Sieben mal sieben Generationen, oder: Erfolgsgeheimnis einer 1000-jährigen Eiche
Sie ist alt, riesig gross, schrumplig, aber aufrecht. Vielleicht bricht sie bald zusammen – aber noch ist sie äusserst vital. Und in vielerlei Hinsicht erfolgreicher als alle menschlichen Errungenschaften. Meditation am Stamm der Ivenacker Eiche. Samstagskolumne.
Die Ivenacker Eiche. Foto: Wikipedia
Die Ivenacker Eiche. Foto: Wikipedia
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Ich hatte gestern die Ehre, das grösste Lebewesen Deutschlands kennenzulernen. Ein wahrhaft erhabenes, höchst vitales und uraltes Exemplar: Die «grosse Ivenacker Eiche» ist die Eiche mit dem grössten Volumen Europas und die grösste lebende Stieleiche der Welt. Der Baum mit einem Umfang von fast 12 Metern und über 30 Metern Höhe gehört zu einer Gruppe von sieben wahren Eichenriesen, die in einem Part in Mecklenburg-Vorpommern als «Nationales Naturmoment» zu bewundern sind.

Dass sie tausend Jahre alt seien, finden heutige Wissenschaftler übertrieben, doch können sie es auch nicht widerlegen: Da ihre Kerne hohl sind (die der Eichen, über die der Wissenschaftler kann ich nichts sagen), kann man auch mit Kernbohrungen die Jahreskreisringe nicht zählen. Wissenschaftler schätzen sie heute eher auf 800-900 Jahre.

Ich habe zwar schon ältere Bäume gesehen: Olivenbäume im Garten Gethsemane in Jerusalem, die zur Zeit Jesu gepflanzt worden seien. Eine über tausendjährige «Zanbujeira», also wilde Olive, in Portugal. Doch da Oliven unendlich oft aus der Wurzel austreiben können, scheinen deren Stämme geradezu winzig gegenüber diesem Koloss. Mächtig und breit ist seine Krone, und doch wirkt sie etwas gedrungen, wurde sie vielleicht aus Stabilitätsgründen gestutzt? Nein, das regelte die Natur selber, erfahren wir von der Infotafel: Bis vor 100 Jahren war ihre Krone fast so breit wie hoch, doch dann brach ein Sturm  mehrere ihrer dicksten Äste ab.

Da wir nach Feierabend durch das Tor geschlichen und somit alleine unter den Eichen sind, da zudem ein windstiller Tag ist und wir die Gefahr von Astbruch als gering einschätzen, steigen wir über das Geländer und lehnen uns für einen Moment an ihre Rinde, schliessen die Augen und lauschen. Noch ist kein frisches Grün ausgeschlagen, schade. Aber es krabbelt und flötet und tummelt lebendig in den Ästen und in den tiefen Rindenwellen dieser Urgrossmutter aller Eiche. Wie Elefantenfüsse und -beine und dicker sind ihre mächtigen Schenkel, und wir fühlen uns darin selbst wie Käferchen.

Eiche

Und während ich lausche, ob ich ihre Stimme hören kann, versuche ich, mir im Zeitraffer die Wesen vorzustellen, die sie schon gesehen hat. Wie viele Generationen an Kleibern, Spechten, Eichelhähern haben hier genistet? An Käfern, die über sie krabbelten? An Hirten, die sich an ihren Stamm lehnten und ihre Tiere hüteten? An Kriegern, an Liebespaaren?

Mit den Augen der Eiche gesehen, krabbelt, flattert, kommt, geht, weht das Leben Jahr um Jahr, Jahrhundert um Jahrhundert um sie herum, und sie tut nichts, als allen Heimat zu geben und immer langsamer zu wachsen – nur noch einen Zentimeter pro Jahr im Umfang. So geruhsam – so erfolgreich.

Wen oder was kenne ich, das es geschafft hat, tausend Jahre alt zu werden? In meiner Heimatstadt Köln stehen zwölf romanische Kirchen, deren Bau in den ersten Jahrhunderten des letzten Jahrtausends begonnen wurden. Doch wurden sie mehrmals in Kriegen und Bilderstürmen zerstört und jeweils wieder aufgebaut.

Natürlich kenne ich ältere Bauwerke, die heute noch stehen: Ich habe einmal die Pyramiden gesehen. Reste römischer und griechischer Baukunst. Maya-Tempel. Und Steinkreise – in Stonehenge, Évora und auf Rügen. Einiges davon ist auch noch durchdrungen vom Geist ihrer Schöpfer, umweht vom Geheimnis ihrer Ideen. Anderes steht dem modernen Leben nur sperrig im Weg oder wird ausgeschlachtet als Touristenattraktionen. Der jeweils ursprüngliche Sinn ist verloren gegangen.

Doch das hier ist ein Lebewesen. Sie lebt, spendet Nahrung, atmet – wenn man die Photosynthese als eine Art Atem bezeichnen kann. Sie scheint recht gesund zu sein – auch wenn Wissenschaftler feststellten, dass die tragen Rindenwände dünner werden und ein nächster Sturm sie zerbrechen könnte. Sie bewegt sich, wächst, entwickelt sich, erkrankt, heilt, reagiert auf äussere Einflüsse – und das ungefähr seitdem die Salier die Ottonen auf dem deutschen Kaiserthron abgelöst haben. Sie bewegt, wächst, entwickelt sich weiter, während immer neue Adelsgeschlechter, Königs- und Kaiserthrone, Päpste, Kriegergeschlechter, Ideologien, Reiche aufkommen, sich bekämpfen, ein wenig triumphieren und wieder überrollt werden.

Keiner all dieser Herrscher war je so erfolgreich wie diese Mammuteiche in meinem Rücken. Keiner hat etwas geschaffen, das noch so lebendig ist wie sie. Keiner hat Entscheidungen getroffen, die heute noch Bestand haben, hat Richtungen eingeschlagen, die wir heute noch ernst nehmen können.

Von den Irokesen ist das «Sieben-Generationen-Prinzip» bekannt. In ihrem «Grossen Gesetz des Friedens» ist zwar nicht wirklich von sieben Generationen die Rede, sondern es heisst darin: «Achtet auf das Wohlergehen des ganzen Volkes und habt nicht nur die Gegenwart, sondern auch die kommenden Generationen im Blick, selbst diejenigen, deren Gesichter noch unter der Erdoberfläche liegen – die Ungeborenen der zukünftigen Nation.» Ich muss hier nicht den Gegensatz zur kurzlebigen Atemlosigkeit der heutigen Heuschrecken-Politik aufführen – ankommen, kaputtmachen, weiterziehen – wo ein Wahlversprechen keine einzige Generation mehr reicht, nicht mal mehr eine Wahlperiode, nicht mal mehr bis ans Ende der Wahlnacht.

BriefmarkeDoch die Ivenacker Eiche überlebte sie alle. Ihr zu lauschen, gibt mir unmerklich das Gefühl, dass es auch anders gehen könnte als alle gegen alle. Sie hat nicht nur sieben Generationen überlebt, sondern sieben mal sieben. Was hat sie, das unsere Anführer nicht haben – seit mindestens sieben mal sieben Generationen nicht?

Eine Antwort gibt uns vielleicht der Hinweis, dass die Ivenacker Eichen nicht aus einem Urwald stammen. Sie sind nicht das Ergebnis einer Abgrenzung, eines Schutzes der Natur vor den Menschen. Im Gegenteil entstammen sie der Kooperation von Mensch und Natur: In so genannten Hudewäldern haben die Slawen und später die christlichen Klöster ihre Schweine, Rinder, Ziegen, Pferde und andere Tiere geweidet – ein effektiveres Verfahren als das heutige Roden von Wald, um Weiden zu erzeugen. Besonders Buchen und Eichen boten wegen ihrer Früchte wertvolles Tierfutter. Da die Tiere die jungen Triebe abkauten, reduzierte das die Naturverjüngung der Bäume. Das sorgte für eine lichte, parkähnliche Kulturlandschaft und verschaffte den Bäumen mehr Licht – ideale Bedingungen für das Uralt-Werden. Und das ist die wunderschöne Moral meiner Geschichte des Eichenlauschens: Kooperation ist das Geheimnis des Erfolgs.

Doch damit ich nicht mit einer Moral ende, möchte ich noch die Legende von der grossen Eiche erzählen – oder viel mehr eine von den mehreren: Eine junge Nonne der Zisterzienserinnen, die gegen ihren Willen ins Kloster geschickt wurde, soll die Eiche nämlich gepflanzt haben. Die unglückliche Nonne war aber verliebt, und den Ring ihres heimlichen Verlobten legte sie um den winzigen jungen Eichenstamm, damit er ihm beim Wachsen helfe. Das tat er – und wuchs mit. Auch heute noch wacht der Ring – unsichtbar für unsere Augen – über das Wohl der Eiche und alle Liebenden.

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels

Christa Dregger-Barthels (auch unter dem Namen Leila Dregger bekannt). Redaktionsmitglied des Zeitpunkt, Buchautorin, Journalistin und Aktivistin. Sie lebte fast 40 Jahren in Gemeinschaften, davon 18 Jahre in Tamera/Portugal - inzwischen wieder in Deutschland. Ihre Themengebiete sind Frieden, Gemeinschaft, Mann/Frau, Geist, Ökologie.

Weitere Projekte:

Terra Nova Plattform: www.terra-nova.earth

Terra Nova Begegnungsraum: www.terranova-begegnungsraum.de

Gerne empfehle ich Ihnen meine Podcast-Reihe TERRA NOVA:
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Darin bin ich im Gespräch mit Denkern, Philosophinnen, kreativen Geistern, Kulturschaffenden. Meine wichtigsten Fragen sind: Sind Menschheit und Erde noch heilbar? Welche Gedanken und Erfahrungen helfen dabei? 

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