«So nicht!» - Baustopp in Bolivien nach Protesten

Präsident Morales muss den Protesten der Ureinwohner gegen eine Fernstrasse durch das Natur- und Indianerschutzgebiet Isiboro-Sécure nachgeben.

PORTO ALEGRE | So kleinlaut haben die BolivianerInnen ihren Staatschef noch nie erlebt. Am Montagabend um 20.45 Uhr, eine dreiviertel Stunde später als angekündigt, trat Evo Morales im Präsidentenpalast von La Paz vor die Presse und gab eine 15-minütige Erklärung ab, die live im Radio und Fernsehen übertragen wurde. «Wir weisen die Auswüchse zurück, wir teilen die Gewalt nicht, die Misshandlung unserer indigenen Brüder, die auf dem Marsch waren», begann er und kündigte eine «gründliche Untersuchung» der «unverzeihlichen» Vorfälle an.

Es war die schwierigste Rede in Morales fast sechsjähriger Amtszeit. Tags zuvor hatten 500 Polizisten mit Tränengas und Schlagstöcken nach 42 Tagen den Protestmarsch von rund tausend Tieflandindianern aufgelöst, die nach La Paz ziehen wollten. Die Marschierer wehren sich gegen den Bau einer Fernstraße durch ein Naturschutzgebiet, in dem rund 15'000 Angehörige dreier indigener Völker wohnen.

Am späten Sonntagnachmittag drangen die Spezialeinheiten in ein Zeltlager der Strassenbaugegner ein und zerrten sie, darunter viele Frauen und Kinder, in bereitstehende Busse. Manche wurden in Handschellen abgeführt, andere suchten im Chaos das Weite. Bei hochsommerlichen Temperaturen war die Stimmung bereits am Samstag eskaliert: Die Protestierer hielten Aussenminister David Choquehuanca über vier Stunden lang fest und zwangen ihn, mit ihnen über eine gesperrte Brücke zu ziehen.

Ein paar hundert Meter weiter warteten regierungstreue Gegendemonstranten, die den Marsch bereits eine gute Woche lang blockiert hatten. Einsatzleiter Óscar Muñoz nannte die «aggressive Haltung gegenüber Personen, die zu Gesprächen gekommen waren», als einen Grund für die Auflösung des Marsches, ausserdem seien Polizisten von einer Gruppe Bogenschützen umstellt worden.


Verteidigungsministerin geht

Am Montag reichte Verteidigungsministerin Cecilia Chacón ihren Rücktritt ein. Sie könne den Einsatz «weder verteidigen noch rechtfertigen, solange es Alternativen im Rahmen des Dialogs, des Respekts der Menschenrechte und der Verteidigung von Mutter Erde gibt», begründete sie ihren Schritt. «So nicht! Wir haben mit dem Volk vereinbart, die Dinge anders zu machen», schrieb sie an Morales.

Im ganzen Land kam es zu Protesten, hunderte Studenten zogen vor den Präsidentenpalast. Der Gewerkschaftsdachverband COB kündigte für Mittwoch einen Generalstreik an. Rafael Quispe, einer der Anführer des Protestes, legte den Finger in die Wunde: «Es ist eine angeblich indigene Regierung, die auf die Indígenas losgeht.»

Für den Straßenbau sprächen die Forderungen «vieler sozialer Sektoren», aber auch Regierungsdekrete seit 1984, sagte Evo Morales in seiner Rede. Er wünscht nun eine «nationale Debatte», bis dahin sei das Projekt ausgesetzt. Wie schon Stunden vor dem Polizeieinsatz deutete der sozialistische Präsident an, er könne die Entscheidung über den Strassenbau über eine Volksabstimmung in den Provinzen Cochabamba und Beni sanktionieren lassen.


306 Kilometer

Seit Monaten argumentiert die Regierung, die 306 Kilometer lange Straße, die in Nord-Süd-Richtung von San Ignacio de Moxos nach Villa Tunari im Kokaanbaugebiet Chapare verlaufen soll, sei wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Die Protestierer aber wehren sich gegen die drohende Zerstörung des 12'000 Quadratkilometer grossen Natur- und Indianerschutzgebietes Isiboro-Sécure.

Die Strasse wird zu 80 Prozent von der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES finanziert, ihre Anfangs- und Endabschnitte werden bereits vom brasilianischen Multi OAS gebaut. Sie gehört auch zu einer geplanten Verbindung vom südlichen Amazonasgebiet zum Pazifik, auf der einmal Rohstoffe aus Brasilien für die asiatischen Märkte transportiert werden sollen. Die Tieflandindianer fordern eine Alternativroute für den mittleren Streckenabschnitt, der durch das Schutzgebiet verlaufen soll.

Doch hat die Regierung das in der neuen Verfassung und in internationalen Konventionen festgeschriebene «Recht auf vorherige Konsultation» von Urvölkern bei Grossprojekten noch nicht umgesetzt. Nun wird ihr nichts anderes übrig bleiben.

Quelle: taz
28. September 2011
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