Pippo Pollina: Freiheit wird sein!

Pippo Pollina ist vielen noch als die «italienische Stimme» aus Konstantin Weckers «Uferlos»-Album ein Begriff. Inzwischen hat er sich von seinen Entdeckern und Förderern emanzipiert und ist schlicht einer der besten Liedermacher Italiens. (Roland Rottenfußer)

Jetzt liegt mit „Über die Grenzen trägt uns ein Lied“ die Biografie des Künstlers vor. Sie wurde von Franco Vassia einfühlsam und spannend gestaltet und zeichnet das Porträt eines aufrechten Wanderers zwischen den Welten. Es ist auch das Porträt eines Sizilien bzw. Italien am Abgrund von Gewaltherrschaft und Dekadenz. Und eine Anregung, wie es gelingen kann, unter widrigen Umständen ein anständiges Leben zu führen.



„Und ich suche etwas Großes, das mich wach bleiben lässt zwischen all diesen Menschen, die schlafen. Und ich suche etwas Wahres, das mich weit hinaus blicken lässt, jenseits dieses Pfades, jenseits dieses Gartens, der am Morgen verblüht.“ Pippo Pollina schrieb das Lied „Madre“ 1988 für eine seiner ersten CD-Aufnahmen. Es ist programmatisch für einen hochfliegenden Geist, der sich nie mit der Enge begnügt hat – mit geistiger, politischer und sprachlicher Enge –, der immer hinaus gedrängt hat in eine größere Freiheit und der doch nie seine Wurzeln verleugnete. „Camminando“ heißt ein anderes Kultlied aus jener Zeit. Einen fast faustischen Trost möchte man als deutscher Leser darin erblicken: „Im Weiterschreiten find’t er Qual und Glück, er unbefriedigt jeden Augenblick.“ Pippo Pollina war immer „unbefriedigt“ im Sinne eines tiefen Ungenügens an allem, was nicht die wahre Kunst ist. Er kann aber auch, das zeigt das Buch, mit Befriedigung auf sein bisheriges Lebenswerk zurückblicken.



Franco Vassias Biografie beginnt mit einem Donnerschlag: einem Unfall, bei dem Pippo, ein ziemlich normaler sechsjähriger Junge aus Sizilien, schwer verletzt wurde. Er wurde von einem Auto erfasst und auf die Straße geschleudert. Seine unteren Gliedmaßen waren fast vollständig gebrochen, er verlor vorüber gehend fast sein Augenlicht. Vassia beschreibt nicht mehr, ob und in welchem Ausmaß dieses Verletzungen Pippo bis heute beeinträchtigen. Klar ist aber: Er lernte schon als Kind, was es heißt, Schmerzen zu ertragen und mit Bewegungseinschränkungen zu leben. Fußball spielen mit Kameraden war ihm nicht möglich. Zunehmend wandte sich sein Geist nach innen: „Die endlosen Tage voller Langeweile hatten Pippo geholfen, ein neues Spiel zu erfinden. Kraft des Denkens war es ihm gelungen, in seinem Unbewusstsein eine Art Speicher zu schaffen, ein fast physisches Lager, in dem er die Zeugnisse der Vergangenheit sammelt.“



Ferré, Jara, Battiato: Verse für die Freiheit



Bis ins Erwachsenenalter gehörte die Archäologie zu Pippos wichtigsten Interessen. Als junger Mann drang er nachts hinter die Absperrungen berühmter archäologischer Stätten Siziliens vor und stellte eigene Forschungen an. Verborgenes aufdecken und Grenzen nicht achten – das sind Grundmuster seines Verhaltens geblieben. Seine große Liebe aber war schon sehr früh die Musik. 1979 gründete er eine eigene Band, die sich später Agricantus nannte. Italien verfügte in den 70ern, als Pippo ein Teenager war, über eine ehrwürdige Tradition von „Cantautori“ (Sänger/Autoren, Liedermacher), die auch ein breiteres Publikum begeisterten: Fabrizio De André, Francesco De Gregori, Lucio Dalla oder Roberto Vecchioni gehörten zu den Großen, etwas später auch Franco Battiato. Man kann hier durchaus Parallelen zu der „klassischen“ Periode von Wecker, Wader und Mey in Deutschland ziehen. Andere Einflüsse kamen vom amerikanischen Folk (Woody Guthrie, Bob Dylan, Pete Seeger, Joan Baez) und von großen französischen Chansonniers wie Jacques Brel und Leo Ferré, dem Pippo später eines seiner schönsten Lieder widmete: „Leo“.



In seiner Anfangszeit als Musiker wurde Pippo aber vor allem aus der Tradition der chilenischen Protestkultur beeinflusst. Victor Jara, der mutige sozialistische Sänger, wurde 1973 vom Pinochet-Regime ermordet. Um dem gleichen Schicksal zu entgehen, war die populärste chilenische Gruppe, die Inti-Illimani, nach Italien emigriert. Als Pippo und seine Freunde deren Platte „Viva Chilé“ hörte, waren sie elektrisiert. „Durch jene Platte hatten sie verstanden, dass man durch die Musik kommunizieren, Schmerzensschreie ausstoßen, Gewaltakte anklagen, Tyrannen entlarven und Solidarität bezeugen konnte.“ Dazu sollten Agricantus bald genug Gelegenheit bekommen. Denn die politischen Verhältnisse auf Sizilien, die von Cosa Nostra, Verwahrlosung, Korruption und politischem Versagen geprägt waren, verlangten nach einer künstlerischen Antwort. Agricantus gaben sie zunächst im Dialekt ihrer Heimat: „Fesselt den Hunger, wenn ihr glaubt, die Mächtigen zu schützen. Doch der Hunger hat keine Arme und das Weinen keine Scham und der Wind kennt keine Grenzen“, heißt es in „Versi per la libertà“ (Verse für die Freiheit).



Sizilien im Griff der Mafia



Nach einigen Jahren einer durchaus erfolgreichen Band-Karriere, erkannte Pippo, wie wichtig es war, nicht bei der Nachahmung des chilenischen Kulturimpulses stehen zu bleiben und sich verstärkt heimischen Probleme zu widmen. „Niemand schien indessen die Haube zu bemerken, die die Insel von Jahr zu Jahr mehr zu ersticken drohte. Diese Haube war durch die verschiedenen Abgase der zerstörerischen Strategien einer komplizenhaften, korrupten und skrupellosen Politik entstanden, die sich sogar zu Pakten mit der mafiösen Kriminalität herabließ.“ Damals erschütterte wieder einmal eine Welle von Mafia-Morden die Insel. Allein 1979 waren es in Palermo 61 Menschen. Pippo begann hinter die Kulissen der „Touristenattraktion“ Sizilien zu schauen: „Die wilde Schönheit Siziliens, die sie täglich umgab, war nichts anderes als eine Fata Morgana, die Illusionen weckte und dabei Dinge verdeckte, die ohne Spur bleiben sollten: die Emigration, die Angst und die allgemein widerstandslos hingenommene Armut.“



Gegen Angst und Unterdrückung stand jedoch eine kleine Zeitung auf, „Dedalus“ genannt. Pippo begann für sie zu schreiben. Später verschmolz sie mit der größeren, von Giuseppe Fava geleiteten Monatszeitschrift „I Siciliani“. Fava gab 1983 in einem Interview Auskunft über seine Motive: „Die Mafiosi befinden sich in diesem Moment an der Spitze der Nation. Das Problem der Mafia ist ungleich tragischer und ungleich wichtiger: Es ist ein Problem, das die Spitze und die Leitung der Nation betrifft, ein Problem, das das Risiko birgt, Italien in den Ruin und in eine kulturelle und definitive Dekadenz zu treiben.“ Giuseppe Fava wurde im Januar 1984 in Catania durch fünf Schüsse in den Nacken getötet. Sein einziges „Verbrechen“: das freie Wort. Auch Pippo musste sich nun gefährdet fühlen.



Aufbruch aus einem kranken Land



Gleichzeitig traten im Verhältnis Pippos zu seiner Band Agricantus wachsende Spannungen auf. Pippo wollte vor allem den Sprung vom Dialekt hin zur italienischen Sprache wagen, womit die Gruppe ein größeres Publikum ansprechen würde. Im Nachhinein könnte man sagen, dass sich damals aus der Geborgenheit eines musikalischen „Teams“ der überragende Solist, das Liedermachergenie Pippo Pollina herausschälte. Für einige Monate zog sich der Künstler, der längst eigene Lieder verfasst hatte, in die Villa Elena bei Palermo zurück. Eine Auszeit, die zur Keimzelle seiner Solokarriere werden sollte. In Pippo reifte der Entschluss, aus Italien fort zu gehen. „Seit Längerem empfand er ein tiefes Unbehagen, eine Art Ersticken, ein Beklemmen. Er spürte, dass nicht nur Sizilien mit seiner mafiösen Kriminalität, sondern der ganze Körper der Nation krank war. (…) Was da am Horizont auftauchte, schienen die Vorbereitungen und Absichten eines morbiden Regimes und einer Macht zu sein, die fähig war, einen antidemokratischen und destabilisierenden Plan zu realisieren: ein populistisches und medial raffiniertes Projekt, das darauf zielte, den Verstand zu kontrollieren und das Bewusstsein zu benebeln.“ Diese Analyse fällt mit der Anfangszeit der Ära Belusconi zusammen.



Pippo verließ Italien und schlug sich drei Jahre lang als Straßensänger durch: in der Schweiz, in Deutschland und anderen Ländern Europas. Man darf sich die Existenz eines Straßensängers nicht romantisch vorstellen. Sie sind in jeder Stadt „Outcasts“. Je nach Rechtslage können sie von der Polizei verhaftet oder vertrieben werden. Sie sind jeder Witterung ausgesetzt und haben, wenn sie in einer Stadt ankommen, meist kein Quartier. In der Regel versuchen sie sich von Zuhörern, mit denen sie ins Gespräch kommen, einladen zu lassen, um ein Bett für die Nacht zu bekommen. Die Einkünfte reichen zum Leben und für Reisekosten, aber nicht, um auf „einen grünen Zweig“ zu kommen. Nur einmal gelang es Pippo für einige Wochen eine „Festanstellung“ als Musiker in einem Fünfsternehotel in Österreich zu ergattern. Er freundete sich dort mit einem Hotelgast an, ohne zu wissen, dass es sich um einen berühmten Schriftsteller handelte: Michael Ende.



Linard und Konstantin „entdecken“ Pippo



Eine andere Begegnung sollte das Schicksal Pippo Pollinas für immer verändern: Ein Mann sprach den Straßensänger in der Fußgängerzone von Luzern an. Er gab an, selbst Liedermacher zu sein und hieß Linard Bardill. Linard war damals in der Schweizer Musikszene bereits eine feste Größe. Er machte Pippo das Angebot, ihn als Gitarrist auf seiner Tournee zu begleiten. Dieser solle ein „Zeitfenster“ bekommen, um auf der Bühne ein paar eigene Lieder zu präsentieren. Außerdem regte Linard Pippo an, eine eigene Musikkassette aufzunehmen (da eine CD zu teuer war): Sie hieß „Aspettando che sia mattino“ (Warten auf den Morgen). Die Tournee lief überaus erfolgreich und steigerte Pippos Bekanntheitsgrad beträchtlich. Er durfte es nun wagen, seinen Straßensängerberuf aufzugeben und eine Solotournee zu organisieren. „Nuovi giorni di Settembre“ (Neue Septembertage) mit dem erwähnten Lied „Madre“ war bereits ein Werk des Übergangs zur Meisterschaft.



Die nächste Stufe seiner Karriere erklomm Pippo mit Hilfe eines anderen Liedermachers, der ihm ein ähnliches Angebot machte wie seinerzeit Linard Bardill. Der Konzertagent Fritz Bachmann machte Pippo mit Konstantin Wecker bekannt. Als beide sich in München wieder sahen, machte Konstantin den Vorschlag, ein gemeinsames Lied zu schreiben. Es sollte die deutsch-italienische Freundschaft besingen. Das gemeinsame Werk warnte vor dem „Faschismus, der zurückkehrt, von Berlin bis Rom“, verbreitete aber auch eine Botschaft der Hoffnung: „Lass uns alles mit dem Herzen tun, lass sie eintreten, diese neue Wirklichkeit!“ „Questa nuova realtà“ wurde während Konstantins „Uferlos“-Tournee zum Hit. Und Pippo, der ein paar Lieder solo sang, wurde unter anspruchsvollen Musikfreunden im deutschsprachigen Raum zum Publikumsliebling. Seine Tourneen sind seither so gut besucht, dass sie seine Existenz sichern.



Kurzer Frühling in Palermo



Nicht lange vor der Begegnung mit Konstantin lernte Pippo seine spätere Frau Christine kennen. Es tat ihm weh, sie und das erste gemeinsame Baby wegen der „Uferlos“-Tournee lange allein lassen zu müssen. Pippo spürte aber, dass er diese einzigartige Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen konnte. Nach Sohn Julian kam noch Pippos Tochter Madlaina zur Welt. Parallel zu Karriere und Familiengründung ereignete sich in seiner Heimat Sizilien Denkwürdiges: Bei einem großen Prozess wurden 400 Personen wegen ihrer Nähe zum organisierten Verbrechen verurteilt. 1992 erlebte der Rechtsstaat aber eine schwere Niederlage, als die Richter Falcone und Borsellino von der Mafia ermordet wurden. Als Reaktion wurde der mutige Anti-Mafia-Kämpfer Leoluca Orlando 1993 zum Bürgermeister Palermos ernannt. Erstmals schien die Gesellschaft Siziliens wirklich gewillt, das Joch der Mafia abzuschütteln. Diese kurze Periode der Hoffnung ging später als „Frühling von Palermo“ in die Geschichte ein. Schon ein Jahr später, 1994, verlor der linksliberale Flügel seine Mehrheit jedoch an den bürgerlich-faschistischen „Pol der Freiheit.“ Hinter diesem Coup steckte der neue italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi.



Man muss sich das Verhältnis des kritischen Sizilianers zu seiner Heimat als von Schmerz durchtränkte Liebe vorstellen. Es gibt kein schöneres künstlerisches Zeugnis dieser Liebe als Pippos mit Brelscher Glut vorgetragenes Lied „Per amare Palermo“ (Um Palermo zu lieben). „Wenn du wüsstest, wie schlecht sie über dich reden, ohne je deinen fiebrigen Blick gesehen zu haben, ohne die Blüten deiner Frühlinge zu kennen und den April deiner Blumen“, beginnt der Sänger. Dann stößt er eine verzweifelte Klage über den Zustand des Landes aus: „Doch sage mir, wie lange das überbordende Theater des Wahnsinns andauern, wie lange diese verdammte Not fortdauernden Zerfalls währen muss. (…) Und sage mir, wohin du denn gehen wirst, wenn sich herausstellt, dass dieses Aufflackern nur scheinbar Erlösung war.“ Pippo endet mit einem bewegenden Geständnis: „Wieder daheim, um dir zu sagen, wie sehr ich dich geliebt habe, dass ich dich nie vergessen habe. Um zu erfahren, ob es wahr ist, dass du nachts sitzend wachst, dich festklammernd am Geheimnis deines stummen Leidens.“



Trauergesänge für die Gefallenen



Pippo reifte nun mit den CDs „Le pietre die Montsegur“, „Dodici lettere d’amore“ und „Il giorno del falco“ zu seiner vollen Schaffenskraft heran. Die Aufnahmen enthielten so großartige Lieder wie „Terra“ (Duett mit KonstantinWecker), „Leo“ (für Leo Ferré mit Textzeilen von Georges Moustaki) und das Titellied „Il giorno del falco“, das dem von Pinochet ermordeten Victor Jara gewidmet war. Pippos Texte decken eine unglaubliche Bandbreite von Themen ab: Sie handeln von der Fernseh-Verdummungskultur, von Tschernobyl und Krieg, aber auch von der Liebe und jenen seltenen Momenten des Glücks, die man einem zunehmend Amok laufenden Zeitgeist abtrotzen muss. Dreh- und Angelpunkt seines Schaffens ist stets die Freiheit. „Gegen jede Macht, gegen jede Anmaßung, es lebe die Hoffnung! Gegen jeden Schmerz, gegen die Blutrache, gegen Korruption, Freiheit! Gegen die Gewalt der Gleichgültigkeit, um nie zu vergessen, wird Freiheit sein“. Pippo schrieb das Lied „Elegia ai Caduti“ (Trauergesang für die Gefallenen) nach einer Serie von Mafia-Morden.



Pippo war nun eine feste Größe im Konzertleben Mitteleuropas. In München und anderen Städten trat er mit Leoluca Orlando zusammen auf. Er erhielt Preise und wurde zu Festivals eingeladen. Mit „Rossocuore“, einer musikalisch ausgefeilten Albumproduktion, die sich an berühmten Buchtiteln wie „Finnegan’s Wake“, „Die Blumen des Bösen“ und „Hundert Jahre Einsamkeit“ orientierte, setzte er künstlerisch noch einmal eins drauf. Einer Liedermacherlegende wie Franco Battiato („Povera Patria“) begegnet er seitdem auf Augenhöhe. Nur teilweise erfolgreich war Pippos Bemühen, in seiner Heimat Italien endlich die Anerkennung zu finden, die er verdiente. Die Musikszene wurde von den Berlusconi-Medien und vom seichten San-Remo-Festival im Niveau nachhaltig gedrückt. Was Wecker in den 70ern über Deutschland sagte, galt auch für das Italien der 90er: „Die Zeiten stinken, und die Dichter schweigen.“ Für einen wie Pippo konnte es da nur einen Nischenplatz geben. Als er bei einem Liederfestival an den von der Mafia ermordeten Peppino Impastato erinnerte, wurde er von den Veranstaltern gemahnt, sich auf seine Kernkompetenz als Künstler zu beschränken und im Übrigen den Mund zu halten. Man verzögerte die Auszahlung seines Honorars und strich seinen Beitrag aus einer Fernsehübertragung.



Eine deutliche Warnung an Deutschland



Gelegentlich wurde es Pippo von Mitstreitern zum Vorwurf gemacht, dass er Italien verlassen hatte. „War es feige gewesen, wegzugehen?“ Pippo bzw. sein Biograf reflektiert über diese Frage ausführlich: „Manchmal war es besser, den Kampf von außen, statt aus dem Inneren zu führen. Er war ja auch weggegangen, weil er gewusst hatte, dass es gar keine Voraussetzungen für einen Kampf gab. Wenn er geblieben wäre, hätte er ein trauriges Ende genommen, wäre hässlich und verschlossen geworden und hätte auf Dinge verzichtet, die er eigentlich für fundamental hielt. Auf Sizilien und in ganz Italien fehlte jegliche Basis für eine Besserung. Im Grunde war Italien zu dem geworden, was er am meisten gefürchtet hatte. In nur zwei Jahrzehnten hatte die Macht das intellektuelle Niveau der Bevölkerung in strategischer Manier gesenkt. Damit war das Land manipulierbarer geworden.“ Ich dokumentiere die Passagen aus Pippos Biografie, die von Italien handelt, deshalb so ausführlich, weil sie für Deutschland eine deutliche Warnung darstellen. Die Verhältnisse hier sind von denen Berlusconi-Italiens nicht wesensverschieden. Eher scheint es, als ob uns das Land jenseits der Alpen nur ein paar Schritte voraus wäre.



Einen absoluten künstlerischen Höhepunkt seiner Karriere erlebte Pippo 2007, als seine Oper „Ultimo Volo“ uraufgeführt wurde. Das Werk beschreibt in poetischer Form den letzten Flug einer Douglas DC 9, einer Passagiermaschine mit 81 Personen an Bord. Das Ereignis aus dem Jahr 1980 wurde auch als „Ustica-Blutbad“ oder „Itavia-Flug 870“ bekannt. Es stellte sich heraus, dass das Flugzeug während eines Luftkampfs zwischen der italienischen und der libyschen Luftwaffe „aus Versehen“ abgeschossen wurde. Die Ermittlungen sind wegen massiver Behinderung durch Militär und Geheimdienst bis heute zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen. Wer den Stoff künstlerisch bearbeitete, stach also in ein Wespennest und outete sich als politisch engagiert. An eine Oper im Sinne Verdis oder Puccinis darf man dabei nicht denken. Pippo gestaltete den Stoff als Folge von gesprochenen Monologen und Liedern bzw. Arien, bei denen das Flugzeug teilweise wie eine handelnde Person spricht.



Die neue Realität



Pippo Pollina und Konstantin Wecker haben ihre Zusammenarbeit in lockerer Folge fortgesetzt. Die beiden gaben 2007 wieder einige gemeinsame Konzerte. Bei Konstantins legendärem Geburtstagskonzert am 1. Juli des Jahres stimmte Pippo sein beliebtes „Questa nuova realtà“ an. Pippos letzte CD-Produktion war 2009 „Caffè Caflisch“. Zusammen mit dem Schweizer Linard Bardill wollte er darin einen Weckruf gegen die neu entfachte Ausländerfeindlichkeit in beiden Ländern anstimmen. Ein Höhepunkt auf der CD ist „Grida no“ nach der Melodie von „Sage nein“ (Konstantin Wecker). Es handelt sich aber nicht um eine einfache Coverversion, sondern um eine eigenständige Neudeutung des Wecker-Lieds. Wie so oft zeichnet Pippos Text  ein vernichtendes Porträt Italiens: „Wie viele Dummheiten müssen wir uns anhören, im Fernsehen, im Radio und in den Zeitungen, von den Multikonzernen, die die Menschen dazu zwingen, sich langsam dem Gesetz des Stärkeren zu beugen, der Gewöhnung an den Tod. Wenn du eine Frau und kein Fernsehgirl bist, wenn du ein Mann bist, der denken kann, wenn du die schläfrige Würde einer verlorenen Freiheit hast, wenn du zehn- oder hundertjährig bist, aber immer gegen den Strom schwimmst - hab keine Angst, halte durch, schrei nein!“



Trotz der anhaltenden Misere Italiens, ist Pippo Pollina aber stets ein Künstler gewesen, der sein Publikum nicht ohne einen Funken Hoffung nach Hause gehen ließ. In seinem Lied „Centopassi“ heißt es: „Leuchtende Farben in den dunklen Augen, Leidenschaft entzündet die Zementmauern und die Ängste Tausender Generationen, von allen, die der Versuchung widerstehen, die Freiheit hinter sich zu lassen. Diese Zeit wird vorbeigehen. Sie wird vorbeigehen und deine Ängste mitnehmen. Sie wird vorbeigehen.“




Franco Vassia: Über die Grenzen trägt uns ein Lied. Rombach Verlag, 280 Seiten, 28 Euro



www.pippopollina.com


21. März 2011
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