Vor den Zug
Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.
Eine junge Frau sitzt am Gleis eines Bahnhofs auf einer Bank und telefoniert. Der in den Bahnhof einfahrende Lokführer sieht sie telefonieren, dann legt sie das Handy neben sich auf die Bank – und springt vor den Zug. Später stellt sich heraus, dass ihr Freund ihr am Telefon zu verstehen gab, er werde die Beziehung beenden. Darauf sagte sie ihm, sie werfe sich vor die S-Bahn. Und sie hat es gemacht.
Die Tat, die mit dem schrecklichen Tod der jungen Frau endete, hat sich vor nicht langer Zeit in einem Schweizer Bahnhof ereignet, und sie ist bloss eine weitere Zeile in der langen Liste von Lebensmüden, die sich aufs Gleis begeben und darauf warten, dass sie der Zug überrollt. Schon vor Jahrzehnten, damals noch für die junge «WoZ», berichtete ich unter dem Titel: «Jede Woche wirft sich einer vor den Zug» über die wachsende Zahl der Bahnsuizide. Dieselbe Schlagzeile würde unverändert für heute gelten.
Das bestätigt mir ein Lokomotivführer, den ich am Rande einer Abdankung kennenlernte. An der Abdankung nahm die Trauergemeinde Abschied von einer 98-jährigen Frau, die auf ein eindrücklich langes, erfülltes Leben zurückblicken durfte. Anschliessend aber kamen wir unvermittelt auf Menschen, junge Menschen zu sprechen, die noch gar nicht voraussehen konnten, wie sich ihr Leben entwickelt hätte, wenn es ein langes Leben geworden wäre. Sie warfen es vorher weg. Sie warfen es vor den Zug.
Nicht nur er selbst, sagt mir der Lokomotivführer, sondern fast jeder seiner Berufskollegen habe schon mindestens einmal eine Person überfahren, die nicht mehr leben wollte. Die Zahl der Selbstmorde auf dem Gleis, glaubt er, sei in den letzten Jahren sogar noch gewachsen. Er wünsche diese Erfahrung niemandem. Auf einen Menschen zuzusteuern und schon im Voraus zu wissen, dass der Bremsweg nicht reicht, sei jedes Mal wieder ein Albtraum. Und die Wiederholung macht den Schock nicht leichter erträglich. Das zweite Mal ist es noch schlimmer.
Wenn sich ein Sterbewilliger vor den Zug wirft, werden die Reisenden über die Lautsprecher informiert, ein «Personenunfall» habe den Bahnbetrieb unterbrochen. Doch eigentlich ist ein Zugsuizid kein Unfall, und der Selbstmörder kein Unfallopfer, sondern ein Täter. Er begeht eine Tat, indem er sich auf das Gleis stellt, und er fügt damit nicht nur seiner Familie und seinem Freundeskreis grosses Leid zu, sondern auch den Lokomotivführern.
Der gestandene Berufsmann, mit dem ich rede, schildert mir das Beispiel eines Kollegen, der vor kurzem, von Brig her kommend, an Spiez und Thun vorbei mit seinem Cargozug durch die Nacht fuhr und sich nach vielen einsamen Arbeitsstunden auf das Nachhausekommen und die Erholung freute. Doch auf der Höhe von Münsingen, bei der psychiatrischen Klinik, wartete eine Gestalt auf dem Gleis, und der Lokführer wusste im gleichen Moment und nicht ohne zynischen Selbstschutz, dass er den Feierabend vergessen konnte.
Denn nach dem ohrenbetäubenden Aufprall, der unweigerlich folgt, obliegt es dem Lokführer lediglich, die Polizei zu benachrichtigen und – im Falle eines Personenzuges – die Passagiere zu informieren. Verlassen darf er den Führerstand nicht, und er würde es auch nicht tun, denn was er draussen zu sehen bekäme, will sich niemand freiwillig antun. Er bleibt in der Lokomotive und wartet, wartet in der erdrückenden Stille und Dunkelheit, bis die Polizei am Tatort erscheint, dann die Feuerwehr, die Gerichtsmedizin und die Sanität – und zuletzt noch die Reinigungsfirma, die die Spuren des Todes wegputzen muss, bis alles wieder so aussieht, als habe es den Tod nicht gegeben.
Braucht der Lokführer einen Beistand, wird ein ausgebildeter Seelentröster herbeigerufen, der in seltenen Fällen sogar dafür sorgt, dass der unter Schock Stehende in ein Spital überbracht werden kann. Weiterfahren darf er so oder so nicht. Nach Erledigung aller Formalitäten bringt ihn, auf Kosten der SBB, ein Taxi nach Hause.
Aber das Beste kommt noch, erfahre ich – das Beste in Anführungszeichen. Der Lokführer wird am folgenden Tag nicht nur zum Hergang des Unfalls befragt, er wird auch in jedem Fall formell angeklagt. Wegen fahrlässiger Tötung. Weil er den Lebensmüden getötet hat – was formaljuristisch erklärbar, aber menschlich ungeheuerlich ist. Auch hier kann sich der Lokomotivführer, der mir dies alles erzählt, nur in den Sarkasmus retten: Mit grimmigem Lächeln fügt er hinzu, man werde jedes Mal freigesprochen.
Dass die Freigesprochenen für den Selbstmörder nicht das Verständnis aufbringen können, das die Gesellschaft von uns erwartet, ist nachvollziehbar. Ihr Mitleid hält sich in Grenzen, denn das Mitleid müsste eigentlich ihnen gelten. Schuldgefühle neigen zu einer besonderen Hartnäckigkeit, wenn man unschuldig ist. Die Lokomotivführer können absolut nichts dafür, dass der Bremsweg zu kurz ist. Dennoch lässt sie die Frage nicht los, warum sie den Menschen, der auf dem Gleis stand, nicht früher sahen? Der Bremsweg wäre zu kurz gewesen, in jedem Fall, der Aufprall nicht zu verhindern. Aber das Bild bekommen sie nicht aus dem Kopf. Und den Knall, der den Aufprall begleitet, nicht aus den Ohren. Er dröhnt bei manchen noch lange danach – während andere, die besser im Weghören sind, ihn glücklicherweise vergessen können.
Bei der psychiatrischen Klinik Münsingen wurde dem Trassé entlang ein Zaun hochgezogen, der die Unglücklichen davon abhalten soll, auf das Gleis zu gelangen. Doch irgendwo weiter vorn endet der Zaun, so wie jede Vorsichtsmassnahme irgendwo endet, und dann ist der Weg in den Tod wieder frei. Fast überall den Strecken entlang ist der Weg frei. Nur den Fahrplan muss man studieren. Oder nicht einmal das. Einfach hinstehen.
Die Zugsuizide werden weiterhin nicht zu verhindern sein. Und die Lokomotivführer werden weiterhin damit rechnen müssen, dass ein Mensch sich nicht mehr anders zu helfen weiss, als mit Hilfe der Wucht eines heranrasenden Zuges aus dieser Welt hinausgeschleudert zu werden. Täglich nehmen sich in unserem freien, wohnlichen Land drei Menschen das Leben. Alle acht Stunden im Schnitt. Obwohl sie im Innersten wissen, dass wir nicht auf der Welt sind, um auf dem Bahngleis zu stehen und zu warten. Wir sind hier, um von den Gleisen wieder hinunterzusteigen. Bevor der Zug kommt.
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Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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