeit kein Blutvergiessen erfordert) so lange aktuell und notwendig bleiben, als es irgendwo in der Welt Kriege und Konflikte gibt. Die Welt möge endlich anerkennen, dass nicht der Krieg, sondern die Versöhnung zwischen verfeindeten Staaten einen verlässlichen Frieden herbeiführt. Diese Haltung im internationalen Zusammenwirken der Staaten zu fördern, gehört mit zum Auftrag des dauernd neutralen Österreich.
Quellen und Anmerkungen:
(1) E. B.: Österreichs Neutralität ist gefährdet. In: Wiener Blätter zur Friedensforschung, hrsg. v. Universitätszentrum für Friedensforschung (UZF), Heft 85, Wien, Jänner 1996, S. 25-37
(2) Zu Marcic (1919-1971) vgl: Erwin Bader / Paul R. Tarmann (Hrsg.): Um Mensch und Recht. Zum 50. Todestag des humanistischen Rechtsphilosophen und Publizisten René Marcic, Perchtoldsdorf 2021.
(3) René Marcic: Zehn Thesen zu unserer Neutralität. In: Die Furche, 10. Februar 1968. – Dieser Beitrag wurde in den «Wiener Blättern zur Friedensforschung» im Juni 1996, Heft 87, S. 55-60 wiederveröffentlicht.
(4) Heute gibt es auch die Organisationen roter Halbmond und und roter Diamant.
(5) Vgl.: Charles Pictet (de Rochemont): De la neutralité de la Suisse dans l‘intérêt de l‘Europe, Genève: J. Cherbuliez 1860.
(6) Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft der Menschheit, München 7. Aufl. 1982, S. 192.
(7) Hans Kelsen ist Autor der Verfassung Österreichs.
(8) Stephan Verosta: Die dauernde Neutralität, S. 60.
(9) Später riet Kreisky vom Vollbeitritt Österreichs zur EG ab, denn dies widerspreche dem Schweizer Vorbild, und Österreichs Souveränität müsse erhalten bleiben; man könne noch nicht wissen, in welche militärische Richtung der Einigungsprozess Europas führen werde.
(10) Verhandlungen des Dritten Österr. Juristentages Wien 1967, Bd. 2, 2. Teil, S. 2-23, S. 6.
(11) Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Reclam, S. 29.
(12) A. a. O., S. 5.
(13) Schweden war zuletzt eher bündnisfrei als neutral; Finnland interpretierte seinen Neutralitätsstatus als von Russland aufgedrängt.
(14) «Erklärung von Alois Mock anlässlich des Ansuchens Österreichs um Mitgliedschaft in den EG» (16. Juli 1991)www.cvce.eu/content/publication/2003/11/18/03fb2fdc-a426-4c58-9fd5-b18f833cb995/publishable_de.pdf
(15) Bald nach dem 1. Weltkrieg wurde dem Staat Österreich, weil er „quasi-neutral” sei, der Beitritt zu einer Zollunion mit Deutschland untersagt.
(16) Rudolf Kirchschläger: Referat in: Verhandlungen ..., (siehe Fn. 12), S. 5 – 23, S. 6.
(17) Willibald Pahr, Referat in: Verhandlungen...,S. 23-40; S. 26.
(18) Ein relativ umfangreicher Auszug davon wurde vom VfHG erstellt und (im Rahmen seines ablehnenden Urteils) im Buch „Entscheidung für Europa” von Josef Rauchenberger, Wien 1995, S. 459-475 veröffentlicht.
(19) Meine Anfechtung bezog sich u.a. darauf, dass das Beitrittsgesetz m. E. nicht verfassungsgemäss war; darauf ging der VfGH kaum ein.
(20) Universität Salzburg, im Studienjahr 1969-1970.
(21) Wiener Zeitung am 24. Februar 1995, S. 1.
(22) Heinz Fischer hielt das Impulsreferat zum Forschungsgespräch des „UZF” im NIG zum Thema: „Ist die immerwährende Neutralität gefährdet?”
(23) Gerald John am 1. März 2022; https://www.derstandard.at/story/2000133727459/oesterreich-soll-neutral-bleiben-oder-doch-in-die-nato
(24) Staatspräs. Aleksandar Vučić meint im Interview mit der Weltwoche, dieser Krieg diene den USA dazu, Russland zu schwächen u. dann Putins Regime zu stürzen. Vgl.: https://www.bing.com/videos/riverview/relatedvideo?q=Avucic+alle+zeichen+stehen+auf+einen+grossen+k… – zuletzt abgerufen am 2. 10. 2024
(25) René Marcic; Zehn Thesen zu unserer Neutralität, in: Wiener Blättern zur Friedensforschung”, Juni 1996, Heft 87, S. 55-60, S. 56.