Was Kinder wirklich brauchen

Vielen Eltern befassen sich mehr mit ihrem Smartphone als mit ihren Kindern. Was können wir tun?

(Foto: Ksenia Makagonova/unsplash)

Oft fallen mir schmerzlich Szenen auf wie diese: Eine telefonierende Mutter nähert sich auf dem Trottoir, voran rennt ihr dreijähriger Sohn. Das Kind stolpert und stürzt, schreit wie am Spiess. Ohne ihr Telefongespräch zu unterbrechen umfasst die Mutter das Kind mit dem freien Arm grob von hinten und stellt es wieder auf die Füsse. Sie hat sich ihm nicht zugewandt, seinen Schmerz nicht geteilt und geschaut ob es eine Schramme gab. Sie konnte das Kind auch nicht auf den Arm nehmen, denn das Smartphone vom Ohr zu nehmen geht nicht.

Wie fühlt es sich an, mit unerreichbaren Eltern unterwegs zu sein? Sie schieben den Wagen, sie sitzen neben dir, sie stopfen dir was ins Maul, wenn du schreist, aber sie sind nicht anwesend – so lernen Kinder, ohne unser Mitgefühl zu (über-)leben.
Ist denn wirklich unsere Absicht, eine Leistungsgesellschaft von Egoisten zu sein, in der Anerkennung und der eigene Gewinn das Wichtigste sind?

Der kürzlich verstorbene Niki Lauda fuhr einfach am brennenden Wagen des Kollegen vorbei.

Ein Beispiel zu dieser Frage: 1973 verbrennt der Formel-1 Pilot Roger Williams am GP von Zanvoort in seinem Wagen. Der kürzlich verstorbene Niki Lauda fuhr einfach am brennenden Wagen des Kollegen vorbei. Auf die Frage weshalb er nicht angehalten habe meinte er trocken: „Ich werde fürs Fahren bezahlt, nicht fürs Parkieren !“

Drei Jahre später folgt der berühmte Unfall von Niki Lauda; im Nürburgring sitzt er selber in der Feuerhölle. Vier Kollegen retten ihm das Leben, allen voran Arturio Merzario, der ihn aus dem brennenden Wagen zieht.
Niki Lauda war der bessere, erfolgreichere Rennfahrer als seine vier Retter, an deren Namen sich wohl kaum noch jemand erinnert. Rücksichtslosigkeit zahlt sich aus.

Die Frage ist einfach: Wollen wir mehr Leistung oder mehr Menschlichkeit?
Falls wir uns für die Menschlichkeit entscheiden, müssen wir sie mit unseren Kindern zu leben versuchen – Tag für Tag eine grosse Herausforderung. Unsere Aufgabe ist es dann nicht mehr, die Kinder einfach zu hüten oder mit dem Nötigen zu versorgen. Dass wir sie füttern, kleiden, begleiten oder mit Schulstoff versorgen ist das Eine – viel wichtiger aber ist die Beziehung, das Teilen von Zeit und Erfahrungen, die Inspiration, die Pflege der Gemeinschaft. Dies alles müssen wir einbringen. Wir gehen voraus, wenden uns zu, sind aufmerksam, vermitteln die Fülle der Welt und haben den Blick fürs Ganze.

Was möglich ist, wenn die Erwachsenen sich einbringen und die Kinder zu begeistern vermögen, wie eine aktive Schulgemeinschaft über sich hinauswachsen kann,  auch das durfte ich kürzlich selber erleben. Im Rahmen der Jubiläumsaktivitäten „Waldorf 100“ führte die Rudolf Steinerschule Berner Oberland die Zauberflöte auf – gesungen und gespielt von der 1.-9. Klasse, Eltern, LehrerInnen und weiteren engagierten Erwachsenen, inspiriert und geleitet von Peter Appenzeller. Keine Solisten glänzten mit ihrem Können, alle Arien wurden von mehreren SchülerInnen und/oder dem Chor einstudiert und engagiert vorgetragen.

Aufführung der Zauberflöte am 19. Mai, Rudolf Steinerschule Berner Oberland. (Foto: www.bilder-spektrum.ch)


Statt die Höchstleistungen Einzelner bewundern zu können, hat uns ein überwältigendes Gemeinschaftswerk tief berührt und bleibende Spuren hinterlassen. (Bilder und Berichte hier www.steinerschulebo.ch ).

Wie viel anders, wie viel ergreifender ist es, wenn jeder, von den Kleinsten bis zu den Grössten, sein Bestes in der Gemeinschaft gibt, als wenn einzelne Stars sich über die Menschenmasse erheben!
Dieses Beispiel zeigt auch, dass Leistung und Menschlichkeit sich nicht gegenseitig ausschliessen. Was wir brauchen sind gemeinsame Leistungen. Von allen, für alle, in einer Gesellschaft in der jeder respektiert und willkommen ist wie er ist.

Welchen Empfang bieten wir unseren Kindern? Als Eltern, in der Schule? Wer fragt die Kinder was sie brauchen?
Ich habe Henning Köhler gebeten, das Verständnis für die Perspektive der Kinder zum Thema seines Kurstages zu machen. Er setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, dass Kinder nicht stigmatisiert, sondern in ihrer Not wahrgenommen werden und die nötige Hilfe und Begleitung bekommen. Ich kenne niemanden sonst, der das so entschieden vehement, fachlich fundiert und berührend tut. So wird er am 23. November unter dem Titel „Und wer fragt die Kinder, was sie brauchen? Plädoyer für eine Pädagogik des Verstehens und der Hilfsbereitschaft“ aus der Praxis seines heilpädagogischen Teams berichten.
Henning Köhler müssen alle gehört haben, die unter Pädagogik nicht nur Förderung und Verhaltenstraining verstehen.

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Christian Wirz ist Lehrer und Geschäftsführer des freien pädagogischen Arbeitskreises mit einem interessanten Kursprogramm, das hier zu finden ist: http://www.arbeitskreis.ch

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Christian Breme: Achtsamkeit, Wachsamkeit - Seminar zur Prävention sexueller Gewalt

Es gibt die kleinen, fast alltäglichen Nötigungen, wenn wir es eilig haben und unsere Kinder aus ihrem vertieften Spiel, aus ihrer Welt herausreissen. Und es gibt die grossen Übergriffe, die Gewalt und den Missbrauch, die für die ganze Biographie so tiefgreifende Folgen haben.
Wie können wir die Kindheitskräfte stärken und präventiv schützen vor seelischen Übergriffen, körperlicher Gewalt und den Folgen des Missbrauchs? Samstag 24. August, Zürich. (Infos)