Praktische Bedrohungsfantasien

Die gespenstische Fiktion des global bedrohlichen Terrorismus geht um und rechtfertigt Überwachung und Verfolgung. Bereits vor dreissig Jahren erreichte die Jagd auf „Terroristen“ und ihre angeblichen Sympathisanten einen Höhepunkt.

Ja, den internationalen Terrorismus müssen wir auch bekämpfen, wenn er dann in die Schweiz kommt, mit Panzern und, nein, mit Streubomben dürfen wir nicht mehr, aber Geldsendungen von islamischen Einwanderern für zurückgebliebene Familienangehörige einsacken und linke Politiker und Aktivisten überwachen und schikanieren. In London wurde sogar kürzlich ein dunkelhäutiger Unschuldiger mit Rucksäckli von der Polizei erschossen, als er beim Aufrücken der Beamten zu schnell in die Untergrundbahn einsteigen wollte.

Propaganda-Emotionen
Die Worte "Terror" und "Terrorismus" sind diffus und undifferenziert - und Propagandabegriffe. "terror" ist lateinisch und bedeutet Schrecken. In der bürgerlich-kapitalistischen Propaganda sind Terroristen masslos mordgierige Leute, welche mit grausamen Attentaten Schrecken verbreiten sowie Leib, Leben, Besitz und Geschäftstätigkeit des Durchschnittsbürgers gefährden.
Diese Propaganda und ihre Medienverstärkung führen dazu, dass in  weiten Teilen der abendländischen Welt die Gefährdung stark überschätzt wird, die realistische Einschätzung durch emotionale Übertreibungen verdrängt wird.

Kollektives westliches Unbewusstes
Die Porträts von lokalen Machtmenschen wie Saddam Hussein oder Bin Ladin, - ursprünglich vom Westen gegen den Iran respektive die Sowjetunion aufmunitioniert -, die sich gegen westliche Bevormundung und Übervorteilung sträuben, arten in Übertreibungen und Verketzerungen aus. Das Schreckbild des "internationalen Terrorismus", des „weltumspannenden islamistischen Terrornetzwerks Al Kaida“ wird herbeigeredet, Bedrohungsfantasien steigen wie Feuerwerk aus dem kollektiven westlichen Unbewussten auf, vor allem wenn irgendwo ein Attentat verübt wird. Auch wenn westliche Geheimdienste oder militante Hindus am Werk waren.

Schlechtes Gewissen – provozierter Wahn
Das Bewusstsein der Westmächte für eigene Fehler, Verbrechen und Massaker wirtschaftlicher und kriegerischer Art, die seit der Kolonisierung im 17. Jahrhundert begangen wurden, hat neben diesem provozierten Wahn keinen Platz. Das schlechte Gewissen öffnet den aufgeblasenen Fantasien Tür und Tor.

Sündenböcke sind beliebt
„Je schuldiger eine Gesellschaft sich weiss, um so härter bestraft sie die Sündenböcke“, schrieb die deutsche Schriftstellerin Luise Rinser in „Kriegsspielzeug. Tagebuch 1972 bis 1978“. Damals ging es noch nicht um die islamische, sondern um die kommunistische Bedrohung und jene der Roten Armee Fraktion in Deutschland, die ein paar Erzkapitalisten im Namen der proletarischen Revolution eigenmächtig hingerichtet hatte.

Luise Rinser notiert weiter: „In einem Buch über die Hexenjagd im 15. Jahrhundert lese ich: Die Angeklagten konnten sich einen Anwalt nehmen, doch waren diese Anwälte selbst höchst gefährdet“ – wie die Verteidiger der RAF-Gefangenen, von denen einige ebenfalls zu „Terroristen“ erklärt wurden.

Repression und Verleumdung
Und: „Gott steh uns bei gegen jene Presse, die das Reizwort ‚Weltjude’ ersetzt durch ‚die Kommunisten, die Terroristen, die Linksintellektuellen’“. Luise Rinser war sensibel auf solche Attacken. Im Deutschland der Nazis war sie nach ihrer ersten Buchveröffentlichung mit Schreibverbot, Gefängnis und Fabrikarbeit bestraft worden, in den Siebziger Jahren führten der Springer Verlag und andere Printmedien heftige Verleumdungskampagnen gegen sie und ihre Schriftstellerkollegen Heinrich Böll, Günter Grass und Günter Wallraff, weil sie öffentlich Verständnis für die politischen Motive der wütenden jungen Männer und Frauen gezeigt hatten.

„Was Pfarrerskinder (wie Gudrun Ensslin) und andere Kinder des christlichen Bürgertums in den Terror treibt: dass die Zehn Gebote in der Politik rein gar nichts bedeuten“, hält die Christin und Sozialistin im Tagebuch empört fest.


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07. Dezember 2008
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