Sind wir noch normal?

Überleben in einer überdrehten Gesellschaft

Mindestens intuitiv ist uns klar, dass eine Gesellschaft, die durch und durch nach dem Wettbewerbsprinzip funktioniert, eine immer kleinere Anzahl von Gewinnern produziert, die einer immer grösseren Anzahl von Verlierern gegenübersteht. Und zu Letzteren wollen wir schliesslich nicht gehören. So starren wir verstohlen auf die anderen, immer auf der Hut, nicht geschlagen, übertrumpft und ausgestochen zu werden.
Tatsächlich scheint der permanente soziale Vergleich, zu dem wir täglich und überall – und erst recht durch die sozialen Medien – verführt werden, diese latente Unsicherheit eher noch anzuheizen. Studien zeigen, dass es insbesondere der Vergleichsdruck ist, der dazu führt, dass wir uns angesichts des inszenierten makellosen Lebens der anderen ständig minderwertig und unglücklich fühlen.
Gleichzeitig können wir beobachten, wie sich die Statistik der Krankheitstage aufgrund von Burnout und anderen psychischen Leiden seit dem Jahr 2003 nahezu verdoppelt hat und sich kontinuierlich weiter nach oben schraubt. Auch wenn nicht ganz klar ist, ob das einem tatsächlichen Zuwachs an psychischen Erkrankungen entspricht oder Betroffene heute einfach öfter zum Arzt gehen, stimmt insbesondere einer der angeführten Gründe für diesen Anstieg nachdenklich. Offensichtlich ist es der Druck zur Selbstverwirklichung – beruflich wie privat –, der zu diesem kollektiven seelischen Dammbruch führt. Tatsächlich scheinen jene, die aus ihrem Leben ständig das Maximum herausholen wollen, angesichts steigender Wahlmöglichkeiten besonders zu leiden und eher zu depressiven Verstimmungen zu neigen. Unsere Pflicht zur Selbstwerdung gerät zusehends zur Tortur.

Auf unserer Suche nach Bedeutung und Bestätigung in den gigantischen Galaxien von Möglichkeiten unserer Gesellschaft avanciert der Wettbewerb ganz offenkundig zum einzigen Orientierungspunkt. Unsere Identität wird damit mehr und mehr zum Spielball der Aussenwahrnehmung und Resonanz anderer. Die schwer erkämpfte Freiheit eines jeden, seine Individualität und Identität heute selbst erfinden zu können, führt also offenbar nicht zu mehr Autonomie, sondern zu mehr Verunsicherung, Angst, Zwang und Erschöpfung. Und das in besorgniserregender Weise vor allem bei der jungen Generation.
Aber auch ohne diese statistischen Hinweise können wir in unserem direkten Umfeld beobachten, dass immer mehr Menschen Mühe haben, den gesellschaftlichen Rhythmus mitzuhalten, nur noch auf Reserve fahren, erschöpft aufgeben oder immer häufiger zu fragwürdigen oder gar schädlichen Hilfsmitteln greifen. Wir sind schlicht müde, ständig nur auf Durchreise zu einem anderen, besseren Leben zu sein. Wir haben sie satt, diese unablässige Jagd nach unserem perfekten Lebensglück, die uns nicht glücklicher, sondern paradoxerweise immer unglücklicher werden lässt. Denn all unserer Bemühungen zum Trotz weiss es das Glück anscheinend nicht zu honorieren, dass wir es so angestrengt optimieren wollen.

Wir ahnen also, dass da irgendwas grundlegend falsch läuft, wenn wir unser Leben durch und durch nach ökonomischen Kriterien gestalten. Wenn Spontanität nur noch in der Werbung existiert und sich das Familienleben mehrheitlich in Whatsapp abspielt, weil wir uns nur noch selten im «real life» begegnen. Wenn alles, was verdient, als echtes, wirkliches Leben aus Fleisch und Blut bezeichnet zu werden, dem Optimierungsprimat zum Opfer fällt: mit der zufällig in der Stadt getroffenen Nachbarin einen Kaffee trinken gehen, spontan Freunde besuchen, endlich mal wieder die Gitarre aus der Ecke holen, nach Herzenslust ein Stück Schwarzwäldertorte geniessen oder die Australienreise machen, von der wir schon lange geträumt haben
Wir merken, dass uns die permanente Selbstoptimierung genau um das bringt, was wir zu optimieren suchen: unser Leben. Aber welche Alternativen haben wir eigentlich? Oder sind wir der Selbstoptimierung tatsächlich ausgeliefert? Gibt es neben dem Run auf die Superlative, der Jagd nach Konsum- und Lebensmaximierung tatsächlich keine anderen Lebensentwürfe?
Doch. Es gibt sie, die Konsum- und Leistungsverweigerer, die Aussteiger, die den Stecker ziehen und in totaler Askese leben. «Less is more» bzw. «Verzicht ist geil» heisst die Devise dieser Lebensentwürfe, die der Leistungs- und Fortschrittshysterie entsagen. Menschen, die nur von Blättern und Pilzen leben oder ohne Geld auskommen und ihre Lebensmittel aus dem Supermarktcontainer besorgen oder beschliessen, das Leben nur noch mit hundert Sachen zu verbringen. Aber sind das wirklich brauchbare Alternativen zur Zwangsjacke des Selbstoptimierungprimats? Klingt irgendwie genauso einengend. Obwohl diese Lebenskonzepte uns zum Nachdenken anregen und deshalb für die gesellschaftliche Weiterentwicklung durchaus wertvoll sind, beschleicht einen doch das unbestimmte Gefühl, dass es sich hierbei auch wieder nur um einen verkappten Run auf Superlative handeln könnte. Lediglich mit anderen Vorzeichen: anstelle von maximiertem Konsumrausch maximierte Konsumaskese.
Bleibt uns also wirklich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera? Bietet unsere reichhaltige Multioptionsgesellschaft tatsächlich alles, nur ironischerweise kein Vorbild für eine normale Lebensführung? Einen Weg zwischen Exzess und Askese?

Tatsächlich scheinen wir mit der Bezeichnung normal gewaltig auf Kriegsfuss zu stehen. Zumindest hören wir es gar nicht gern, wenn jemand uns oder unseren Lebensstil als normal bezeichnet. Sofort haben wir das Gefühl, unserer eigenen Beerdigung ein wenig näher zu sein. Normal assoziieren wir mit spiessig, faul, wenig ambitiös, gut bürgerlich, angepasst, nichts Besonderes, langweilig und auf jeden Fall mit absolut uncool und nicht erstrebenswert. In unserer Selbstoptimierungsgesellschaft als normal bezeichnet zu werden kommt schon fast einer Beleidigung gleich.
Es ist auch irgendwie verständlich, dass wir dieses Attribut so wenig mögen, wenn man bedenkt, dass einfach nur normal zu sein gerade in der Wirtschaftswelt durchaus auch existenzbedrohlich werden kann. Denn wer stellt angesichts von Unternehmensleitbildern, die eine Winner- oder High-Performance-Kultur predigen und zu einer elitär zelebrierten Talent-Popstarkultur aufrufen, ernsthaft jemanden ein, der bekennt, einfach nur ganz normal zu sein? «Up or out», diese Devise scheinen immer mehr zu fürchten, die sich lediglich hinter vorgehaltener Hand dazu bekennen, dass sie ihren ganz normalen Job einer aussichtsreichen Karriere vorziehen würden.
Aber auch in anderen Lebensbereichen empfinden wir die Kategorie normal in Bezug auf unsere Lebensführung als abwertend. Ja, überhaupt fällt einem seit «Fifty Shades of Grey» nun wirklich kein Lebensbereich mehr ein, in dem es heute noch attraktiv wäre, als normal bezeichnet zu werden. Nur wenn es aus dem Mund eines Arztes, eines Atomkraftwerkbetreibers oder eines Piloten kommt. Hier sind wir regelmässig erleichtert, wenn die Diagnose «Alles normal» lautet. In jedem anderen Kontext aber sind wir wohl ähnlich unglücklich oder enttäuscht, wenn etwas nur normal ist, wie liebende Eltern über den nur vierten Rang ihres Nachwuchses beim jährlichen Skikursabschlussrennen.
Aber ist dieser diskriminierende Blick gerechtfertigt? Wohin führt es uns eigentlich, wenn alle auf Teufel komm raus versuchen, aussergewöhnlich zu sein? Das heisst, wenn alle einen Marathon laufen, eine Schönheits-OP machen, einen Auslandsaufenthalt absolvieren oder das Abitur machen? Dann wird genau das zur Norm und ist schon bald nichts Besonderes mehr. In einer Welt, in der alle aussergewöhnlich sind – oder es zumindest sein wollen - schleift sich das vermeintlich Aussergewöhnliche ab und wird plötzlich zum Mainstream, zum Gewöhnlichen. Wie Voltaire bereits wusste: «Nichts langweilt mehr als aussergewöhnliche Dinge, die alltäglich geworden sind.»

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Beim vorliegenden Text handelt es sich um einen gekürzten Ausschnitt aus dem Buch «Bemerkenswert normal – von der Kunst, ein normales Leben zu führen in einer überdrehten Gesellschaft.» (Versus Verlag, 2016. 156 S. Fr. 27.90.) Eva Bilhuber, aufgewachsen in Freiburg i.Br., promovierte zum Thema «Social Capital» an der Hochschule St. Gallen und ist als Managementberaterin tätig. Den Anstoss zu ihrem erfrischenden Buch gab ein Acquise-Gespräch, zwölf frustrierende Monate nach Beginn ihrer Selbständigkeit und erfolglosen Selbst-Branding-Versuchen. Sie beobachtete, dass i hr Gegenüber genau dann interessiert den Kopf hob, als sie sagte: «Ich bin eine völlig normale Management-Beraterin, von denen Sie da draussen so viele finden, wie Sand am Meer.» In ihrem lesenswerten Buch beschreibt sie sechs Entwürfe von ganz normalen Leben.
Kontakt: Dr. Eva Bilhuber Galli, human facts AG, Bellariastr. 51, 8038 Zürich.
www.humanfacts.ch
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05. Oktober 2016
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