Pazifist in der Ukraine: «Sie nennen mich einen Verräter»
Jurij Sheliazenko, Anführer der gewaltfreien Bewegung in Kiew, sagt: «Ich riskiere mein Leben, aber ich lasse mich von Kriegstreibern nicht einschüchtern. Putin und Zelenski bleiben oberste Friedensverweigerer und suchen den Sieg auf dem Boden. Es fehlt ihnen an Phantasie, Brücken zu bauen, also sprengen sie sie buchstäblich in die Luft.» Das Interview führte Mao Valpiana für «Manifesto».
Er arbeitet als freiberuflicher Rechtsberater, Journalist und Schriftsteller, war Forscher und Professor für Recht an der Universität Krok und lebt in Kiew. Langhaarig und bärtig, immer ein wenig ausser Atem, ist er in der Ukraine der Bezugspunkt der internationalen Friedensbewegung. Seine gewaltfreie Organisation ist Teil von EBCO/BEOC, dem Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung, und War Resisters International. Zu seinen Projekten gehören die Übersetzung und Verbreitung der gewaltfreien Texte von Gandhi und Capitini in der Ukraine.
Mao Valpiana: Yurii, wie geht es dir? Was für ein Leben führst du seit dem Beginn des Krieges?
Jurij Sheliazenko: Ich werde als Verräter bezeichnet, es werden Drohungen ausgesprochen, ich riskiere mein Leben, mein Name wird öffentlich als Feind genannt. Ich lasse mich von all dem nicht einschüchtern. Ich spreche mich gegen die Kriegstreiber aus, gegen alle, die Krieg führen wollen. Mein Haus in Kiew wird von russischen Raketenexplosionen in der Nähe erschüttert, und Luftschutzsirenen erinnern mich Tag und Nacht daran, dass der Tod über mir fliegt. Doch mit unserer Bewegung helfen wir der Zivilbevölkerung zu überleben, setzen uns weiterhin für die Abschaffung der Wehrpflicht ein, führen Friedensstudien durch und arbeiten mit der internationalen Friedensbewegung zusammen.
Was geschah nach dem Machtkampf zwischen Putin und Prigoschin?
Prigoschin wurde nicht geschwächt, er rettete sein blutiges Vermögen, konsolidierte seine Söldnerarmee und durfte an einen Ort ziehen, der als sicher galt. Das Abkommen hat auch Putins Macht gestärkt. Er braucht Söldnerarmeen für russische Schattenkriege in der ganzen Welt, und auch seine chinesischen Verbündeten könnten sie brauchen. Aber diese Affäre hat gezeigt, dass selbst zwei rivalisierende Kriegsverbrecher in der Lage waren, einen Waffenstillstand miteinander auszuhandeln, und zeigt, dass Verhandlungen immer möglich sind.
Welche Rolle hat Lukaschenko deiner Meinung nach wirklich gespielt?
Belarus ist eine noch militaristischere Gesellschaft als Russland. Prigoschin war bereits in Weissrussland tätig, und dieses neue Abkommen bedeutet lediglich, dass Weissrussland zu seinem offiziellen Hauptquartier wird. Es bedeutet auch, dass Lukaschenko plant, seine eigene Privatarmee einzusetzen. Weissrussland ist eine Art Offshore für Putins Oligarchen, eine nominell unabhängige Gerichtsbarkeit, wo man sein Geld parken kann.
Auf dem Wiener Gipfel für den Frieden in der Ukraine hast du die «Friedensverweigerer» angegriffen.
Nicht einmal die Zerstörung des Staudamms von Nowa Kachowka und die Überschwemmung biblischen Ausmasses haben Putin und Zelenski überzeugt, den Krieg zu beenden und gemeinsam an der Rettung der Opfer zu arbeiten. Beide bleiben oberste Friedensverweigerer, die den Sieg auf dem Schlachtfeld suchen und sich weigern, die Möglichkeit einer Versöhnung in Betracht zu ziehen. Es fehlt ihnen an Phantasie, um Brücken zu bauen, also sprengen sie buchstäblich Brücken in die Luft!
Was sagst du zu denen, die behaupten, dass die einzige Alternative zwischen Sieg oder Kapitulation besteht?
Manche sagen, es sei unmoralisch, die Bewaffnung der Ukraine zur Selbstverteidigung einzustellen, aber ich glaube, es ist unmoralisch, den Krieg mit Waffenlieferungen anzuheizen. Die einzige Hoffnung, aus dem Teufelskreis herauszukommen, besteht darin, zu lernen, wie man sich Aggressoren und Tyrannen ohne Gewalt widersetzen kann, ohne deren Methoden und militaristischen Wahnsinn zu reproduzieren. Putin hat militärisch angegriffen, aber wir können nicht so tun, als gäbe es keine gewaltfreie Verteidigung und keine Diplomatie.
Wie wird sich der Konflikt nun weiterentwickeln?
Die anhaltende Eskalation zwischen Russland und der Ukraine macht es unmöglich, an einen Waffenstillstand zu denken. Putin beharrt auf einer militärischen Intervention, um die Ukraine von einem faschistischen Regime zu befreien, das seine eigene Bevölkerung tötet. Zelensky mobilisiert die gesamte Bevölkerung zum Kampf gegen die Aggression und sagt, die Russen verhielten sich wie Nazis, die auf Zivilisten zielen. Die ukrainischen und russischen Medien verwenden Militärpropaganda, um die andere Seite als Nazis oder Faschisten zu bezeichnen. Alle diese Verweise dienen dazu, zu rechtfertigen, dass ein «gerechter Krieg» geführt wird: Sie müssen von der Idee besessen sein, dass «wir» kämpfen und «sie» sterben müssen.
In Italien würde man dir vorwerfen, dass du nicht in der Lage bist, zwischen Angreifer und Angegriffenem zu unterscheiden.
Putins Krieg ist zweifellos böse, aber in den sieben Jahren vor der russischen Invasion in der Ukraine haben sowohl Russen als auch Ukrainer das Waffenstillstandsabkommen im Donbass verletzt, wobei Tausende getötet wurden. Die Wahrheit ist, dass viele Ukrainer nicht so unschuldig sind [und die Russen auch nicht]. Die USA, das Vereinigte Königreich und andere westliche Länder haben die NATO gestärkt, die sich nach Osten ausdehnt. Beide Seiten laufen Gefahr, einen Atomkrieg auszulösen, der zur Zerstörung des Lebens auf unserem Planeten führen kann.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Alina Kulik vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt.
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