Warum der Westen in Gaza und der Ukraine falsch liegt
In den beiden Kriegen sieht sich der Westen als moralische Instanz. Dabei wird das Völkerrecht gebeugt. Warum das fatal ist. Ein Essay (Teil 1)
Seit über zweieinhalb Jahren führt Russland Krieg in der Ukraine, seit über einem Jahr Israel in Gaza. Manche mögen sich an die Kämpfe gewöhnt haben und kein Ende in Sicht sehen. Das wäre fatal.
Krieg ist kein Naturereignis
Es ist daher an der Zeit, genauer zu schauen, wo wir bei den Kriegen stehen, wie wir dort hingelangt sind, welche Haltungen sinnvoll sind und wie es zu Waffenstillstand und Frieden kommen könnte.
«Krieg kommt nicht aus einer schwarzen Wolke», das sagte einmal der Dichter, Kommunist und Kriegsgegner Kurt Barthel nach dem 2. Weltkrieg. In dem Gedicht von 1949 heisst es weiter: «Krieg ist nicht ein Sommerhagelschlag». Krieg ist also kein Naturereignis, kein Schicksal, gegen das man nichts machen kann. Wie ich finde ein vernünftiger Standpunkt.
Wenn wir verstehen wollen, wie es zu den Kriegen gekommen ist, die uns im Moment sehr beschäftigen, und welche Lösungen es dafür gäbe, müssen wir verstehen, was hinter ihnen steckt und wie Gewalt und Krieg weiter legitimiert werden.
Die Verantwortung von Europa und den USA
Natürlich finden auch andere verheerende kriegerische Konflikte auf der Welt statt, z.B. im Sudan, über die gesprochen werden sollte. Aber diese beiden Kriege stehen zu Recht bei uns im Fokus. Denn die Regierungen im Westen sind dabei nicht Zuschauer. Sie sind «mitbeteiligt», ermöglichen die Kriege in gewisser Weise. Wir in Deutschland sind als Teil der EU, der Nato, des transatlantischen Bündnisses mit den USA ebenfalls vielfach verwoben mit den Konflikten. Zudem besteht in den beiden Kriegen die reale Gefahr einer Ausweitung und Eskalation bis hin zu einem Welt- oder Atomkrieg. Die Notwendigkeit, die Kriege zu deeskalieren, ist demnach hoch, um diese Gefahren zu bannen. Wir haben also einerseits Einfluss auf den Fortgang der Kriege und sollten angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, über die richtigen Wege nachdenken, Frieden herzustellen.
Richtige oder falsche Seite?
Wenn man sich die grundsätzliche Haltung in den westlichen Öffentlichkeiten beim Ukraine- und Gaza-Krieg nun anschaut, damit meine ich die der USA sowie der Nato- und EU-Staaten, dann dominiert die Haltung, dass «wir» auf der richtigen Seite bei den Kriegen stehen. Es heisst: Amerika und Europa unterstützen angegriffene Ländern dabei, sich zu verteidigen gegen Aggression von aussen.
Das scheint erst einmal einleuchtend. Sowohl die Ukraine also auch Israel sind ja tatsächlich angegriffen worden und reagieren militärisch darauf. Sich gegen Aggressionen zu wehren, ist erstmal legitim.
Ich möchte im Folgenden aber die Haltung im Westen hinterfragen und einen anderen Standpunkt einnehmen und diskutieren. Denn tatsächlich stehen wir in beiden Kriegen auf der falschen Seite, nämlich auf der Seite militärischer Eskalation ohne Endgame, die Diplomatie und Konfliktlösung verhindert. Das ist moralisch nicht zu rechtfertigen, ganz zu schweigen von dem Leid und den Gefahren, die Kriege in sich bergen, vor allem, weil es realistische Lösungen für die Kämpfe gibt.
Selbstverteidigung?
In einem ersten Schritt sollten wir jedoch zwischen den beiden Kriegen und «unserer» offiziellen Haltung dazu in einem wichtigen Punkt differenzieren, um eine rationale Gegenposition zu formulieren. Denn beim Ukraine-Krieg liegt die Problematik der Unterstützung nicht auf der Ebene völkerrechtlicher Legitimität, sondern auf einer realpolitischen, es geht um die Diplomatie-Blockade und ihre Folgen. Beim Gaza-Krieg ist das moralische Versagen tiefer und weitreichender.
Das hat damit zu tun, dass der russische Überfall auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 nach internationalem Recht ein Angriffskrieg ist. Die Ukraine hat daher das Recht, auch moralisch, sich dagegen zu verteidigen und andere Länder anzufragen, sie gegen den Aggressor mit Waffen zu unterstützen. Beim Gaza-Krieg Israels ist das nicht der Fall, wie wir noch sehen werden.
Ob es klug und damit am Ende auch vertretbar ist, Waffen in grosser Dimension für den ukrainischen Abwehrkrieg bereitzustellen, während zivile Konfliktlösungen tabuisiert und enorme Zerstörungen und Risiken in Kauf genommen werden, auch dazu später mehr.
Zuerst einmal zur Rechtslage im Ukraine-Krieg. Moskau hat zwar kurz nach Beginn der Invasion erklärt, man verteidige sich gemäss der UN Charta Artikel 51 gegen eine Bedrohung, um damit den Krieg zu legitimieren. Aber das Näherrücken der Nato und der USA an die russische Grenze bis in die Ukraine, worauf auch der russische Präsident Wladimir Putin in seiner Rede zur Kriegslegitimierung abhob, reicht dafür nicht.
Russland und Israel als Aggressoren
Denn nur evidente, ablaufende Angriffe auf das eigene Territorium, die unmittelbar abgewehrt werden müssen, fallen unter das Selbstverteidigungsrecht. Einen solchen gab es aber nicht mal auf die seit 2014 von Russland annektierte Krim.
Auch die Erklärung, man sei den selbst ernannten, international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ostukraine zu Hilfe gekommen (es gab dort immer wieder Kämpfe mit dem ukrainischen Militär), hat keine Relevanz. Denn kollektive Selbstverteidigung gemäss Völkerrecht, also das Recht, militärische Hilfe von aussen anzufragen, ist auf Staaten begrenzt.
Nicht-staatliche bzw. Oppositionsgruppen in einem Land haben diesen Anspruch nicht. Aus gutem Grund. Denn das würde militärischen Interventionen von aussen in die inneren Angelegenheiten von Ländern Tür und Tor öffnen. Während sich die Ukraine also verteidigt gegen äussere Aggression, trifft das für Israel nicht zu, auch wenn es von Tel Aviv und seinen Verbündeten durchgängig behauptet wird. Das hat Konsequenzen für die Bewertung der westlichen Unterstützung. Denn damit ist sie eine rechtlose, letztlich komplizenhafte Hilfe für einen Aggressor, der laut Beschluss des Internationalen Gerichtshofs «plausiblen Völkermord» begeht.
Tel Aviv ausserhalb der UN-Charta
Da im Westen aber Standardmeinung ist, jedenfalls in der veröffentlichten Meinung, dass Israel das Recht habe, sich selbst gegen die Hamas mit diesem Krieg zu verteidigen, möchte ich diesen Punkt etwas ausführlicher darlegen.
Natürlich hat Israel das Recht und sogar die Pflicht, seine Bürger auf seinem eigenen Territorium zu schützen. Den ablaufenden Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 abzuwehren, war legitim und auch legal (leider versagte das israelische Militär und die Regierung, diesen Schutz effektiv zu gewähren).
Aber Israel kann sich dabei nicht auf die UN-Charta berufen, die hier keine Anwendung finden kann. Vor allem kann die Netanjahu-Regierung sich nicht auf das Selbstverteidigungsrecht berufen, nachdem der Anschlag vorbei war, um einen Krieg gegen Gaza zu starten oder gar die » Hamas auszulöschen».
In der internationalen Rechtsdebatte wird dabei auf mehrere Aspekte verwiesen. Das Kernargument ist, dass es sich bei dem Überfall nicht um einen Angriff eines Staates (oder einer von einem Staat beauftragten paramilitärischen Einheit) auf einen anderen handelte, sondern um eine Attacke einer bewaffneten Gruppe, die von einem Territorium, Gaza, ausging, das Israel illegal seit über 50 Jahren besetzt hält. Ob man diese Gruppe nun Terroristen nennt oder nicht, ändert an diesem juristischen Tatbestand nichts.
Die Sache mit der Besatzung
So könne ein Staat nicht gleichzeitig die Kontrolle über ein von ihm besetztes Gebiet ausüben und dieses Gebiet militärisch angreifen, mit der Behauptung, es sei «ein anderes Land» und stelle eine exogene Bedrohung der nationalen Sicherheit dar, stellt u.a. Noura Erakat fest, Menschenrechtsanwältin und Professorin an der Rutgers University in den USA.
«Das Recht auf Selbstverteidigung kann geltend gemacht werden, wenn ein Staat von einem anderen Staat bedroht wird, was nicht der Fall ist», sagt auch Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten.
Die UN-Sonderberichterstatterin bezieht sich dabei u.a. auf ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) von 2004, dass der Bau der israelischen Mauer im besetzten Westjordanland illegal ist. Der IGH wies das Argument Israels, die Mauer aus Sicherheitsgründen zu bauen, zurück und stellte klar, dass das Land in einem besetzten Gebiet kein Recht auf Selbstverteidigung geltend machen kann. Israel könne sein Vorgehen nicht mit Artikel 51 der Charta rechtfertigen.
Demgegenüber gestattet das internationale Recht einer Bevölkerung unter illegaler Besatzung im Streben nach nationaler Selbstbestimmung bewaffneten Widerstand im Rahmen des «Ius in bello», des humanitären Völkerrechts, was den Schutz der Zivilbevölkerung vorschreibt.
Die Fürsorgepflicht bei Okkupationen
Was Israel als Besatzungsmacht erlaubt ist, wird durch das Besatzungsrecht geregelt. Solange die Besatzung andauert, hat Israel das Recht, sich selbst und seine Bürger vor Angriffen von Palästinensern zu schützen, die sich in den besetzten Gebieten aufhalten.
Im Prinzip darf Israel mit Mitteln der Polizei und in Ausnahmefällen auch mit militärischen Sicherheit nach den Regeln des humanitären Völkerrechts herstellen. Aber dabei sind die Sicherheitskräfte verpflichtet, möglichst keine Gewalt anzuwenden und tödliche nur als » letztes Mittel».
Israel hat zugleich auch die Pflicht, ein «normales Leben» in den von ihm besetzten Gebieten aufrechtzuerhalten. Zu dieser Verpflichtung gehört es, die Sicherheit und das Wohlergehen der besetzten Bevölkerung nicht nur zu gewährleisten, sondern ihnen Vorrang einzuräumen.
Israels Krieg gegen Gaza mit über 43.000 Getöteten, fast 70 Prozent davon Kinder und Frauen, 10.000 Vermissten sowie rund 100.000 Verwundeten, dem Einsatz von Hunger als Kriegswaffe und fast vollständiger Zerstörung jeglicher Infrastruktur ist daher auch ein Bruch mit den Verantwortlichkeiten und der Fürsorgepflicht Israels für die besetzte Bevölkerung, die sich unter seiner Kontrolle befindet.
Der Doppelstandard, live-gestreamt
Dass westliche Staaten, allen voran die USA und Deutschland, dem Aggressor Israel bei seinem illegalen, unmenschlichen Krieg gegen Gaza mit Waffen, diplomatisch und politisch unterstützen, Kritik daran attackieren und den Palästinensern jegliches Verteidigungsrecht absprechen, während sie ein historisches Sanktionsregime gegen Russland verhängen und der Ukraine in grosser Dimension bei seinem Abwehrkrieg unter die Arme greifen, ist ein eklatanter, täglich live-gestreamter Doppelstandard.
Die Prinzipien des internationalen Rechts, die universell gelten müssen, werden dadurch beschädigt, wenn nicht zerstört – warum sollten andere Staaten sich noch daran halten?
Vorgeschichte in Nahost
Bevor ich ausführlicher auf den Ukraine-Krieg, den Konflikt dahinter und Lösungen zu sprechen komme und mir die moralische Problematik bedingungsloser Waffenlieferungen an die Ukraine anschaue, möchte ich noch ein wenig beim Gaza-Krieg bleiben, um einen Blick hinter das Kriegsgeschehen auf den Konflikt selbst zu werfen.
Kriege, wie zuvor erwähnt, fallen nicht vom Himmel, sie haben eine Vorgeschichte. Diese Geschichte wird bei der ehernen Unterstützung Israels als deutscher Staatsräson entweder nicht beachtet oder verzerrt dargestellt. Das hat seinen Grund. Denn seit 1967, seit dem Sechstagekrieg und den Eroberungen, ist Israel hauptverantwortlich für die Konfliktlage.
Das ständige Blutvergiessen in Nahost geht ja nicht zurück auf einen unlösbaren Konflikt. Ursache und Nährboden für Gewalt und Chaos dort sind keineswegs der Kampf von zwei Streithähnen, gefangen in irrationalen Gewaltspiralen, wobei freilich nur einer Seite im Westen die Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung zugesprochen wird.
Eine friedliche und gerechte Lösung wäre jederzeit möglich. Die minimale Basis dafür ist allerdings Respekt vor internationalem Recht. Das betrifft die Blockade des Gazastreifens, das Apartheidregime, die illegale Besatzung und die Verhinderung der nationalen Selbstbestimmung der Palästinenser in einem eigenen Staat.
Israel blockiert den Frieden
Israel ist also verpflichtet, das illegale Besatzungs- und Apartheid-Regime zu beenden. Die permanenten Tötungen, Entwürdigungen und systematischen Menschenrechtsbrüche gegen Palästinenser:innen, wie sie von diversen UN-Stellen und Menschenrechtsorganisationen in Studien belegt werden, sind nicht nur kriminell, rassistisch und inhuman, sondern struktureller Treiber von Rechtsbruch und Gewalt.
Sollte Israel gar dem internationalen Recht, der internationalen Gemeinschaft, dem Internationalen Strafgerichtshof und dem Internationalen Gerichtshof auf einem anderen Feld folgen wollen, dürfte es nicht nur kein Weiterwuchern von israelischen Siedlungen im Westjordanland geben. Vielmehr sind alle Siedlungen dort illegal und müssen geräumt werden.
Der schwerste Brocken ist die vom Völkerrecht und der internationalen Gemeinschaft geforderte Zweistaatenlösung, mit einem Palästinenserstaat innerhalb der Grenzen von vor 1967 – als Israel im Sechs-Tage-Krieg unrechtmässig Land okkupierte –, eventuell mit kleinen Gebietsanpassungen und -austauschen.
Die arabischen Staaten und die palästinensische Seite haben Israel immer wieder Frieden im Zuge einer Zwei-Staaten-Lösung angeboten, mit einem palästinensischen und israelischen Staat, basierend auf UN-Resolution 242, verabschiedet nach dem Krieg.
Die Wahrheit über die Zweistaatenlösung
Bereits 1976 übergaben arabische Staaten dem UN-Sicherheitsrat eine Resolution, die diese Einigung enthielt, voller Frieden im Gegenzug für einen Palästinenserstaat. Seitdem sind immer wieder Resolutionen bei den Vereinten Nationen zur Abstimmung eingebracht worden, um einen Palästinenserstaat möglich zu machen.
Die Lösung wird de facto von allen Staaten der Welt, eingeschlossen der arabischen Staaten, der Arabischen Liga, des Iran, der PLO und letztlich auch der Hamas unterstützt, auch wenn in der veröffentlichten Meinung in den USA und Europa durchgängig das Gegenteil behauptet wird.
Doch alle diese Angebote wurden von Israel mit Unterstützung der USA abgelehnt. Seit den 1970er-Jahren hat Washington insgesamt 49 Resolutionen des UN-Sicherheitsrats mit Vetos blockiert, die entweder Israel zur Einhaltung des Völkerrechts aufforderten, ein Ende der Besatzung bzw. die palästinensische Eigenstaatlichkeit verlangen oder Israel für Kriegsverbrechen und illegalen Siedlungsbau zur Rechenschaft zogen. Allein viermalverhinderte Washington mit seiner Blockade einen Waffenstillstand im jüngsten Gaza-Krieg. Währenddessen bewaffnet man Israel weiter bis an die Zähne.
Auch bei den direkten Verhandlungen haben die «Vermittler» aus Washington Israel vor einem Palästinenserstaat bewahrt. Angeboten wurden den Palästinensern nämlich höchstens Kantone, zerstückeltes Land, ein nicht lebensfähiger » Pseudo-Staat», ähnlich den Bantustans in Südafrika für die schwarze Bevölkerung. Selbst von israelischen Unterhändlern, ganz zu schweigen von der Fachwelt, wurden sie als Nicht-Offerten, als PR-Inszenierungen bewertet.
Ist Selbstverteidigung ein absoluter Wert?
Nun erklärt die Netanjahu-Regierung offen, dass man einen Palästinenserstaat nicht mehr zulassen werde. Zugleich werden Pläne für ethnische Säuberungen im Gazastreifen offen artikuliert und auch umgesetzt, siehe Nord-Gaza.
Wenn Israel am Expansionskurs festhalten wird, sich Stück für Stück palästinensische Gebiete einverleibt und damit einen lebensfähigen Palästinenserstaat verhindert, dann sind gewaltsame Eskalationen auch in Zukunft zu erwarten. Wer diesen Kurs ermöglicht und unterstützt, ist dafür mitverantwortlich.
Kommen wir zum Ukraine-Krieg zurück und zu der Frage, ob die Waffenlieferungen des Westens, die vielfältigen Sanktionen gegen Russland und die Ablehnung jeglicher Kompromisse moralisch vertretbar sind, auch wenn Moskau die Ukraine illegal angegriffen hat und die Regierung in Kiew sich dagegen verteidigen darf.
Die Frage ist letztlich, ob gewaltsame Selbstverteidigung eines Staates gegen einen Angriff ein absoluter Wert ist, der durch keine anderen moralischen Erwägungen eingeschränkt werden kann. Ich denke, dass das nicht so ist.
Ein Gedankenexperiment
Nehmen wir noch einmal Gaza und machen ein Gedankenexperiment. Die Palästinenser haben, wie schon gesagt, das Recht, gegen die illegale Besatzung bewaffneten Widerstand zu leisten, wenn es sich um militärische Ziele handelt. Die Unterstützung des bewaffneten Widerstands wäre also legitimierbar.
Würden wir es aber nun richtig finden, dass z.B. der Iran schwere Waffen und Waffensysteme in grossem Umfang (also Panzer, echte zerstörerische Raketen, Abwehrsysteme, Kampfjets, Munition etc.) an die Palästinenser gibt, damit sie damit das israelische Besatzungsregime vertreiben und ihr international verbürgtes Recht auf einen eigenen Staat in den anerkannten Grenzen realisieren können?
Ich glaube nicht, dass selbst Kritiker Israels das auch nur erwägen oder verteidigen würden (mal abgesehen davon, dass das Szenario vollkommen unrealistisch ist). Der Grund ist einfach: Es wäre ein suizidales Harakiri-Unternehmen angesichts der israelisch-amerikanischen Militärmaschinerie, die Palästina dem Erdboden gleichmachen und den Palästinenserstaat historisch beerdigen würde. Es würde alles viel schlimmer machen, eventuell einen atomaren Weltkrieg provozieren.
Es gibt zudem weiter eine Alternative, gerechten Frieden herzustellen: Letztlich müssen die USA und damit auch Israel » nur» dazu gebracht werden, die Blockade gegen die Realisierung des allseits anerkannten Palästinenserstaats aufzugeben.
Das grössere Übel
Das gleiche realpolitische Prinzip sollte im Ukraine-Krieg gelten: Ist die massive militärische Unterstützung westlicher Staaten für die kriegerische Selbstverteidigung, ohne die sie nicht möglich wäre, angesichts der Konsequenzen und Alternativen zu rechtfertigen bzw. noch zu rechtfertigen? Oder produziert sie ein grösseres Übel, das nicht akzeptiert werden kann?
Es geht hier nicht um die Frage, was die russische und ukrainische Regierung tun sollte. Russland hat natürlich die Hauptverantwortung, indem es den illegalen Krieg begann bzw. ihn bis heute nicht beendet hat. Und die Ukrainer müssen für sich selbst bestimmen, ob sie weiterkämpfen wollen. Bei uns sollte es um die Verantwortung westlicher Regierungen gehen, auf die wir Einfluss haben.
Was die Waffenlieferungen angeht, scheint mir die Grenzlinie zu sein, dass die Waffen nicht zu einer Eskalation führen sollten, was das Leid für die Ukraine ausweitet und die weltweiten Risiken erhöht. In der Anfangsphase der Ukraine defensive Waffen bereitzustellen, damit sich das Land gegen die Invasion wehren konnte, ist berechtigt gewesen.
Doch Schritt für Schritt wurden immer schwerere Waffensysteme (Kampfpanzer, Raketen mit grösserer Reichweite, moderne Kampfjets wie F-16, wahrscheinlich sogar Uranmunition etc.) bereitgestellt und der ukrainischen Regierung erlaubt, auch Angriffe auf russischem Territorium auszuführen, wovor Moskau eindringlich warnte und es als » rote Linie» bezeichnete.
Kämpfen und die blutigen Folgen
Das hat den Krieg eskaliert. Nun haben wir einen blutigen Zermürbungskrieg, während Russland immer weiter aufrüstet, seine vorhergesagten Vorteile auf dem Schlachtfeld ausnutzt und Fortschritte macht – was die ukrainische Position bei möglichen Verhandlungen schwächt.
Die Konsequenzen sind verheerend: Wahrscheinlich Hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten sind getötet und verwundet worden (genaue Zahlen gibt es nicht), vermutlich Zehntausende Zivilisten fielen dem Krieg bereits zum Opfer, dazu Massenflucht, Zerstörung und Vergiftung des Lands, sodass die Weltbank davon ausgeht, dass rund eine halbe Billion Dollar notwendig ist für den Wiederaufbau.
Dazu kommen natürlich die Auswirkungen auf die weltweite Lebensmittelversorgung vor allem der Länder im Globalen Süden, die auf den Handel mit Agrarprodukten der Ukraine und Russlands angewiesen sind. Das verschärfte globale Hungerkrisen und bedrohte das Leben von Millionen von Menschen. Auch Europas Wirtschaft, insbesondere die deutsche, wurde geschädigt.
Russland hat zwar auf die Überschreitung der roten Linien bisher nicht entsprechend mit gefährlicher Eskalation reagiert, also z.B. Waffentransporte in Polen bombardiert, US-Militärstellungen als Vergeltung angegriffen oder gar taktische Nuklearwaffen eingesetzt. Auch könnte Moskau die Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung weiter ausweiten.
Ohne Endgame sterben
Es gibt darüber hinaus kaum noch ein Argument für ein positives Szenario für die Ukraine, ein Endgame, nach dem Kiew die russische Armee vertreiben könnte, während Experten vielmehr die Gefahr sehen, dass die Ukraine militärisch kollabieren könnte. Das wurde auch von der ukrainischen Militärführung so gesehen. Selenskyj wechselte sie schliesslich aus, siehe die Entlassung von Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj.
Das alles müssen wir im Hinterkopf haben, wenn es darum geht zu beurteilen, ob das Ausmass und die Art der Waffenlieferungen moralisch vertretbar sind. Ich glaube, dass die enorme Aufrüstung der Ukraine seit einiger Zeit schon nicht mehr gerechtfertigt werden kann.
Das ist der erste Teil des Essays. Teil 2: «Warum die Kriege in Nahost und in der Ukraine beendet werden können und müssen».
von:
Über
David Goeßmann
David Goeßmann (*1969) ist Redakteur des Online-Magazins Telepolis. Er war als Journalist unter anderem für den Deutschlandfunk, n-tv und CNN Deutschland tätig. Von 2005 bis 2007 arbeitete er als freier Auslandskorrespondent in den USA insbesondere für den ARD-Hörfunk und Spiegel Online. Als investigativer Reporter lieferte er Beiträge für die TV-Magazine ZDF WISO und ZAPP. Zudem ist er Mitbegründer des unabhängigen Nachrichtenmagazins Kontext TV.
Er ist Autor einer Reihe von Büchern. In den letzten Jahren erschienen von ihm: "Kurs Klimakollaps. Das große Versagen der Politik", "Die Erfindung der bedrohten Republik. Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden", "Sahra Wagenknecht. Von links bis heute" und "Der Kampf um globale Gerechtigkeit. Gespräche mit Noam Chomsky, Vandana Shiva, Yanis Varoufakis, Stefan Rahmstorf u.a.".
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